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Affäre Guillaume: Suche nach dem Schuldigen

Willy Brandt ist blamiert, das Bündnis mit der FDP weiter gestört. Die für den Fall des DDR-Spions zuständigen Minister und Behörden schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Westdeutschlands Verfassungsschutz war dilettantisch verfahren. Nur Sonderminister Egon Bahr hatte vor der Einstellung Guillaumes gewarnt.
aus DER SPIEGEL 19/1974

Am vergangenen Donnerstag gestand der SPD-Fraktionschef Herbert Wehner im kleinen Kreis, er habe keine Vorstellung davon, was er am Nachmittag im Vertrauensmänner-Gremium des Bundestages den CDU/CSU-Vertretern zum Fall Guillaume sagen solle: »Ich durchschaue die ganze Sache auch nicht mehr.«

Zur selben Stunde erregte sich im Kanzleramt Sonderminister Egon Bahr über Ungeschicklichkeiten und Täuschungsmanöver, die Koalition und Geheimdienste immer tiefer in Widersprüche verstrickt hätten: »Wenn es ein Schaf gegeben haben sollte, das einen Fehler gemacht hat, dann soll es sich dazu bekennen. Es kommt ja doch alles raus. Ich will jetzt alles wissen.«

Die Affäre des Kanzler-Referenten Günter Guillaume, der am vorletzten Mittwoch wegen DDR-Spionage festgenommen wurde, wuchs sich in den vergangenen Tagen zu einer Affäre der sozialliberalen Regierung aus. Der Spionagefall forderte, noch ehe der angerichtete Schaden gemessen und gewogen werden konnte, neue Verluste: Der Koalitionsfrieden ist ernsthaft gestört, führende Sozial- und Freidemokraten gerieten ins Zwielicht. Selbst der Bundeskanzler blieb nicht verschont.

Außer Zweifel steht, daß Willy Brandt sich blamiert hat. Noch bis zum Beginn der vergangenen Woche duldete er, daß seine Berater ihn als den großen Aufklärer verkauften, der fast ein Jahr lang im Dienst von Volk und Vaterland den Spion an seiner Seite ertragen habe, um ihn endgültig zu enttarnen. Die Wahrheit brachte er dann selbst unter die Leute. Vor Journalisten plauderte Brandt, möglicherweise unbeabsichtigt, aus, daß es für ihn erst seit rund zwei Monaten, »etwa um die Drehe Ende Februar, Anfang März herum so gut wie feststand, um was es sich handelte«.

Das Ausmaß des bisher größten Spionage-Falles der Bundesrepublik bedrückte den Regierungschef so sehr, daß er die schlimmsten Konsequenzen für seine Regierung fürchtete. Anfang der vergangenen Woche mochte Brandt nicht mehr ausschließen, daß über Guillaume der derzeitige Kanzleramts-Chef Horst Grabert, Dienstherr des Bundesnachrichtendienstes (BND), oder dessen Vorgänger, der derzeitige Forschungsminister Horst Ehmke, kippen könnten. Sogar seinen Rücktritt sah der Kanzler als mögliche Konsequenz -um wenigstens seiner Partei die Macht zu erhalten.

Voll ins Feuer geriet zunächst Horst Ehmke. Ihm wurde grobe Fahrlässigkeit bei Guillaumes Einstellung 1970 ins Kanzleramt vorgeworfen. So sickerte durch, daß die beim Guillaume-Engagement angelegte Sicherheitsakte einen handschriftlichen Vermerk des damaligen Kanzleramts-Staatssekretärs Egon Bahr enthält. Darin rät Bahr ohne nähere Begründung davon ab, Guillaume im Palais Schaumburg zu beschäftigen.

Nicht nur die Opposition forderte Ehmkes Abgang, auch Sozialdemokraten und Liberale würden ihn gern abtreten sehen. Ein FDP-Kabinettsmitglied meinte: »Wenn der schon nicht zurücktritt, dann sollte er sich wenigstens für die Dauer der Untersuchungen gegen Guillaume von seinem Ministeramt beurlauben lassen.«

Mit ins Gerede, freilich ohne eigenes Verschulden, kamen Sonderminister Egon Bahr und Brandts DDR-Unterhändler, Staatssekretär Günter Gaus.

* Bei einem Treffen von Staatssekretär Günter Gaus mit dem stellvertretenden DDR-Außenminister Kurt Nier.

Beide waren Dienstvorgesetzte einer Sekretärin, die mit dem Spion getechtelt hatte.

Der für den Verfassungsschutz zuständige Innenminister Hans-Dietrich Genscher verschärfte die allgemeine Turbulenz, als er versuchte, sich von der Affäre abzukoppeln und alle Schuld dem Koalitionspartner SPD aufzuhängen. Als sich Anfang vergangener Woche der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Günther Nollau, Mitglied der SPD, bei seinem freidemokratischen Dienstherrn erkundigte, ob er am Mittwoch eine seit Monaten geplante Kur in Bad Tölz antreten könne, beschied ihn Genscher: »Ja, ich habe nichts dagegen.« Kaum war Nollau abgereist, schlug Genscher zu.

Ohne die Kölner Behörde zu unterrichten, ließ der Chef-Taktiker in seinem Ministerium eine Vier-Punkte-Erklärung, mit dem maschinengeschriebenen Kopf »Bundesamt für Verfassungsschutz«, aber ohne Unterschrift, verfassen und ohne Wissen des Kanzlers über das von seinem Parteifreund Rüdiger von Wechmar geleitete Bundespresseamt ausstreuen. Darin wird der Eindruck erweckt, das Kanzleramt trage die alleinige Verantwortung für den Sicherheits-Check Guillaumes 1970. Der Verfassungsschutz habe zwar pflichtgemäß geprüft, das Kanzleramt aber habe in eigener Regie die Einstellung Guillaumes vorgenommen.

Empört Über diese Nachrichten-Färbung machte Brandt am Mittwoch seinem künftigen Vizekanzler am Telephon ernste Vorhaltungen. Der Verfassungsschutz-Chef Nollau, der wegen Pressemeldungen, die seine Kur als Rücktritt deuteten, umgehend nach Köln zurückkehrte, verurteilte am Donnerstag Genschers Solo. Er ließ Parteifreunde wissen, wenn er im Amt gewesen wäre, hätte es eine solche Erklärung nicht gegeben. Nollau drückte ein abschwächendes Statement durch.

Hans-Dietrich Genscher hatte, offenbar in Panik. jede Rücksicht auf das Koalitionsbündnis fahrenlassen. Denn kaum eine Woche nach Beginn des Falles war von Genschers sorgfältig geschminktem Selbstbildnis des erfolgreichen Meisterdetektivs kaum etwas übriggeblieben. Nicht länger ließ sich verheimlichen, daß die ihm unterstellten Agenten-Jäger des Kölner Bundesamtes für Verfassungsschutz kaum Pulver auf der Pfanne hatten.

Es gibt ausreichende Anzeichen dafür, daß die Verfassungsschützer nicht nur bei der Einstellung Guillaumes im Kanzleramt über mangelhafte Kenntnisse verfügten, sondern auch bei der Observation des seit 1956 tätigen Agenten keineswegs die »Meisterleistung« vollbrachten, die Genscher ihnen noch vorletzte Woche gutgebracht hatte. So dürftig war das Ergebnis der Überwachung Guillaumes ausgefallen, daß sich der Generalbundesanwalt zunächst geweigert hatte, überhaupt einen Haftbefehl gegen den Kanzlerreferenten zu beantragen.

Informierte der Geheimdienst zuerst die CSU?

Als sich Karlsruhe dann schließlich doch zum Zugreifen entschloß, unterlief den Verfolgern der Bonner Sicherungsgruppe, wie die SPD jetzt zu Genschers Lasten verbreitet, eine ganze Reihe von Kunstfehlern. Bei Guillaumes letztem Frankreich-Urlaub etwa hätten sich die Beschatter derart dilettantisch verhalten, daß der Agent aufmerksam geworden sei und einen bislang noch nicht verhafteten Komplicen in der Bundesrepublik habe warnen können. Genscher gab zu: »Die Observierung auf einer solch langen Strecke ist problematisch.«

Sollte es Guillaume tatsächlich geglückt sein, einen Residenten rechtzeitig zu alarmieren, dann, so Schlußfolgern SPD-Funktionäre, wäre dies die Erklärung dafür, daß so wenig Beweismaterial gegen den Agenten vorliege. So bleibe immer noch im dunkeln, auf welchem Weg der DDR-Späher sein Material nach Ost-Berlin abgesetzt habe. Ein Funkgerät, mit dem der Geheimdienst-Profi -- wie die Genscher-Beamten noch in der vorletzten Woche andeuteten -- seine Informationen in die DDR gesendet haben könnte, sei bislang nicht gefunden.

Schon kündigte Bundeskanzler Brandt am vergangenen Montag in einem vertraulichen Kreis ein »sehr langwieriges Ermittlungsverfahren« an und bat darum, nicht auf die Fahnder der Justiz »zu schießen, wenn sie unter Umständen ziemlich viel Zeit brauchen«.

Wie mager die Beweislage offenbar ist, hatte auch SPD-Justizminister Gerhard Jahn erfahren müssen. Am vorletzten Mittwoch waren der Registratur-Angestellte Horst Förster aus der Hessen-Vertretung und seine Ehefrau unter dem dringenden Verdacht festgenommen worden, Guillaume bei seinem Spionage-Job geholfen zu haben. Tags darauf lief Jahn verstört durch das Bundeshaus und klagte: »Ich kann die Leute nicht länger festhalten, weil ich vom Bundesamt nichts erfahre.« Jahn hegte den Verdacht, es liege weniger an der Beweisnot der Kölner, die Verfassungsschützer würden ihm vielmehr bewußt Informationen vorenthalten.

Von Berlin aus versuchte der auf Publicity-Wind bedachte SPD-Innensenator Kurt Neubauer Entlastungsangriffe für seine Partei gegen den Genscher-Dienst zu fahren. Im Trainingsanzug verkündete er vor den Fernsehkameras, das Berliner Landesamt für Verf assungsschutz habe der Kölner Zentrale 1970 Unterlagen über eine 1955 gegen Guillaume ausgeschriebene Fahndung wegen Agententätigkeit für die DDR übermittelt. Schon am Tage darauf mußte der Senator seine eigene Erklärung widerrufen. Er gestand, es liege ein Mißverständnis vor.

Das Mißtrauen indes ist geblieben. Es richtet sich nicht nur gegen Genschers Abwehr-Apparat in Köln, sondern auch gegen den vom Bundeskanzleramt kontrollierten Bundesnachrichtendienst (BND) in München-Pullach. Die Sozialdemokraten, voran der Kanzler, meinen sichere Anhaltspunkte dafür zu haben, daß die Pullacher Geheimdienstler mit dem CSU-Führer Franz Josef Strauß enger zusammenarbeiten als mit dem Bonner Regierungschef und die Opposition im Fall Guillaume mit Informationen gegen die Koalition spickten. Ein Brandt-Vertrauter: »Hier werden alte Rechnungen beglichen. Jetzt rächt sich der BND dafür, daß Ehmke damals die CSU-Zellen im Dienst knacken wollte.«

Den kalten Wind bekam Kanzleramts-Staatssekretär Horst Grabert, Dienstherr der Münchner Spionageorganisation, zu spüren, als er erstmals das Vertrauensmänner-Gremium des Bonner Parlaments über den Fall Guillaume unterrichten wollte. Gezielt wurde Grabert von den CSU-Vertretern in dem geheimen Klub mit Fragen bombardiert, die verrieten, daß die Oppositions-Abgeordneten mehr als der BND-Aufseher wußten.

Konsterniert mußte Grabert um Unterbrechung der Sitzung bitten, ins Kanzleramt eilen und auf der Geheimleitung mit Pullach telephonieren. Dort wurden ihm dann jene Tatbestände bestätigt, die von der Union angeschnitten worden waren. Als Grabert fragte, wie denn der Informationsvorsprung der Opposition zu erklären sei, wurde er von Pullach beschieden, darauf könne man sich auch keinen Reim machen.

Auf Detailkenntnis der Opposition über die Ermittlungen gegen Guillaume -- ob von ihren V-Leuten im Kölner Verfassungsschutz oder beim BND -- läßt auch der Umstand schließen, daß die CSU bereits am vergangenen Montag über die galanten Aktivitäten Guillaumes Bescheid wußte. Denn gerade erst an diesem Tag hatte sich die Sekretärin von Staatssekretär Gaus, Marieluise, 27, offenbart: Sie sei schon als Zweitsekretärin im Vorzimmer des damaligen Ost-Unterhändlers Egon Bahr die Freundin Guillaumes geworden.

Und als die Fahnder auf die Bekanntschaft des DDR-Agenten zu der früheren Sekretärin des ehemaligen Ministerialdirektors im Kanzleramt Herbert Ehrenberg, einer Dame mit Vornamen Ellen, gestoßen waren, da wußten die Spitzen der Union das auch schon. Der Minister mochte das »kalte Wiesel« nicht.

Damit waren alle Ingredienzen des trivialen Spionage-Musters beisammen: ein Gemisch aus Verrat und Sex, dilettantischer Agentenjagd und hektischen Versuchen, die Spuren des Geschehens zu verwischen und einzunebeln.

Obwohl die Affäre gerade zehn Tage alt ist, bieten alle Beteiligten die unterschiedlichsten Versionen über Aufstieg und Fall des Günter Guillaume feil: Der Verfassungsschutz widerspricht dem Kanzleramt, Innenminister Genscher widerspricht seinem Kabinettskollegen Ehmke, der Kanzler widerspricht Genscher.

Unbestritten ist die Eröffnungsszene der Spionage-Schmiere. Als im Herbst 1969 die Sozialliberalen an die Regierung gekommen waren, empfahl der neue Chef der Abteilung Wirtschaftspolitik im Kanzleramt, Herbert Ehrenberg, seinem Dienstvorgesetzten Ehmke einen fähigen Mitarbeiter zur Anstellung. Er präsentierte einen alten Freund und Genossen aus seiner Frankfurter Zeit bei der Gewerkschaft Bau-Steine-Erden, den zuverlässigen Sozialdemokraten Günter Guillaume. Gewichtigster Fürsprecher Guillaumes: der damalige Verkehrsminister und jetzige Verteidigungsminister Georg Leber, dessen Frankfurter Wahlkampf Guillaume als Wahlkreis-Geschäftsführer gemanagt hatte.

Obwohl das »kalte Wiesel« (Ehmke) dem Kanzleramts-Chef vom ersten Tag an unsympathisch war und obwohl der Nichtakademiker Guillaume auf Bedenken des Personalrates gestoßen war, mochte Ehmke in seiner Personalnot auf einen zuverlässigen, stets dienstbereiten Geist im Amt nicht verzichten.

Da Guillaume sich als DDR-Flüchtling aus dem Jahre 1956 vorgestellt hatte, bat der für die Überprüfung der Beamten im Kanzleramt zuständige Sicherheits-Beauftragte, Ministerialdirigent Franz Schlichter, zunächst die dem Kanzleramt unterstellte BND-Zentrale in München-.Pullach nachzuprüfen, ob gegen Guillaume etwas vorliege.

Es lag etwas vor. In einem Brief an Ehmke präsentierte BND-Chef Gerhard Wessel ein Dossier. Inhalt: Guillaume stehe wegen früherer »Agententätigkeit« und »Infiltrationstätigkeit« für den Ost-Berliner Verlag »Volk und Wissen«, der bei Abwehrleuten in den fünfziger Jahren als gelegentliche Residentur für DDR-Agenten galt, unter Verdacht.

Doch schon über die Herkunft der Meldung können sich die Beteiligten heute nicht mehr einigen: Nollaus Verfassungsschützer behaupten, der BND habe allein aus der unzuverlässigen Quelle des damals in West-Berlin ansässigen »Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen«, einer spionageähnlichen Kampforganisation gegen die DDR, geschöpft.

Unions-Vertreter im Vertrauensmänner-Gremium des Bundestags, vom BND gefüttert, setzen dagegen, Wessel habe sich noch auf eine zweite, als zuverlässig eingestufte Quelle berufen können.

Tatsächlich jedoch hatte Wessel sowohl in seinem Brief an Ehmke als auch in einem späteren persönlichen Gespräch mit dem Kanzleramts-Chef eingeräumt, der Inhalt seiner Information reiche nicht aus, den Bewerber abzuweisen. Er empfehle, weiter zu ermitteln, in jedem Fall aber Guillaume den Informationen zu konfrontieren.

Sicherheitsmann Schlichter meldete auf Weisung Ehmkes den Fund an das seinerzeit von dem CDU-Sympathisanten Hubert Schrübbers geführte Bundesamt für Verfassungsschutz und bat um Amtshilfe. Die Kölner Abwehr-Spezialisten wandten sieh an ihre Kollegen vom Berliner Verfassungsschutzamt und erhielten das gleiche Dossier, das auch schon der BND ausgegraben hatte. Quelle: die freiheitlichen Juristen.

Überdies trieben sie einen Hausgenossen Guillaumes aus den Jahren 1953 bis 1955 auf, der seinem ehemaligen Nachbarn einen einwandfreien Leumund bescheinigte. Das Bundesamt meldete nach Bonn, aufgrund seiner Recherchen könne Guillaume eingestellt werden. Es sei nicht einmal erforderlich, ihm den Zugang zu Geheimakten zu sperren.

Gleichwohl ordnete Ehmke das von Wessel angeregte Gespräch mit Guillaume an. Ober Zeitpunkt und Teilnehmerkreis dieser Schlüsselszene freilich widersprechen sich nun selbst die Sozialdemokraten. Da will Horst Ehmke die Befragung im Januar 1970 im Beisein Ehrenbergs durchgeführt haben. Aus Akten, die CDU-Rechercheure aufgetan haben, geht jedoch angeblich hervor, daß die Guillaume-Befragung erst am 30. September über die Bühne ging. Mehr noch: Der von Ehmke als Teilnehmer genannte Ehrenberg schwört Stein und Bein, niemals -- weder im Januar noch im September -- an einer Befragung Guillaumes beteiligt gewesen zu sein.

Fest steht allein, daß Guillaume seine Arbeit für den Verlag »Volk und Wissen« sowie seine ehemalige Mitgliedschaft bei FDJ und FDGB freimütig zugegeben, eine Tätigkeit als Agent oder Infiltrator jedoch strikt geleugnet und sich weder mündlich noch bei der Abfassung eines noch mal verlangten Lebenslaufes in Widersprüche verwickelt hat. Nach dreiwöchiger Verzögerung der Guillaume-Einstellung sahen die Herren Ende Januar 1970 keinen Grund mehr, dem neuen Mann weiterhin den Zutritt zum Kanzleramt und zu Geheimakten zu verwehren.

Einspruch erhob lediglich der stets mißtrauische Egon Bahr. Nach den Wessel-Hinweisen riet er in einem handschriftlichen Aktenvermerk von der Einstellung des Bewerbers ab. Der nicht berücksichtigte Bahr-Einspruch ging in die Akte Guillaume ein.

Wiederum unklar bleibt, wie sich Abteilungsleiter Ehrenberg damals verhielt. Bonner Sozialdemokraten wollen wissen, der heutige Bundestagsabgeordnete habe damals brieflich bei den Kölner Verfassungsschützern dagegen protestiert, daß hinter seinem Mitarbeiter so hergeschnüffelt werde. Ehrenberg: »Absolute Ente. Ich habe in meinem Leben nie mit dem Verfassungsschutz korrespondiert.«

Im September 1970 wird Guillaume -- wieder mit Amtshilfe des Bundesamtes für Verfassungsschutz -- auch für streng geheime Akten zugelassen. Dabei unterläuft »den Abwehrdienstlern ein schwerer Fehler. Ihnen entgeht auch diesmal, wie schon im Januar, daß ihr Objekt im Mai 1966 in eine Spionage-Affäre verwickelt war. Damals wurde in Frankfurt das Ehepaar Harry und Ingeborg Sieberg rechtskräftig wegen nachrichtendienstlicher Beziehungen zum Staatssicherheitsdienst der DDR verurteilt -- der Ehemann zu einem Jahr und drei Monaten und die Ehefrau zu sechs Monaten. Die Franzosen wußten es besser.

Als Hausfreund des Agenten-Pärchens wurde Günter Guillaume aktenkundig, zu jener Zeit Geschäftsführer des SPD-Unterbezirks Frankfurt. Er hatte Frau Siebeng in der Pressestelle der SPD als Stenotypistin untergebracht. Während der Haftzeit der Siebergs nahmen sich die Guillaumes des Sieberg-Sohnes an -- was einem funktionstüchtigen Geheimdienst keinesfalls hätte entgehen dürfen.

Zu diesem Zeitpunkt stand Spion Guillaume schon zehn Jahre bei der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) im Sold. Was die Kölner nicht wußten, hatten ihre französischen Kollegen im Dossier: Im Jahre 1955 war Guillaume von der Ost-Berliner Bezirksverwaltung des MfS (Kreisdienststelle Mitte, Prenzlauer Berg 63-79) angeworben worden.

Günter Guillaume, der schon im Alter von 17 Jahren, am 20. April 1944, unter der Mitgliedsnummer 9709880 in die NSDAP aufgenommen worden war, wurde während seiner Tätigkeit in der Abteilung »Gesellschaftswissenschaften« des Ost-Berliner Verlages »Volk und Wissen« von seinem Vorgesetzten Dressler ertappt, daß er in einem Fragebogen seine NS-Vergangenheit verschwiegen hatte, und an den Staatssicherheitsdienst gemeldet. Der Stasi nötigte Guillaume daraufhin zum Agentendienst. Sein erster Führungsoffizier: Hans Fruck, heute stellvertretender Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung des Generals Markus Wolf im MfS.

Die Franzosen wußten noch mehr. Ihnen war ein übergelaufener Mitarbeiter aus der Sperrkonten-Abteilung der DDR-Staatsbank in die Hände geraten. Von ihm erfuhr die Pariser Konkurrenz, daß ein Mann aus der nächsten Umgebung von Kanzler Brandt in der Staatsbank ein Sperrkonto unterhalte. Nach der Höhe der monatlichen Gehaltsüberweisungen tippte der Überläufer auf einen HVA-Mann im Range eines Majors.

Mag sein, daß solche Erkenntnisse dem Bundesamt für Verfassungsschutz 1970 nicht zugänglich waren. Greifbar jedoch war die Akte, die schon seit dem Jahre 1956 im eigenen Haus in Köln lagerte. Dieses Papier geht auf eine »geheime Quelle« (Abwehrjargon) von außerordentlicher Zuverlässigkeit zurück, durch deren Hilfe bis dahin schon eine ganze Reihe von Spionen enttarnt worden war.

Aus diesen Unterlagen geht hervor, daß ein Agent, dessen Vor- oder Nachname mit »G« beginnt, 1956 in die BRD eingeschleust wurde und mit einem »F« zusammenarbeitet. Bei den Sicherheits-Überprüfungen von Guillaume im Jahre 1970 hatten die Verfassungsschützer versäumt, die 14 Jahre alten Hinweise ihrer Top-Quelle auf »G« zu verwenden.

Im Frühjahr 1973 begann das Bundesamt für Verfassungsschutz eine Routine-Überprüfung aller mit »geheim« und »streng geheim« betrauten Mitarbeiter in den wichtigsten Ressorts -- im Kanzleramt, Auswärtigen Amt, Innen- und Verteidigungsministerium. Die Verfassungsschützer benutzten dabei systematisch drei Hilfsmittel:

* die nunmehr 17 Jahre alte »geheime Quelle«;

* ein aus empirischem Enttarnungsmaterial entwickeltes Raster der zehn typischen Merkmale von DDR-Infiltranten;

* die von den Ressorts angeforderten Personalakten der zu Überprüfenden.

Bei der Routine-Kontrolle der Personalakte Guillaumes fiel den Prüfern endlich auf, was sie schon drei Jahre vorher hätten wissen können: eine frappante Übereinstimmung der »G«-Merkmale mit Guillaume.

BfV-Chef Nollau ließ sich bei seinem Dienstvorgesetzten Genscher melden und trug ihm den Verdacht vor. Am 29. Mai 1973 -- und nicht, wie sich Kanzler, Innenminister und Abwehrchef zu erinnern glauben, erst im Juni -- sprach das Abwehr-.Duo Genscher/Nollau beim Kanzler vor.

Über dieses entscheidende Gespräch urteilen Kanzler, Sicherheitsminister und Abwehrchef völlig unterschiedlich:

* Nollau erinnert sich: »Die Indizien waren dermaßen überwältigend, daß ich wußte: Das muß man dem Kanzler sagen.«

* Nollau-Dienstherr Genscher will einen »mehr als vagen Verdacht« gehabt haben, der aber »keinesfalls ausreichte, einen dringenden Tatverdacht zu begründen«.

* Der Kanzler schließlich weiß heute noch genau, der Vortrag der Herren Genscher und Nollau sei ziemlich vage gewesen, er habe ihn deshalb nicht recht ernst nehmen können. Er verstand nur die Formel: »Da könne unter Umständen etwas sein.«

Eines freilich grenzt ans Phantastische: Obwohl Nollau den Agenten schon für nahezu überführt hielt, riet er dem Kanzler, Guillaume weiter an seiner Seite zu lassen -- ein geheimdienstübliches Verfahren, in diesem Fall angesichts der innenpolitischen Brisanz eine Hornviecherei des höchsten Reifegrades. Der Spion konnte sich

ungezählte Vorgänge beschaffen.

Für ihren verhängnisvollen Rat an den Kanzler, einen DDR-Offizier als Adjutanten zu dulden, führen die Verfassungsschützer heute einander widersprechende Gründe an. Nollau wollte angeblich durch diese Strategie an das noch fehlende Beweismaterial gegen Guillaume herankommen. So sei er vor allem darauf ausgewesen, den noch unbekannten »F« zu enttarnen und »Abschöpfquellen« von Guillaume im Kanzleramt auszumachen. Daß der zu enttarnende Agent während der Beobachtungszeit noch weiter Staatsgeheimnisse aus der Kanzler-Nachbarschaft ausspähen konnte, nahm er in Kauf. Nollau: »So abgebrüht sind wir eben.«

Sein Dienstherr Genscher führte dagegen noch vorvergangene Woche vor dem Bundestag an, über Guillaume habe die Abwehr auf die Spur eines »Agentenrings« kommen wollen -- eine Version, die Profi Nollau vom ersten Tag an ausschloß: Ein Spitzenmann wie Guillaume sei nicht an einen Ring angeschlossen, weil er nicht durch die Verbindung mit weiteren Agenten und deren Unterbau gefährdet werden dürfe.

Worüber sich der Minister und sein Helfer einig gewesen sein wollen, dem freilich widerspricht der Kanzler. Genscher und Nollau behaupten, der Agent sei abgeblockt und streng observiert worden. Der Regierungschef hält dagegen, er habe nicht an die Legende vom Agenten Guillaume geglaubt und daher weiter in dessen Anwesenheit offen geredet. Es sei durchaus vorgekommen, daß er »heikle Papiere« (Brandt) sowohl in seinem Büro als auch zu Hause offen »plaziert« habe; er lehne Detektiv-Spielere~ ab. Noch heute beharrt der Regierungschef darauf, daß es nicht seine Aufgabe sein könne, Leute wie Guillaume zu überprüfen oder gar zu überführen.

So unterrichtete der Kanzler vom Spionageverdacht lediglich Kanzleramts-Chef Horst Grabert und den Leiter des Kanzlerbüros Reinhard Wilke. Und wurde Guillaume während der Monate des Verdachts einmal aus dem Kanzlerbüro verscheucht oder vom Aktengang ausgeschlossen, dann, so das Urteil von Intim-Kennern des Kanzleramtsbetriebes« nur aus Standesdünkel der beamteten persönlichen Referenten gegenüber dem inferioren Parteireferenten. In der Tat konnte sich Guillaume dennoch »ungezählte Vorgänge beschaffen« (ein Kanzlerbeamter).

Keiner der Berater, schon gar nicht der arglose Grabert, waren je auf die Idee gekommen, den Regierungschef aus politischen Gründen von der möglicherweise kompromittierenden Allgegenwart des Verdächtigen zu befreien. Nachträglich machen sie geltend, der verdächtige Spion habe »rechtsstaatlich« (Nollau) überführt werden müssen, so als gäbe es ein Grundrecht auf Arbeit in der Nähe des Kanzlers. Ungehindert konnte Guillaume weiter anschaffen.

Gänzlich unbehelligt von den Spionen Nollaus, nahm Frauen-Freund Guillaume zum zweitenmal während seiner Tätigkeit im Kanzleramt intimen Kontakt zu einer jungen Dame auf, die er aus den Jahren zuvor kannte: zu Marieluise. Die Sekretärin des Chefunterhändlers der Bundesregierung mit der DDR, Staatssekretärs Günter Gaus, hatte noch mehr als Guillaume Zugang zu den heikelsten Vorgängen. Die Romanze fiel in die Zeit, als Gaus mit dem stellvertretenden DDR-Außenminister Kurt Nier über die Einrichtung ständiger Vertretungen in den beiden deutschen Staaten verhandelte.

Genscher erlebte

seine größte Schlappe.

Obwohl bislang keinerlei Anhaltspunkte für einen wissentlichen Verrat vorliegen, schließen die Fahnder dennoch nicht aus, daß die Gaus-Chefsekretärin ihrem Feierabend-Freund zumindest unwissentlich als »Abschöpfquelle« (Abwehrjargon) wertvolle Dienste geleistet habe.

Nach jeder Verhandlungsrunde diktierte Gaus seiner Sekretärin stets das Sitzungsprotokoll -- zumindest für den vertraulichsten Teil der Verhandlungen, die unter vier Augen geführt wurden. Und genauso nahm Marieluise die streng geheimen Bonner Richtlinien für das nächste DDR-Gespräch ins Stenogramm.

Fataler noch: Marieluise diente, bevor sie ins Gaus-Vorzimmer überwechselte, als Zweitsekretärin dem damaligen Chefunterhändler Egon Bahr. Während dieser mit Moskau über den deutsch-sowjetischen Vertrag und mit der DDR über den Grundlagenvertrag verhandelte, war die Sekretärin schon einmal mit Guillaume liiert.

Bahr und Gaus konnten sich bei der Wahl ihrer Mitarbeiterin sicher wähnen, schließlich hatte sie schon im Vorzimmer des Sicherheitsbeauftragten im Kanzleramt, Franz Schlichter, gearbeitet -- eine Station aus Marieluises Karriere, die von der Bundesregierung in einem vom Presseamt veröffentlichten Lebenslauf verschwiegen wird.

Von der gefährlichen Liebschaft erfuhren die Kundschafter erst nach der Verhaftung des Spions, als sie in dessen Schreibtisch persönliche Briefe sichteten.

Auch im weiteren Verlauf der Agenten-Jagd auf allerhöchster Ebene tun sich merkwürdige. Ungereimtheiten auf. Obwohl der Regierungschef an die vorgebliche Guillaume-Rolle nach eigenem Bekunden nicht glaubte, ließ Willy Brandt zwischen Juni 1973 und März 1974 durch Grabert bei Genscher mindestens zweimal nachfragen, ob die Observation Guillaumes denn irgend etwas ergeben habe, was die vorgetragenen Verdachtsmomente bestätige.

Der Kanzler erinnert sich, jedesmal negativ beschieden worden zu sein. Genscher seinerseits behauptet, von sich aus auf den Verfassungsschutz gedrückt zu haben: »Kinder, jetzt muß was kommen.«

Doch es kam sehr wenig. Während Guillaumes Aktivitäten im Kanzleramt weiter unbemerkt blieben, schlichen Nollaus Häscher hinter Frau Christel Guillaume her und stellten fest, daß sie in regelmäßigen Abständen ein von acht Mietparteien bewohntes Haus in Bad Godesberg besuchte. Merkwürdigerweise will den professionellen Schnüfflern lange unbekannt geblieben sein, welche Mietpartei Frau Guillaume aufsuchte. Sie konnten das Rätsel erst lösen, als die· Gastgeber einmal ihren Besuch eines Abends vor die Haustür gebracht hatten. Dabei wurden sie photographiert und, siehe da, als Ehepaar Förster identifiziert -- das fehlende »F«-Glied aus Nollaus Alt-Papier war endlich entdeckt.

Stolz meldete Nollau die Entdeckung des vermeintlichen Guillaume-Residenten nach Bonn. Doch zu Beweisen für die Festnahme reichte es immer noch nicht.

Obwohl die Abwehrleute ein abenteuerliches Risiko für die Republik, vor allem für den Kanzler, eingegangen waren, standen sie, als sie am 24. April schließlich zugriffen, mit fast leeren Händen da. Das Ehepaar Förster, nach Meinung der Fahnder die beiden wichtigsten Personen hinter Guillaume, mußten sie mangels Beweisen nach 48 Stunden wieder auf freien Fuß setzen.

Obgleich das Knäuel von gegenseitigen Beschuldigungen und Ausflüchten nicht entwirrt ist, wurde einer im deutsch-deutschen Agentenspiel bereits als Verlierer entlarvt: Sicherheitsminister Hans-Dietrich Genscher. Kurz bevor er ins Außenamt überwechselt, erlebte der bislang im Innenministerium stets Erfolgreiche seine größte Schlappe. Der designierte Vizekanzler und Außenminister kann sich nicht aus der Verantwortung für das Versagen des ihm unterstehenden Verfassungsschutzamtes stehlen.

»Ich sehe keinen Grund, Ehmke jetzt zu schlachten.«

Der künftige Parteivorsitzende der Liberalen, der nach der Wahl Walter Scheels zum Bundespräsidenten als Partner Brandts neuer Garant des SPD/FDP-Bündnisses sein soll, versuchte dennoch, sich bei der erstbesten Gelegenheit von dem Spionage-Skandal im SPD-Lager abzusetzen. Willy Brandt wertet Genschers Versuch, die Schuld auf das Kanzleramt abzuwälzen, als Treuebruch.

Genscher konnte den Koalitionsschaden auch dadurch nicht wieder gutmachen, daß er schließlich Ende letzter Woche eine Art Ehrenerklärung für den ehemaligen Kanzleramts-Chef Ehmke abgab. Nach zahlreichen Recherchen an der Basis wußten die Genossen in der SPD-Zentrale, daß sich ihre eigenen Leute von Genschers Manöver hatten beeindrucken lassen.

Treue Parteigänger im Land, aber auch eine Gruppe von verunsicherten SPD-Abgeordneten aus dem Vorstand der Bundestagsfraktion drängten darauf, Ehmke fallenzulassen, um Brandt zu schützen. Am Montag dieser Woche soll Wehners Führungszirkel darüber befinden, ob Ehmke geopfert werden soll.

Ende vergangener Woche formierte sich eine starke Ehmke-Lobby um Brandt, Wehner und Schmidt. Der Finanzminister: »Ich sehe überhaupt keinen Grund, Ehmke jetzt zu schlachten.«

Vor allem will die SPD der CDU nicht zu Gefallen sein. Denn Ehmke hatte sich bei Guillaumes Anstellung auf Berichte verlassen, die er vom damaligen Verfassungsschutz-Präsidenten Hubert Schrübbers, einem Parteiganger der Union, und dem BND-Chef Gerhard Wessel erhalten hatte, den der jetzige Oppositionsführer Karl Carstens -- damals Kanzleramts-Staatssekretär

in sein Amt eingeführt hatte. Überdies durchschauen die SPD-Oberen die allzu plumpe Unions-Taktik, Ehmkes Entlassung als Signal für eine Hetzjagd auf Willy Brandt zu betreiben.

Willy Brandt selbst ist fest entschlossen, seinen Vertrauten zu halten. Ihm erscheint es als eine fatale Optik, wenn Ehmke durch Rücktritt von seinem Ministeramt alle Schuld an der Affäre auf sich nähme, der Hauptverantwortliche Genscher aber freigesprochen wurde.

Die ursprünglichen Pläne des Kanzlers, nach der Präsidenten-Wahl mit einer neuen Mannschaft anzutreten, sind ohnehin schon durch die Affäre gestört worden. Nun kann er nicht mehr, wie vorgesehen, seinen ungeschickten Staatssekretär Grabert aus dem Kanzleramt entfernen und anstelle von Günter Gaus als Bonner Mann nach Ost-Berlin schicken: Denn ein Weggang Graberts könnte in der Öffentlichkeit als Eingeständnis einer schweren Panne im Amt gewertet werden. Profitieren wird FDP-Staatssekretär von Wechmar, der das Bundespresseamt an den bislang noch parteilosen SPD-Wahlhelfer Gaus abtreten sollte. Langsam an einen

Kanzlei Schmidt gewöhnen?

Auch bei dem geplanten Kabinettsumbau muß Brandt zurückstecken. FDP-Fraktionschef Wolfgang Mischnick wird voraussichtlich Genscher im Innenressort beerben und Otto Graf Lambsdorff Mischnicks Nachfolge antreten. Der Graf hatte bei Mischnick angemeldet: »Wenn Sie gegen einen Baum fahren oder Innenminister werden -- ich wünsche Ihnen letzteres -, bin ich interessiert am Fraktionsvorsitz.«

Wenn sich Brandt im Mai dem immer stärker werdenden Wunsch aus den Parteigliederungen widersetzt und Kabinettsluschen wie Gerhard Jahn (Justiz) und Lauritz Lauritzen (Verkehr) auf ihren Plätzen beläßt, steht der nächste -- allerdings radikalere -- Austausch im Herbst bevor.

Noch freilich ist nicht ausgeschlossen, daß der Kanzler bis dahin selbst Opfer einer großen Lösung geworden ist. Denn der Fall Guillaume traf Brandts Regierung und Partei zu einem Zeitpunkt, als die Meinungsforscher der SPD bei der bevorstehenden Landtagswahl in Niedersachsen eine weitere Niederlage voraussagten.

Sollte dann auch noch die CDU im traditionell roten Hessen ihr Traumziel einer absoluten Mehrheit erreichen, wird Brandt sich fragen müssen, ob er noch länger Kanzler bleiben soll -- Helmut Schmidts Stunde wäre gekommen,

Der designierte FDP-Fraktionschef Lambsdorff plädiert schon jetzt dafür, die möglichen Folgen verlorener Landtagswahlen »im Sandkasten durchzuspielen«. Gleichwohl empfiehlt er Brandt: »Weitermachen, denn Neuwahlen sind erst 1976.«

Dennoch solle man sich vorsorglich, so Lambsdorff, an den Gedanken gewöhnen, Helmut Schmidt eines Tages als Kanzler ertragen zu müssen. Zwar gibt es in der FDP-Spitze um Scheel und Genscher auch Reserven gegen den Hanseaten mit den kruden Umgangsformen, doch Lambsdorff sagt: »Ich habe nichts gegen ihn.«

Der Opposition kommen solche Denkspiele gelegen. Die Christdemokraten wittern eine neue Chance, den Niedergang ihres Gegners zu beschleunigen. Mit dem DDR-Agenten Guillaume als Bundesgenossen hoffen sie, Brandts größtes Kapital in der Öffentlichkeit, seine Integrität und Lauterkeit, in Zweifel ziehen zu können. Nie war es bisher gelungen, den Kanzler in den Strudel von Affären zu ziehen -- nicht beim Skandal um den Rücktritt von Karl Schiller und nicht bei dem Korruptionsfall Steiner/Wienand.

Strauß drängt

auf Rücktritt des Kanzlers.

An diesem Mittwoch will die Union in der Haushaltsdebatte zum Großangriff gegen Brandts Leumund blasen. Statt detaillierter Kritik an Stellen- und Bauplänen sieht die Opposition jetzt die Gelegenheit, dem Kanzler Kriminelles und Pikantes um Spione und Mädchen anzuhängen. CDU-MdB Gerhard Reddemann süffisant: »Die Haushaltsdebatte gerät unter die Guillaumetine.«

Ohne jeglichen Beweis streute Reddemann bereits das Gerücht aus, Guillaume habe an der bislang unaufgeklärten Steiner/Wienand-Affäre mitgewirkt. Auf seinem Horchposten im Kanzleramt habe der DDR-Späher von Wienands Versuchen gehört, Steiner die Zustimmung zu den Ostverträgen abzukaufen. Erst daraufhin habe sich ein Ost-Berliner Agent an Steiner herangemacht. Reddemann: »Unsere Frage lautet, ob Honecker mehr weiß als der Untersuchungsausschuß.«

Wenn ein solches Schmieren-Stück inszeniert wird, steht CSU-Chef Franz Josef Strauß nie abseits. An zwei Fronten zugleich wurde der Bayer aktiv. Öffentlich rief er als einer der ersten nach Brandts Demission und prophezeite Schmidts Kanzlerschaft. Seine kürzlich angekündigte Kandidatur für den bayrischen Landtag zog er schleunigst zurück.

Straußens Drohung wirkte -- anders als er wollte. Im eigenen Lager breitete sich Unruhe aus. Besonnenen Christdemokraten schienen die Folgen einer etwaigen Strauß-Reaktivierung schlimmer für Staat und Gesellschaft zu sein als der Fall Guillaume.

Der Präsidentschaftskandidat der Union und ehemalige Präsident des Evangelischen Kirchentages, Richard von Weizsäcker, ließ Willy Brandt durch einen Mittelsmann wissen, er dürfe um des Staates und des Volkes willen und wegen der inneren Zustände in den Unionsparteien seinen Platz nicht verlassen.

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