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UNGARN Aktien für Genossen

Staatliche Trusts werden aufgelöst, Dienstleistungsbetriebe privatisiert: Ungarns Wirtschaftsreform rollt wieder - mit Rückendeckung aus Moskau. *
aus DER SPIEGEL 40/1983

In den Klassenschlachten der Vergangenheit stand das rote Csepel stets mit an der Spitze«, lobte das Zentralorgan der ostdeutschen SED das älteste Stahlwerk in Ungarn.

Alles spricht dafür, daß die Solidaritäts-Ode aus dem sozialistischen Bruderland zum Nekrolog für »das rote Csepel« gerät. Ungarns Reformer haben jetzt beschlossen, das Eisenwerk am Stadtrand von Budapest aufzulösen: Es wäre das Ende für das größte metallurgische Kombinat der kommunistischen Staatsmacht.

Der Trust, bisher von einem General-Manager zentral geleitet, wird in 13 selbständig arbeitende Fabriken zerlegt. In den kleineren Industrieeinheiten soll die Produktion rationalisiert und die Verkaufsorganisation westlichem Marketing angepaßt werden.

Schon um die Jahrhundertwende, zur industriellen Gründerzeit, stand der Name von Csepel für ein links organisiertes Industrieproletariat. Daß im ungarischen Volksaufstand 1956 die 30 000 Arbeiter des Kombinats die ersten freien Arbeiterräte bildeten und nach dem Niederwerfen des Aufstandes am längsten Widerstand leisteten, hat der Symbolkraft der rußgeschwärzten Fabrikhallen von Csepel als Markenzeichen des ungarischen Sozialismus keinen Abbruch getan, im Gegenteil.

Die Produktionsrückgänge und Umsatzeinbußen, bedingt durch einen veralteten Maschinenpark und Filz im Management, gehörten freilich ebenso zum sozialistischen Erscheinungsbild. Das Superkombinat paßt nun nicht mehr in das Bild vom kommunistischen Wunderland Ungarn: Ein Symbol wird geopfert.

Gleiches gilt auch für einen anderen ungarischen Trust, in dem bisher alle Auto-Reparaturwerkstätten des Landes zusammengeschlossen waren. In Zukunft - small is beautiful - kann jede Werkstätte in scharfer Konkurrenz zu allen anderen auf eigene Rechnung arbeiten: Ungarns Wirtschaftsreform zielt auf Wertarbeit und Effizienz.

Weil er sich an den neuen Wirtschaftsstil nicht gewöhnen wollte, wurde

inzwischen der Top-Manager des Tungsram-Konzerns gefeuert. In der Firmengruppe stellen 24 000 Mitarbeiter unter anderem Glühbirnen für den Export in mehr als hundert Länder her.

Das Recht, die bislang im Ostblock heftig umstrittene Reformpolitik mit mehr Dampf voranzutreiben, hat sich der ungarische KP-Chef Janos Kadar, 71, Ende Juli in Moskau geholt.

Jurij Andropow, ausgerechnet der Mann, der im Krisenjahr 1956 als damaliger Sowjet-Botschafter in Budapest seinen Anteil an der Unterdrückung des historischen Volksaufstands hatte, steckte dem Reformer den dritten Leninorden an und lobte das ungarische Wirtschaftsmodell als »Vorbild«.

So soll das staatliche Mustergut Babolna in Westungarn seine erfolgreichen Methoden für den Maisanbau in der ganzen Sowjet-Union demonstrieren. In Aserbaidschan dürfen die Ungarn einen Musterbetrieb für Geflügelzucht einrichten.

Mit so deutlicher Rückenstärkung gab Marton Tardos, Leiter der Abteilung für Wirtschaftsplanung in der ungarischen Akademie der Wissenschaften, jüngst in Wien ein Interview, in dem er erklärte, die Zeit der »kalten Neutralität« der Sowjet-Union gegenüber den ungarischen Experimenten sei seit Andropows Amtsantritt vorbei.

Die Moskauer Regierung wolle »nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in der Industrie und im Dienstleistungsbereich so viele Modelle wie möglich«. Eine solche Neuorientierung - so Tardos in ungewöhnlich offener Rede - eröffne möglicherweise auch den Weg zu Reformen

in »rigideren osteuropäischen Staaten wie der CSSR und der DDR«.

Ungarn als Vorreiter für den sozialistischen Block - das sind ungewohnt selbstbewußte Töne aus Budapest. Bisher waren die Ungarn bei ihren vorsichtigen Neuerungen stets darum bemüht, das Ausmaß der Veränderungen herunterzuspielen und auf die »spezifischen Verhältnisse« ihres Landes zu beschränken.

Daß diese Experimente in der Wirtschaft auf lange Sicht nicht ohne Auswirkungen auf das Gesellschaftssystem bleiben können, hat der eigentliche Vordenker der ungarischen Wirtschaftsreform, Rezsö Nyers, ehemaliger ZK-Sekretär und heutiger Institutsleiter an der Akademie der Wissenschaften, in einem Essay für ein kürzlich erschienenes SPIEGEL-BUCH _("Küß die Hand, Genossin - Ungarn - ein ) _(kommunistisches Wunderland?« ) _(Herausgegeben von Istvan Futaky; ) _(SPIEGEL-BUCH Nr. 31, ) _(Rowohlt-Taschenbuchverlag, Reinbek bei ) _(Hamburg; 14 Mark. )

gefordert.

Nyers Erkenntnis: _____« Es dürfen keine Errungenschaften verteidigt werden, » _____« die von der Entwicklung schon überholt sind. Ich meine: » _____« Wir müssen uns darauf besinnen, daß Sozialismus nicht » _____« bloß ein System von Produktionsverhältnissen und » _____« Institutionen bedeutet, sondern gemeinsames menschliches » _____« Handeln im Interesse gesellschaftlicher Ziele; und wenn » _____« sich diese menschliche Leistung als » _____« verbesserungsbedürftig erweist, ist wahrscheinlich auch » _____« das System korrekturbedürftig. »

Die Neuerungen im Wirtschaftsbereich haben in jüngster Zeit eine Dimension erreicht, die an das kommunistische Selbstverständnis Ungarns - und nicht nur Ungarns - rührt.

So haben drei ungarische Banken, einige Großunternehmen und Produktionsgenossenschaften

erstmals Aktien für eine von ihnen gegründete Gesellschaft aufgelegt, die hauptsächlich Lizenzen für neue Verfahren im Westen kauft und die Markteinführung für ungarische Serienprodukte in aller Welt übernehmen will. An Dividenden können bis zu 40 000 Forint (2500 Mark) ausgezahlt werden.

Bekannte Westfirmen wie die des Pariser Couturiers Pierre Cardin oder des Versandhändlers Neckermann durften mit Lizenzen in Ungarn Filialen eröffnen. Ausländer können in jeder gewünschten Währung - ähnlich wie in der Schweiz - Nummernkonten mit höherem Zinssatz als im Heimatland anlegen und brauchen auf den Gewinn keine Steuern zu zahlen.

Erweitert wurden auch die Rechte der privaten Kleinbetriebe, deren Zahl inzwischen über 13 000 Unternehmen mit rund 60 000 Beschäftigten beträgt. Die Privaten können jetzt mit zwölf Personen pro Betrieb doppelt so viele Werktätige beschäftigen wie zuvor. Durch - gleichfalls erlaubte - Zusammenarbeit mehrerer Unternehmen in Handwerks- und Dienstleistungsbereich sind private Mittelstandsbetriebe mit über hundert Werktätigen keine Seltenheit mehr.

Die Privaten entdecken neue Marktlücken. So gibt es in Budapest die einzige Privatbühne im Ostblock und am Stadtrand der Hauptstadt ein florierendes »Exotarium«, wo Echsen aus aller Welt zu betrachten sind - gegen Entgelt.

Private Kleinhändler verkaufen den Scheichs in den Golfemiraten aber auch abgerichtete Jagdfalken. Irische Pferdezüchter bevorzugen privatgefertigte, besonders stabile Hufnägel aus Ungarn - immerhin 100 Tonnen pro Jahr.

Privatbäcker locken mit ofenfrischem, in Ungarn ungebräuchlichem Schwarzbrot; in Vorbereitung ist eine Kiosk-Kette von »Burger King«, die an der Donau den westlichen Geschmack am Hamburger verbreiten soll, und in Budapester Hinterhöfen sind zu Schwarzmarktpreisen Video-Pornos und Brutalo-Western in Privatvorführungen zu sehen.

Auch auf dem Wohnungsmarkt, in allen anderen Ostblockländern noch die Domäne des Staates, hat sich die Reprivatisierung durchgesetzt. Schon 63,2 Prozent der insgesamt 3,4 Millionen Wohnungen in Ungarn sind in Privatbesitz.

Erst kürzlich wurden 340 000 vom Staat gebaute Sozialwohnungen als Eigentumswohnungen zum Kauf angeboten und die Mieten der staatlichen Wohnungen auf einen Schlag um 130 Prozent erhöht. Die Altbau-Sanierung von Budapest, eines der seit Jahrzehnten ungelösten Probleme, will die Kommune in einem Langzeitprogramm privaten Immobilienfirmen übertragen.

Selbst im politischen Bereich plant die kommunistische Staatspartei, auf ihre obligatorische Allmacht zu verzichten. Eine Wahlrechtsreform für die in zwei Jahren vorgesehenen Parlamentswahlen sieht vor, daß in jedem Wahlkreis mehrere Kandidaten aufgestellt werden müssen - freilich allein von der kommunistisch beherrschten »Patriotischen Volksfront«.

Immerhin: »Das soll nicht nur eine Auswahl zwischen Personen, sondern auch zwischen verschiedenen Konzepten ermöglichen«, versicherte der Volksfront-Sekretär Hegedüs, der es auch für selbstverständlich hält, daß es - erstmals _(Beim Staatsbesuch Mitte Juli auf dem ) _(Moskauer Flughafen. )

in einem Ostblockland - »zu einem richtigen Wahlkampf kommt«.

Zu einer weitergehenden Reform, der Zulassung legaler Opposition durch mehrere Parteien oder Interessengruppen, wie sie Oppositionelle in der Untergrund-Zeitschrift »Beszelö« erst kürzlich gefordert haben, konnte sich Parteichef Kadar trotz der Rückendeckung aus Moskau nicht entschließen. Kenner der Budapester Politik glauben aber, der nächste Schritt hin zum Parlamentarismus sei nur noch eine Frage der Zeit.

Die stärkste Beachtung im Volk hat eine Maßnahme gefunden, die es den Ungarn seit Juli erlaubt, im Westen einen Job anzunehmen. Voraussetzung ist ein Anstellungsvertrag im Gastland und der Nachweis, daß der Gastarbeiter seine im Ausland erworbenen Fähigkeiten später auch in Ungarn nutzbringend anwenden kann.

Ferenc Munkacsy, Leiter der ungarischen Zentrale für Arbeitsvermittlung, gibt denn auch zu, daß dem Erlaß mehr psychologische als praktische Bedeutung zukomme: »Ich rechne nicht damit, daß Massen das Land zur Arbeit im Ausland verlassen.« Hauptsächlich gehe es um Facharbeiter, die zur Weiterbildung in die westlichen Betriebe geschickt werden sollen, sofern diese mit ungarischen Fabriken kooperieren.

Zur Zeit arbeiten rund 15 000 Ungarn im Ausland, knapp die Hälfte davon im Westen. In der Mehrheit sind es Wissenschaftler, Sportler, Tanzlehrer und Künstler, die ohnehin nur auf Zeit gastieren.

Dieser schleichende Ausverkauf an kommunistischen Prinzipien ist in der ungarischen KP nicht ohne Widerspruch geblieben. Die Kritiker in der Führungsspitze hat Kadar schon kurz vor seiner Moskau-Reise durch ein breitangelegtes Revirement kaltgestellt, dem auch der langjährige Außenminister Puja samt seinen Stellvertretern zum Opfer fiel.

Dafür hat sich der Chef der Kontrollkommission der Partei, Andras Gyenes, in der Parteizeitung »Nepszabadsag« im Namen der Orthodoxen mit einer Warnung vor den »schädlichen Auswüchsen« des Reformkurses zu Wort gemeldet. Der Spitzengenosse: »Ehrliche Menschen sind entrüstet, und das mit Recht, wenn sie sehen, wie andere ohne Arbeit, durch Tricks und Spekulationen, reich werden wollen.«

Der Kontrolleur fragt besorgt, »ob die führende Rolle der Partei noch angemessen auf allen Gebieten des sozialistischen Zusammenlebens zur Geltung komme«.

Auf allen wohl nicht. Die Sitten der Bourgeoisie locken die Massen, die Ungarns Staatspartei kaum noch mobilisieren könnte: Als Anfang September erstmals eine ungarische Schönheitskönigin gekürt wurde - erster Preis: eine Reise nach Paris -, kamen mehr als 10 000 Zuschauer.

»Küß die Hand, Genossin - Ungarn - ein kommunistisches Wunderland?"Herausgegeben von Istvan Futaky; SPIEGEL-BUCH Nr. 31,Rowohlt-Taschenbuchverlag, Reinbek bei Hamburg; 14 Mark.Beim Staatsbesuch Mitte Juli auf dem Moskauer Flughafen.

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