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FALL GLEIWITZ Aktion Konserve

aus DER SPIEGEL 46/1963

Im Halbdunkel schleifen zwei Männer den Bewußtlosen zur Tür. Drei Schüsse fallen, der Bewußtlose stirbt. Während die Männer in der Dämmerung davonstaksen, erscheint im Hintergrund der Funkturm des Senders Gleiwitz. Und auf der Leinwand ist zu lesen: »43 Millionen Tote.«

Mit dieser Szene, der ein Kritiker des Westberliner »Tagesspiegel« »besondere Eindringlichkeit« bescheinigte, endet ein Film der sowjetzonalen Staatsfilmgesellschaft Defa: Er wurde bereits 1960 gedreht, aber erst vor kurzem - in Filmklub-Veranstaltungen - erstmals in der Bundesrepublik gezeigt: »Der Fall Gleiwitz«.

Thema des Films ist die Rekonstruktion eines Vorfalls, der - so notierten die »Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte« - zwar »den Verlauf der Geschichte nicht beeinflußt«, aber dennoch »bis heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt« hat: Am 31. August 1939 überfielen deutsche SS-Leute, als Polen verkleidet, den Sender Gleiwitz, verlasen vor dem Mikrophon einen fingierten Aufruf polnischer Aufständischer ("Der Rundfunksender Gleiwitz ist in unserer Hand") und lieferten damit den Nationalsozialisten einen Vorwand für den Überfall auf Polen.

Anführer des SS-Kommandos, das den Handstreich nach Anweisungen des Gestapo-Chefs Heinrich Müller inszenierte,war der damalige SS-Sturmbannführer Helmut Naujocks. Er ist auch die Hauptfigur des Defa-Films, den die Drehbuch-Autoren - Wolfgang Kohlhaase und Günter Rücker - als »Versuch einer Dokumentation mit künstlerischen Mitteln« gewertet wissen wollen.

Tatsächlich bescheinigten auch westdeutsche Kritiker dem Gleiwitz-Film, der von dem Regisseur Gerhard Klein mit Verfremdungs-Techniken und harten Bildschnitten à la Eisenstein inszeniert wurde, künstlerische Qualitäten. »Ein ausgezeichneter Film«, lobte etwa »Die Welt«, und der »Tagesspiegel« fand: »Seit Staudtes 'Untertan' ... der optisch stärkste, seit Konrad Wolfs 'Sterne' der geschlossenste und überzeugendste Film der Defa.«

Die Authentizität des Filmes freilich erwies sich in einigen Punkten als ebenso fragwürdig wie einst die NS-Berichterstattung über den Fall. Obwohl der Handstreich auf den schlesischen Sender nur eine von mehreren ähnlich inszenierten Grenzprovokationen war; wurde vornehmlich der Gleiwitz-Zwischenfall in der NS-Presse hochgespielt - in unterschiedlichen Versionen. Die »Oberschlesische Volksstimme« meldete am 1. September 1939, es sei gelungen, »alle Aufständischen gefangen zu nehmen«. Dagegen hieß es im »Weißbuch« des Auswärtigen Amts einige Zeit später: »Die Aufständischen wurden durch deutsche Grenzschutzbeamte vertrieben.« Und während der »Völkische Beobachter«

von einem »polnischen Freiwilligenkorps oberschlesischer Aufständischer« sprach, war in der NS-Monatsschrift »Das Archiv« sechs Wochen später von einer »Beteiligung regulärer polnischer Soldaten« die Rede.

Daß es reguläre deutsche SS-Leute waren, die den Gleiwitzer Sender überfielen, ist mittlerweile die einzige unbestrittene Erkenntnis der Historiker. Über den Ablauf des Handstreichs hingegen kursieren etliche Darstellungen, die einander in wesentlichen Punkten widersprechen.

Die jüngste Version lieferte der Weilburger Historiker Jürgen Runzheimer in einer Untersuchung, die Ende vergangenen Jahres in den »Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte« veröffentlicht wurde. Seine Arbeit stützt sich auf Mitteilungen eines »möglichst großen Kreises von Zeugen ... der in der Lage war, aus direkter oder indirekter Zeugenschaft Hinweise über den Vorfall zu geben«. Runzheimer rekonstruiert das Geschehen so:

Am Vorabend des Krieges, kurz vor 20 Uhr, betraten fünf Männer in Zivil den Senderaum. Sie fesselten »dem gesamten Personal ... die Hände mit einer dünnen Schnur« und brachten die Gefangenen in den Keller. Dann wurden drei der Senderangestellten nacheinander wieder heraufgeholt, »geschlagen und mit Pistolen bedroht«; sie sollten den Eindringlingen »die technische Einrichtung (des Senders) erklären«.

Wesentlich glimpflicher verlief der Handstreich nach der Darstellung des Hauptbeteiligten Naujocks: »Es ist kein Mensch geprügelt worden« (siehe Interview Seite 71). Das SS-Kommando habe - so Naujocks - in der Tat von den Angestellten des Senders erfahren, wo das Gewittermikrophon aufbewahrt wurde, mit dessen Hilfe man sich in eine laufende Sendung einschalten konnte. Aber: »Sie haben (es) uns gesagt«, längere Verhöre waren dazu »gar nicht nötig«.

Am umstrittensten jedoch ist die Frage, wie der Schlußakt des Gleiwitzer Hörspiels ausgegangen ist. Übereinstimmend meldete die NS-Presse, daß ein Toter am Tatort zurückgeblieben sei; er sollte offenbar als Corpus delicti den Eindruck vortäuschen, es seien Polen gewesen, die den Sender überfielen. Ungewiß ist, wer der Mann war und wer ihn tötete.

Die verblüffendste Identifikation nahm Historiker Runzheimer vor. Nach seiner Darstellung war der Tote ein SS-Mann, ein SD-Mann (Angehöriger

des Sicherheitsdienstes) der Todesschütze.

Einer der Naujocks-Gehilfen sei - so Runzheimer - während des Handstreichs zur Bewachung des überwältigten Senderpersonals in den Keller kommandiert worden. Als dann der SS -Trupp, nach Verlesung des Aufrufs, abgezogen sei, habe man »in der Hast« oder wahrscheinlich sogar mit Absicht den Posten im Keller »vergessen«. Als der Zurückgebliebene dann zu fliehen versuchte, habe »ein Angehöriger des SD, der auf der Tarnowitzer Straße (vor dem Sender) vorüberging«, ihn entdeckt und erschossen.

Diese Version des Zeitgeschichtsforschers beruht freilich auf vagen Quellen: Kronzeugnis der Untersuchung ist ein Bericht des - namentlich nicht genannten - ehemaligen Gleiwitz-Sendeleiters »N.«, den dieser im Jahre 1949 »aus der Erinnerung« (Runzheimer) verfertigte.

Die Erinnerung des Zeugen N. wiederum gründet sich lediglich auf Erinnerungen anderer (inzwischen verstorbener oder verschollener) Zeugen: Denn N. war im Juni 1939, also drei Monate vor der Aktion, von Gleiwitz abberufen und nach Oppeln versetzt worden. Nur gesprächsweise hörte er bei einem »Besuch am (dem Überfall) folgenden Wochenende« vom Betriebspersonal, was sich zugetragen hatte.

Um diese Schilderung der Geschehnisse aufrechtzuerhalten, mußte Runzheimer sich denn auch entschließen,

nahezu allen Einlassungen des Hauptbeteiligten Naujocks »keinen Glauben (zu) schenken«. Dabei bleibt jedoch fraglich, warum ausgerechnet Naujocks eine Darstellung präsentiert, die ihn eher belasten muß. Das Opfer, sagt Naujocks, sei nicht etwa einer seiner Leute, sondern ein KZ-Häftling gewesen. Naujocks: »Meine Leute sind alle nach Hause gekommen.«

Bei seiner Vernehmung während der Nürnberger Prozesse hatte Naujocks zu Protokoll gegeben, Gestapo-Chef Müller habe für die Gleiwitz-Aktion und für andere, gleichzeitig inszenierte Grenzprovokationen »ungefähr zwölf oder dreizehn verurteilte Verbrecher« bereitgestellt. Es habe sich um Personen gehandelt, »denen polnische Uniformen angezogen werden sollten und deren Leichen auf dem Schauplatz der Vorfälle liegengelassen werden sollten, um zu zeigen, daß sie im Laufe der Anschläge getötet worden seien«.

Daß diese »verurteilten Verbrecher« KZ-Häftlinge waren, entnahmen Jahre später die Defa-Rechercheure einem bislang unveröffentlichten Bericht, den ehemalige Insassen des Konzentrationslagers Sachsenhausen für das sowjetzonale »Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer« verfertigten. Danach sollen »etwa am 25. August 1939« vier Häftlinge aus Sachsenhausen »per Bahn und Pkw in das Gestapo-Gefängnis Breslau gebracht worden« sein; zwei von ihnen kehrten nie zurück und wurden später »von der Lagerstärke als tot abgesetzt«.

Daß einer der KZ-Häftlinge bei der Gleiwitz-Aktion geopfert wurde, hält Naujocks für wahrscheinlich. Allerdings: »ich selbst habe damit gar nichts zu tun.« Beauftragte des Gestapo-Chefs Müller hätten den Häftling zum vereinbarten Zeitpunkt zum Sender gebracht und ihn neben dem Eingang hingelegt. Naujocks: »Ich habe ihn mir angesehen ... aber ich weiß nicht einmal, ob dieser Mann dort wirklich erschossen wurde.«

Die sowjetzonale Defa folgte bei der filmischen Aufbereitung des Gleiwitz -Handstreichs weder einer Fassung à la Runzheimer noch dem ehemaligen Kommandochef Naujocks. Der Film endet damit, daß der KZ-Häftling - laut Drehbuch das erste von 43 Millionen Opfern des Zweiten Weltkrieges - durch Injektion eines Medikaments bewußtlos gemacht und erschossen wird: von Naujocks.

Allerdings gestanden die Defa-Leute ein, daß sie sich bei dieser Version von »dramaturgischen Notwendigkeiten« leiten ließen; wer den tödlichen Schuß abgab, war für sie »nicht weiter von Belang« (Drehbuchautor Rücker). Doch wollten sie darstellen, daß Naujocks »einer der Spezialisten für 'Dreckarbeiten' war«.

Das von der Defa angefertigte Naujocks-Konterfei als »nordischer Stiefelknecht« (so die »Welt") nahm auch der Hamburger Generalstaatsanwalt Buchholz in Augenschein. Nach der Vorführung leitete er gegen Naujocks ein Ermittlungsverfahren ein.

Sender Gleiwitz (1939): Am Vorabend des Krieges ein Handstreich der SS

Defa-Film »Der Fall Gleiwitz": Drei Schüsse und 43 Millionen Tote

Gestapo-Chef Müller

Defa-Schauspieler Grosse als Müller

Eine Leiche blieb zurück

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