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Artikel 7 / 80

»AH, DAS ISCHT UNSINN, UNSINN«

aus DER SPIEGEL 45/1966

SCHÜLER: Herr Präsident, wie beurteilen Sie die Bemerkung Ihres Freundes King, des Speakers des englischen Unterhauses... Ich zitiere wörtlich: »Wenn sich der Speaker des Unterhauses in England als Anwärter auf die Nachfolge Wilsons erklärt hätte, säße er jetzt schon längst im Gefängnis oder im Irrenhaus.« Eine weitere Frage dazu: Wie läßt sich das unparteiische Amt eines Bundestagspräsidenten mit der Möglichkeit einer Kandidatur zu einem Bundeskanzler vereinbaren?

GERSTENMAIER: Also, meine Damen und Herren ... Auf diese scherzhafte Bemerkung habe ich nur zu antworten: Um so schlimmer für die englische Demokratie... Keiner, meiner Kollegen - aus welcher Partei auch immer - wäre, soweit ich sehe; jedenfalls aus dem Präsidium des Deutschen Bundestages, bereit, in einen (politisch so neutralisierten) Status einzuwilligen, den der englische Speaker hat... Ich für meine Person habe schon vor Jahren erklärt, daß ich gern bereit wäre, wenn die Mehrheit des Deutschen Bundestags Wünsche in dieser Richtung hätte, daß ich dann gern bereit wäre, dazu meine hilfreiche Hand zu leihen, daß ich aber nicht bereit wäre, selber ein solches Amt auszuüben.

SCHÜLER: Herr Präsident, sind Sie deshalb nicht bereit, weil Sie vielleicht das Amt des Bundestagspräsidenten als ein, sagen wir, Übergangsamt ansehen, das vielleicht in einer irgendwie politischen Karriere nur eine mittelmäßige Stellung hat, und da man mit dem Amt des Bundestagspräsidenten vielleicht die Popularität oder den Einfluß gewinnt, später vielleicht einmal Bundeskanzler oder Bundespräsident zu werden oder irgendein anderes Amt zu bekommen?

GERSTENMAIER: Also, ein Mann, der so denkt, der tut mir leid. Der kann nicht Bundestagspräsident werden.

SCHÜLER: Ich darf dem entnehmen, daß Sie sich vorbehalten, als Bundestagspräsident auch weiterhin durchaus politische Ambitionen...

GERSTENMAIER: Nein! Nicht! Was heißt Ambitionen? Nicht Ambitionen! So, und jetzt fängt mal der Unterricht an!

SCHÜLER: Darf, ich Ihnen vorher noch eine Frage stellen, Herr Präsident? Ich glaube zu erkennen, daß Sie gern einmal sehen möchten, inwieweit wir informiert und sachlich interessiert sind ...

GERSTENMAIER: Das jetzt möchte ich gern sehen, ja.

SCHÜLER:... Aber könnten Sie nicht vielleicht auch verstehen, daß, wenn wir die Möglichkeit haben, den Bundestagspräsidenten... .

GERSTENMAIER: Dazu können Sie Möglichkeiten haben, aber die Schule ist nicht da zu politisieren! Ich möchte sehen, wie es mit Ihrer Entscheidungsfreiheit bestellt ist ...

SCHÜLER: Das Parlament soll ja wohl doch die politische Bühne des Volkes sein. Aber ich habe manchmal den Eindruck, diese ganzen politischen Meinungen, die jetzt immer mehr in Interviews und Veröffentlichungen geäußert werden - daß die nur deswegen getan werden, weil man so etwas viel leichter dementieren kann als eine Rede vorm Parlament.

GERSTENMAIER: Ah, das ischt Unsinn, Unsinn! Wie kommen Sie dazu?

SCHÜLER: Nahezu jedes ...

GERSTENMAIER: Wie kommen Sie denn zu diesem Eindruck?

SCHÜLER: Nahezu ...

GERSTENMAIER: Wie kommen Sie zu diesem Eindruck?

SCHÜLER: Wenn am Sonnabend abends in den Nachrichten bekannt wird, der und der Politiker hat der Sonntagszeitung wieder ein Interview gegeben, kann man nahezu sicher sein, daß es am Montag vom Politiker wieder umgedreht wird.

GERSTENMAIER: Das ist absolut falsche! Wie kommen Sie denn dazu? Geben Sie uns mal ein Beispiel!

SCHÜLER: Ich habe jetzt leider kein konkretes Beispiel zur Hand, aber...

GERSTENMAIER: Auf welches profunde Anschauungsmaterial stellen Sie dann ein so weitgehendes Urteil? Hören Sie mal, hörnse mal, meine Damen und Herren, entweder werden Sie ernstgenommen, aber dann verantworten Sie, was Sie sagen. Das ist im Parlament so üblich!

SCHÜLER: Wie war's, als Sie sagten: Wenn Not am Mann wäre, würden Sie sich auch zur Verfügung stellen, Bundeskanzler zu werden.

GERSTENMAIER: Das habe ich gar nicht gesagt! Woher wissen Sie denn das?

SCHÜLER: Nachher hieß es wieder in der Zeitung...

GERSTENMAIER: Entschuldigen Sie, Ich konzidiere Ihnen überhaupt nichts, wenn Sie falsche Behauptungen aufstellen... Ich sage Ihnen, ich habe das nicht gesagt! Halten Sie mir bitte nicht vor, daß ich etwas gesagt habe, was ich nicht gesagt habe! Sagen Sie, was ich gesagt habe!

SCHÜLER: Ihre Loyalität...

GERSTENMAIER: Exakt!

SCHÜLER: ... gegenüber dem Volke ...

GERSTENMAIER: Wie?

SCHÜLER: Ihre Loyalität gegenüber dem gesamten Volke...

GERSTENMAIER: Ja, eben...

SCHÜLER: Daß Ihre Loyalität gegenüber dem Kanzler nicht so ...

GERSTENMAIER: Nein, nein ... aber er hat schon recht. Sehnse mal her, das ist der Satz, der, den ich für eine moralische Selbstverständlichkeit halte: Daß bei aller Loyalität gegenüber einem Mann die Loyalität gegenüber dem Volk vorgehe... Wie kommen Sie dazu, daraus zu folgern, was ein Redakteur allerdings gefolgert hat mit einer Schlagzeile, ohne hinreichende Begründung? Wie kommen Sie dazu?

SCHÜLER: Na ja, es ist...

GERSTENMAIER: Meine Herren, so kann politische Diskussion nicht geführt werden. Wissen Sie warum? Weil Sie hier mit der Mißdeutung arbeiten! Und das ist nicht gestattet. Werden Sie exakt! Sonst hört die politische Diskussion auf.

SCHÜLER: Herr Präsident, wann wäre Ihre Loyalität dem Volk gegenüber größer als die Loyalität dem Kanzler gegenüber? Welche Vorstellungen ...

GERSTENMAIER: Das ist eine theoretische Frage. Aber immerhin, sie hat Räson. Es könnte sein, daß eine Situation eintritt, wo man einfach sagt: Der Mann muß weg, es muß ein anderer 'ran. Aber kein Wort in diesem Interview berechtigt die Formulierung, von der Sie ausgegangen sind: Daß dann derjenige, der sagt, die Loyalität gegenüber dem Land ist höher, daß dann daraus gefolgert werden kann, also: Der Mann muß gehen.

SCHÜLER: Und eine Persönlichkeit, die Sie für fähig halten, dieses Amt eventuell zu übernehmen, können Sie uns jetzt nicht nennen?

GERSTENMAIER: Das könnte ich wohl, aber das würde ich bestimmt nicht tun.

SCHÜLER: Ich habe noch eine Frage zur Mißdeutung. Wir hatten hier mal Herrn von Hase, und da sagte er uns, man könnte vieles nicht direkt sagen. Und man sollte bei der Verfolgung des politischen Lebens mehr zwischen den Zeilen lesen. Und Ich meine, wenn Sie also von Loyalität sprechen: Na, wenn man vielleicht zwischen den Zeilen liest, kann man also durchaus darauf zielen, daß Herr Gerstenmaler bereit wäre, das Amt des Kanzlers zu übernehmen. Man kann doch jetzt von vornherein nicht wissen, daß Sie das nur rein moralisch und so weiter gemeint haben.

GERSTENMAIER: Ja warum denn nicht? Wozu hat man denn Texte?

SCHÜLER: Auf der einen Seite wird darauf hingewiesen, daß man nicht immer alles, wie es Herr von Hase uns gesagt hat...

GERSTENMAIER: Was Ihnen Herr von Hase hier erzählt hat, das ist seine Meinung. Sie müssen nicht annehmen, daß diese Erklärung und Deutungen des Herrn von Hase höchste Maxime und Grundsätze und Prinzipien der deutschen Politik überhaupt sind.

SCHÜLER: Aber auf der anderen Seite müssen Sie zugeben, daß das, was uns Herr Hase sagte, im Anfang vielleicht genau denselben Eindruck auf uns gemacht hat, wie vielleicht das Einfluß auf uns ausübt, was Sie uns heut gesagt haben ...

GERSTENMAIER: Was soll das?

SCHÜLER: Wenn uns ein verantwortlicher Mann sagt: Hier ist eine Meldung, und hier ist ein Kommentar von mir... und achten Sie bitte darauf, was man alles in einer politischen Meldung zwischen den Zeilen lesen kann...

GERSTENMAIER: Das hab' ich gar nicht gesagt! Das hat Ihnen Herr von Hase gesagt! Ich verlange gar nicht, daß Sie zwischen den Zeilen lesen! Ich verlange, daß Sie den Text lesen, weiter gar nichts! Was da steht: Subjekt, Prädikat, Objekt! Mit Komma und Punkt! Und daß Sie sich daran halten! Daß Sie nicht das machen, was eine Unart ist bei uns, vor allem in einem großen Teil der deutschen Presse eine Unart ist, mit der überhaupt eine öffentliche Diskussion nicht, mehr möglich ist, daß Sie unterstellen, daß das Wort dazu dient, die eigentlichen Absichten zu verbergen, um ein Uneigentliches zum Ausdruck zu bringen und das Eigentliche zu verschweigen, ich finde, das ist eine geradezu skandalöse Unterstellung!

SCHÜLER: Vielleicht können Sie mir darin Recht geben, daß sich eine solche

Erklärung, wie Sie sie da abgegeben haben, natürlich praktisch nur in der Presse abgeben läßt, und nicht vorm Parlament.

GERSTENMAIER: Hören Sie! Wissense was? Ich frage mich, ob eigentlich für einen Parlamentspräsidenten eine solche Unterhaltung mit Ihnen legitim ist...

SCHÜLER: Nehmen wir als konkreten Anlaß Wehners Vorstellungen, wie man in der deutschen Frage vorankommen kann. Diese Frage wird in der Presse und in Interviews und in Stellungnahmen diskutiert, und bis es dann wahrscheinlich doch zu einer Diskussion im Parlament kommt, ist diese ganze Diskussion praktisch schon vorweggenommen, es kommt dann nur noch aufgewärmt.

GERSTENMAIER: Davon kann doch gar keine Rede sein! Wir diskutieren seit 15 Jahren über diese Fragen!

SCHÜLER: Aber über diesen konkreten Anlaß ...

GERSTENMAIER: Welcher konkrete Anlaß?

SCHÜLER: Die Vorstellung einer gesamtdeutschen Wirtschaftsgemeinschaft.

GERSTENMAIER: Das ist doch überhaupt nichts Neues! Was reden Sie denn da?

SCHÜLER: Der Gedanke dieser Wirtschaftsgemeinschaft ...

GERSTENMAIER: Überhaupt nichts Neues. Lesen Sie die »Süddeutsche Zeitung« vom 24. Februar 1958! Na, da steht alles schon drin! Erster Schritt: Wirtschaftsgemeinschaft. Was wollen Sie? Steht überhaupt nichts Neues drin ...

SCHÜLER: Was ich mir überlege, ist folgendes: Daß wir einen Bundestag benötigen, der für die Allgemeinheit des Volkes nicht eine Ansammlung von Ausschüssen oder irgendwelchen abstrakten Paragraphen ist, sondern, daß man irgend etwas darin sieht. Und das kommt nur, wenn die Öffentlichkeitsarbeit in irgendeiner Weise und eben in Plenarsitzungen aktiviert wird. Wie war es damals bei der Verjährungsdebatte ...

GERSTENMAIER: Das ist doch ...

SCHÜLER: Da stand auf einmal in den Zeitungen: Sternstunde...

GERSTENMAIER: Hören Sie mir doch ...

SCHÜLER: ... des Bundestages ...

GERSTENMAIER: Also, hören Sie mir doch mit diesen - entschuldigen Sie, jetzt muß ich wirklich hart werden - hören Sie mir doch mit diesen Platitüden um Gottes Willen auf! Das ist doch ein ganz gedankenloses Geschwätz! Was ist denn das für eine Sache? Es ist doch eine ganz gedankenlose Geschichte, wenn Sie sagen, der Bundestag muß - was sagen Sie - aktiviert werden?

SCHÜLER: Ja, Gedanken ...

GERSTENMAIER: Was ist denn das für ein Deutsch! Der Bundestag hat seine Pflicht zu tun! Und gerade das geschieht!

SCHÜLER: Mit welchem Recht berufen Sie Bundestagssitzungen in Berlin ein? Wie können Sie das begründen?

GERSTENMAIER: Überhaupt nicht. Es bedarf gar keiner Begründung. Berlin ist nach dem Willen des Grundgesetzes ein Teil der Bundesrepublik Deutschland.

SCHÜLER: Zu diesem Gesetz gibt's aber einen Zusatz von den Alliierten, worin steht, daß Berlin doch kein Bundesland ist. Ist also juristisch ...

GERSTENMAIER: Ich hab's rein lautlich nicht verstanden.

SCHÜLER: Es gibt einen Brief von den Alliierten...

GERSTENMAIER: Was gibt es?

SCHÜLER: Einen Brief der Al-li-ierten. Es gibt eine ausdrückliche Präambel, die den Artikel eins und zwei der Berliner Verfassung vorläufig außer Kraft setzt und gerade dieser Artikel besagt, daß Berlin ein Land der Bundesrepublik ist, wobei das alliierte Recht ja wohl vorgeht.

GERSTENMAIER: Meine Damen und Herren, meine Damen und Herren, für den Präsidenten des Deutschen Bundestags gilt im Zweifelsfall der Wortlaut des Grundgesetzes. Davon kann ihn auch nicht befreien Briefwechsel von Besatzungsmächten, die mit unserem Willen in diesem Teil von Groß-Berlin, Abteilung Westen, zeitweilig die letzte Verantwortung tragen.

SCHÜLER: Ja, ich frage mich aber, wenn Berlin ein Bundesland wie die anderen Bundesländer ist, warum haben dann die Berliner Abgeordneten ...

GERSTENMAIER: Eine Sekunde! Was bringen Sie denn jetzt wieder? Wie die anderen Bundesländer...

SCHÜLER: Na, Sie sagten, Berlin ... GERSTENMAIER: Entschuldigen Sie! Ich habe das gesagt, aber ich habe nicht gesagt, daß es ein Bundesland wie die anderen Bundes ... also, gewöhnen Sie sich, meine Damen und Herren, solche Dessins ab ... Sie sollen nicht solche Interpolationen machen, die eine Änderung, eine stillschweigende Änderung des Sinnes beinhalten. Das geht nicht, daß das, was ich im Fernsehen als größte Unart empfinde und nächsthin auch öffentlich geißeln werde - so geht die politische Debatte in einem freiheitlichen Rechtsstaat einfach nicht! Sie sollen genau sein! Und nicht interpolieren! Und nicht, was Ihnen vielleicht auch im Bundestag mal ... ich mag das gar nicht, all diese Taschenspielertricks. Das hat man früher gemacht, aber das gibt es jetzt Gott sei Dank nicht mehr.

Bundestagspräsident Gerstenmaier, Schüler*: »Jetzt fängt mal der Unterricht an«

Berliner Morgenpost

»Brigitte, stell das Radio ab!« *Mit Diskussionsleiter Rudolf Ossowski (2.v.l.)

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