GRENZGÄNGER Aktion Männerklau
Die Tagung des SED-Parteiaktivs war beendet, Genosse Paul Klein aus der Schönhauser Allee in Ostberlin eilte heimwärts. Dabei überkam ihn die Erleuchtung, wie er der Losung des Parteisekretärs Paul Verner folgen und sein Scherflein zu Frieden und Sozialismus beisteuern könne: Er beschloß, anderntags mit seinem Nachbarn »ein Bierchen zu trinken«.
Nachbar Karl, so erläuterte Klein seinen Drang zur Kneipe im SED-Blatt »Neues Deutschland«, »arbeitet nämlich drüben«. Schon bei der ersten Molle eröffnete Parteiaktivist Klein die, Überzeugungsschlacht beiläufig mit der Anklage, daß Karl ein Republik-Schädling sei.
Der Ostberliner DDR-Bürger Karl arbeitet seit Jahren in Westberlin und ist als Grenzgänger zwischen Ost und West laut parteiamtlicher Version nicht nur ein Handlanger der Westberliner Monopolkapitalisten, sondern zudem ein Parasit, der von den Errungenschaften des Arbeiter- und Bauernstaates zehrt, ohne an dessen Aufbau durch Arbeit in Ostberlin mitzuwirken.
Nicht zufällig hatte Paul Verner, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, tags zuvor den Parteiaktivisten, darunter dem Genossen Paul Klein, das Signal zur öffentlichen Treibjagd auf die Grenzgänger gegeben. Verner: »Sie schaffen keine Werte für unsere Gesellschaft, leben aber... auf Kosten unserer Werktätigen.«
Der Zeitpunkt für die Kampagne gegen die rund 53 000 in Westberliner Betrieben arbeitenden Ostberliner DDR -Bürger war geschickt gewählt. Der allgemeine Unmut über die akuten Versorgungsnöte in Walter Ulbrichts Republik, kalkulierte die Parteileitung, lasse sich durch den Grenzgänger-Feldzug zumindest in Ostberlin politisch neutralisieren. Als wirksames Mittel bot sich den Propagandisten der Zone eine menschliche Unart an, die Kapitalisten und Kommunisten gleicherweise heimzusuchen pflegt: der Neid.
Von den Ostberliner Zeitungen nach Kräften ermuntert, meldeten sich nach dem Verner-Referat nämlich Leser zu Wort, die darüber klagten, daß die wenigen in Ostberlin angebotenen Kühlschränke, Fernsehgeräte und Waschmaschinen von den 53 000 Grenzgängern spottbillig aufgekauft würden.
Die Klage war nicht unbegründet, da in Westberlin arbeitende DDR-Bürger 40 Prozent ihres Lohns in Westmark ausgezahlt bekommen, die sie nicht selten in Westberliner Wechselstuben zum Kurs 1:4 wieder in Ostmark umtauschen.
Moralisierte Paul Verner in klassischem Parteichinesisch: »Ein solcher Weg hat keine Perspektive, denn niemand kann auf die Dauer von unehrlich verdientem Geld leben, und das Geld der Grenzgänger ist unehrlich verdient, denn es kommt aus dem Schwindelkurs.«
Und die Fernverkehr-Brigade »Juri Gagarin« in Ostberlin interpretierte die Verner-Sätze: »Es entspricht unserer proletarischen Ehre, wenn wir fordern, daß die Früchte unserer Arbeit von den Menschen geerntet werden, die sie säten.«
Der teils bestellte, teils spontane Beifall ermunterte den Genossen Georg Mallickh, Stadtrat für Handel und Versorgung beim Ostberliner Magistrat, zu einem Dekret, das die Abgabe von »hochwertigen Industriewaren« auf jene Konsumenten beschränkt, die eine Bescheinigung vorweisen, daß sie in Ostberlin oder in der Zone in einem »ordentlichen Beschäftigungsverhältnis« stehen.
Grenzgänger können seither keine Automobile, Motorräder, Mopeds, Fernsehgeräte, Kühlschränke, Waschmaschinen und Ruderboote mehr kaufen. Sie sollen künftig auch von der Butter -Zuteilung ausgeschlossen werden.
Zugleich wird den Grenzgängern und ihren Familienangehörigen offen angedroht, daß sie aller Sozialleistungen - etwa der wertvollen Studienbeihilfen und billiger Neubauwohnungen - verlustig gehen, wenn sie ihren Arbeitsplatz in Westberlin nicht aufgeben.
Derlei Schikanen sind nicht nur dazu bestimmt, die Nachfrage nach hochwertigen Konsumgütern, an denen die Wirtschaft der Zone Mangel leidet, künstlich zu drosseln. Die Grenzgänger-Kampagne verfolgt darüber hinaus das doppelte Ziel,
- der DDR-Wirtschaft neue Arbeitskräfte
zuzuführen, und
- aus der Westberliner Wirtschaft 53 000 meist qualifizierte Arbeiter abzuziehen, ihr damit weiteren Aufschwung zu verwehren und das Gefälle zwischen Ost- und Westberliner Lebensstandard einzuebnen.
Daß die SED-Funktionäre nicht aus purer Lust am Schikanieren beschlossen haben, die Grenzgänger - im Westberliner Wirtschaftsjargon »Einpendler« genannt - auf DDR-eigene Arbeitsplätze zu zwingen, erweist schon die Zahl der offenen Stellen in Ostberlin: Ulbrichts Wirtschaftsplanern fehlten im Juni dieses Jahres 43 000 Arbeitskräfte, die zur Erfüllung der weitgesteckten Planziele in den Ostberliner Bau- und Industriebetrieben nötig sind.
Aus der offiziellen Statistik des Landes Westberlin können Ulbrichts Funktionäre ablesen, daß sie ihre Arbeitsmarkt-Misere im planwirtschaftlich gelenkten Ostberlin vornehmlich der freiwirtschaftlichen Sogkraft Westberlins zu danken haben.
Arbeiteten 1950 - zwei Jahre nach der Spaltung der Stadt - noch rund 100 000 Westberliner in Ostberlin, so schrumpfte diese Zahl 1961 auf rund 15 000 zusammen, von denen noch gut die Hälfte als Angestellte der sowjetzonalen Reichsbahn ihren Dienst auf Westberliner Territorium leistet.
Auf der anderen Seite ist die Zahl der Ostberliner, die in den Westsektoren Arbeit nahmen, stetig gestiegen: Im März 1956 -waren nur rund 30 000 Ostberliner in Westberlin beschäftigt, im Juni 1961 jedoch 53 000.
Westberliner Wirtschaftler gestehen offen ein, daß ohne den anhaltenden Zustrom Ostberliner Arbeitskräfte die Westberliner Produktion von 1958 bis 1961 nicht um über 50 Prozent gestiegen wäre.
Die Versuche der SED, die Grenzgänger durch administrative. Maßnahmen für den volksdemokratischen Arbeitsmarkt zurückzuerobern, haben bei Westberliner Wirtschaftlern denn auch erste Anzeichen von Besorgnis hervorgerufen. Ulbrichts Aktion Männerklau trifft Westberlins Industrie nämlich in einer Phase, in der die heimischen Arbeitskraft-Reserven nahezu erschöpft sind.
Bisher freilich konnten die Aktivisten der Aktion Männerklau wesentliche Erfolge nicht melden. Selbst Mustergenosse Paul Klein, der Nachbar Karl am Biertisch in klassenbewußter Moral unterwies, war außerstande, den Lesern, des »Neuen Deutschland« den erfolgreichen Abschluß seines proletarischen Aufklärungsfeldzugs anzukündigen.
Berliner Grenzgänger, Kontrolleur: Eine Molle für die DDR