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Flüchtlinge Aktion Ungehorsam

Deutsche und Ausländer, die Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen haben, geraten selbst in Bedrängnis: Sie sollen für Sozialhilfe und Unterkunft aufkommen.
aus DER SPIEGEL 35/1993

Sie kamen im letzten Sommer, nach zweimonatiger Flucht über bosnische Dörfer, über Zagreb und Wien nach Deutschland. Der Eisenbahner Ilija Karic*, 58, ein Gastarbeiter aus dem früheren Jugoslawien, nahm die Verwandten in München auf, glücklich, daß sie den Kriegswirren auf dem Balkan lebend entkommen waren.

Seither teilen sich acht Personen zwei kleine Zimmer, eine Küche und ein Bad. Bahnarbeiter Karic kommt für alles auf, seit kurzem auch für Anwaltskosten. Denn Karics Vermieter, die Eisenbahner-»Baugenossenschaft des Verkehrs-Personals 1898«, will die Wohnung räumen lassen, wegen Überbelegung. Wie Karic sind viele Familien in _(* Name von der Redaktion geändert. ) Not geraten, die Balkan-Flüchtlingen Unterschlupf in Deutschland gewährt haben und die nun die Lasten allein tragen müssen: Behörden verweigern Sozialhilfe oder die Übernahme von Arztkosten, Banken machen wegen überzogener Konten Druck, Vermieter treiben bei den Gastgebern saftige Nachzahlungen für Heizöl und Wasserkosten ein.

Staatliche Stellen sehen die Unterbringung der Bürgerkriegsflüchtlinge vielfach als Privatsache der Helfer an. Die Fremden geraten in einen Mahlstrom von Ermessensentscheidungen und Behördenwillkür. Viele werden von den Gemeinden wie Sozialschnorrer behandelt.

Bayerische Kommunen haben bereits erste Regreßbescheide an Privatleute geschickt, in München bislang für 14 Schutzsuchende. Die Städte verlangen Beihilfen für Unterhalt und Unterkunft zurück, wenn die privaten Gastgeber bei der Einreise für die Fremden gebürgt haben.

Dem in München lebenden Zimmermädchen Emira Campara etwa hat das Sozialamt kürzlich Zahlungsaufforderungen von über 10 000 Mark angedroht. Die Bosnierin hatte zehn Flüchtlinge zunächst bei sich und dann in städtischen Wohnungen untergebracht.

In Hessen und Baden-Württemberg drängen Kommunen die Bürgerkriegsflüchtlinge seit Monaten ins Asylverfahren ab, um die Kosten auf Bund und Länder abzuwälzen - eine widerrechtliche Praxis, wie mehrere Gerichte festgestellt haben.

»Von Sachbearbeiter zu Sachbearbeiter erhalten die Leute unterschiedliche Auskünfte«, beschreibt der Münchner Pfarrer Hans Löhr den Wirrwarr auf den Ämtern. Löhr hat selbst einigen Flüchtlingen Aufnahme gewährt, darunter einigen Deserteuren. »Jede Privatinitiative wird abgewürgt«, klagt der Pfarrer, »wenn die Rechtsunsicherheit bleibt.«

Zwar hat das am 1. Juli in Kraft getretene neue Bonner Ausländer- und Asylverfahrensgesetz den Rechtsstatus der Bürgerkriegsflüchtlinge verbessert. Doch bei der Kostenregelung ist alles beim alten geblieben: Die Kommunen müssen mit Sozialhilfezahlungen einspringen, wenn der Fremde in Not gerät.

Seit dem Frühjahr protestieren baden-württembergische Stadtoberhäupter mit einer sogenannten Aktion Ungehorsam dagegen, daß sie - und nicht die Regierung - im Kriegsfall den Zahlmeister spielen sollen. Seither weigern sich die Städte Stuttgart, Mannheim, Pforzheim und Ulm, für die Flüchtlinge zu zahlen.

Stuttgarts Oberbürgermeister Manfred Rommel (CDU) wurde Mitte dieses Monats vom Regierungspräsidium zwangsverpflichtet, für die Hilfesuchenden aufzukommen, aber er will dem Druck weiterhin trotzen. Rommel: »Die Sozialhilfe ist kein Instrument, die Folgen nationaler und internationaler Katastrophen zu beseitigen.«

Behörden und Politiker haben die Folgen des Kriegsdramas auf dem Balkan bislang weit unterschätzt. Neben dem von der Bundesregierung vereinbarten Kontingent von rund 10 000 bosnischen Flüchtlingen, die im vergangenen Sommer eingereist sind, halten sich mittlerweile über 300 000 weitere Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien in Deutschland auf.

Viele sind in Konvois von Friedensgruppen und Kirchengemeinden oder mit den Zügen von Caritas und Rotem Kreuz gekommen. Hauptziele des Zustroms sind München, Stuttgart, Berlin und Frankfurt, wo Zigtausende von Gastarbeitern vom Balkan leben.

Die Helfer zahlen einen hohen Preis. Damit die Flüchtlinge einreisen können, müssen die privaten Unterstützer den Ausländerämtern sogenannte Verpflichtungserklärungen vorlegen, mit denen sie für sämtliche anfallende Kosten haften, die durch ihre Schützlinge verursacht werden. Nach dem Urteil von Experten wie dem Hamburger Ausländerrechtler Helmut Rittstieg ist die Haftungsübernahme allerdings »teilweise sittenwidrig«, weil die Forderungen kaum erfüllt werden können.

Im schlimmsten Fall müßten die Bürger, weiß Rittstieg, auch die Kosten eines Asylverfahrens und der Abschiebung übernehmen. »Das kann vielen von uns das Genick brechen«, sagt der Gastarbeiter Zijad Lukavica.

Manch ein Landsmann, aber auch etliche deutsche Gastgeber haben gleich mehrere solcher Bürgschaften übernommen. Lukavica etwa, seit 25 Jahren Kraftfahrer in München, hat in Eigeninitiative seine Großfamilie aus den bosnischen Kriegszonen geholt. Über mehrere Monate hinweg lebten 13 Personen in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung in Neuperlach.

»Frühstück gab es in drei Schichten«, erinnert sich der Gastgeber. Für Brüder, Schwestern und Schwager hat er mittlerweile kleine Wohnungen auftreiben können.

Die meisten Familienmitglieder gehen als Werbezettelverteiler oder Putzhilfen arbeiten. Nur der 74 Jahre alte Vater bezieht Sozialhilfe, die anderen bekommen Wohngeld.

Lukavicas persönliche Bilanz nach 16 Monaten Balkankrieg sieht düster aus: Sein Ferienhaus in Ex-Jugoslawien ist zerbombt. Die Ersparnisse, rund 30 000 Mark, sind aufgezehrt.

Monatlich fallen etwa 1500 Mark für Telefonate, Benzin und den Lebensunterhalt der Großfamilie an. Abends übt der Kraftfahrer einen zweiten Job aus: Er kellnert in einem Biergarten.

Nun fürchtet der spendable Bosnier, selber zum Sozialopfer zu werden. Wenn die Behörden eines Tages mit ihren Regreßforderungen Ernst machen, ist er vollends ruiniert. Lukavica hat 18 Haftungserklärungen unterschrieben. Y

* Name von der Redaktion geändert.

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