Prozesse Ahnungslose Ärzte
Der Laborbefund, den die Ärzte des Hamburger Universitätskrankenhauses Eppendorf im April 1985 auf den Tisch bekamen, war alarmierend: Ein Blutspender, Stammkunde seit Jahren, war offenbar Aids-infiziert.
Doch die Entdeckung, Ergebnis einer Reihenuntersuchung, ging im Krankenhausbetrieb unter. Statt sofort die Empfänger der Blutkonserven zu warnen, ließen die Ärzte Monate verstreichen - erst mit einer zeitraubenden Nachuntersuchung, dann mit langen Beratungen über ihr weiteres Vorgehen.
Die Saumseligkeit mit »Spender X«, wie der Infizierte im Klinikum fortan genannt wurde, ist nun Thema beim Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe: Da steht der Schadensersatzprozeß eines Opfers an.
Kläger ist ein heute 61jähriger Hamburger, dessen Ehefrau 1984 als frisch Operierte eine Infusion mit dem Blut des »Spenders X« erhalten hatte. Die inzwischen Verstorbene war seitdem, wie man heute weiß, HIV-positiv - der Ehemann hat sich bei ihr angesteckt.
Was aus heutiger Sicht als lebensbedrohliche Schlamperei erscheint, versuchen die Ärzte von damals mit übergroßer Umsicht zu rechtfertigen. Weil 1985 das Testverfahren für die Aids-Analyse nicht ausgereift war, hatten die Ärzte auf einer zweiten Blutanalyse bestanden. Die fand, da der Spender nicht früher erreicht werden konnte, zwei Monate später statt. Ergebnis: wieder positiv.
Damals waren sich Experten der Hamburger Gesundheitsbehörde nicht einmal einig, ob die Empfänger einer möglicherweise infizierten Blutkonserve überhaupt unterrichtet werden müßten. Der Ernst der Situation wurde den Gesundheits-Verwaltern erst im Spätherbst 1985 deutlich, nachdem bei 1000 Proben immerhin 13 Spender mit positivem Befund festgestellt worden waren.
Doch auch dann konnten die Hamburger sich nicht zu einer öffentlichen Warnung aller Blutempfänger entschließen. Diskret versuchten sie statt dessen, die in Betracht kommenden Patienten zu finden und einzeln anzugehen.
Als sie endlich auf die Ehefrau des Klägers stießen, war es März 1986 - 25 Monate nach der folgenschweren Bluttransfusion und 11 Monate nach dem katastrophalen ersten Laborbefund. Erst zu diesem Zeitpunkt weihte das Universitätskrankenhaus den Hausarzt der ehemaligen Patientin ein.
Die Anwälte des Ehemanns machen geltend, ihr Mandant hätte sich bei rechtzeitiger Warnung vor Ansteckung schützen können. Denn erst im Herbst 1985, also lange nach der Entdeckung in Eppendorf, sei es zwischen dem Mann und seiner schwerbehinderten Frau wieder zu sexuellen Kontakten gekommen.
Das Hanseatische Oberlandesgericht sprach dem Aids-Opfer einen Schmerzensgeldanspruch gegen die Stadt Hamburg in Höhe von 51 000 Mark sowie eine Monatsrente von 1000 Mark zu.
Ihren Spruch begründeten die Richter mit einem Argument, das sonst bei Verbraucher-Anwälten geläufig ist: Sie verwiesen auf das Prinzip der Produkthaftung. Nach Ansicht des Gerichts hatte das Krankenhaus ein »objektiv mangelhaftes« Produkt verwendet, nämlich »eine HIV-verseuchte Blutkonserve«. Bei der Produkthaftung gilt - verbraucherfreundlich - die sogenannte Beweislastumkehr: Wenn, wie hier, ein Mangel vorliegt, muß nicht das Opfer die Versäumnisse darlegen, die zu seiner Schädigung geführt haben, »sondern es ist Sache des Herstellers zu beweisen, daß ihn hieran kein Verschulden trifft« (Gericht).
Die verklagte Stadt Hamburg wehrte sich gegen den Vorwurf der Zögerlichkeit ihrer Ärzte mit dem Argument, nach dem Stand der Forschung von 1985 hätten Mediziner noch nicht hinreichend sicher gewußt, daß Aids auch durch Bluttransfusion übertragen werden kann. Ganz so ahnungslos hätten die Ärzte nicht sein müssen - das belegten die Kläger-Anwälte mit einschlägigen SPIEGEL-Veröffentlichungen aus jener Zeit.
Ob es deshalb aus damaliger Sicht richtig gewesen wäre, infektionsgefährdete Blutempfänger sofort zu alarmieren, war auch vor Gericht umstritten. »Mit Leidenschaft«, berichtete der Sachverständige Volkmar Sachs, Transfusionsmediziner aus Kiel, habe er damals in einem vergleichbaren Fall die Entscheidung, »Rückverfolgung« der Blutkonserve oder nicht, mit den Kollegen diskutiert. »Aufgrund epidemiologischer Erwägungen« habe er dann eine lückenlose Information angeordnet.
Der Kieler Kollege zeigte gleichwohl Verständnis für die Eppendorfer Ärzte, die mit Warnungen zurückhaltender waren. So groß sei damals schon die Aids-Angst gewesen, daß durchaus Selbstmordgefahr bei Betroffenen bestanden habe.
Gegen den Hamburger Spruch sind die Anwälte der Hansestadt nun in die Revision nach Karlsruhe gegangen. Sie zweifeln mittlerweile an, daß sich die Ehepartner den Aids-Virus gerade von »Spender X« geholt haben.
Den Aids-Prozeß doch noch zu gewinnen, sind sich die Juristen des Stadtstaats für keine Spekulation zu schade. Es sei denkbar, argumentieren sie, daß sich der Kläger »selbst durch Geschlechtsverkehr infiziert und dadurch sogar seine Ehefrau bereits vor der Transfusion« angesteckt habe.
Vom Spruch des BGH hängt es nun ab, ob der kranke Witwer auch noch sein damaliges Intimleben den Juristen überantworten muß.