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Titel Alarm und Fehlalarm

Um eine Krebserkrankung zu vermeiden, lassen sich Millionen Deutsche jedes Jahr den Darm spiegeln, die Haut untersuchen oder die Brüste röntgen. Doch der Nutzen der meisten dieser Vorsorgeuntersuchungen ist umstritten. Und vielen Ärzten fehlt es häufig an Fachwissen.
aus DER SPIEGEL 17/2009

Ursel Runge fühlt sich rundum gesund. Dennoch will sie an diesem Vormittag ihre Brüste röntgen lassen. Sie ist dazu wenige Kilometer ins norddeutsche Horneburg gefahren, wo ein silberfarbener Omnibus steht mit der Aufschrift »Mammografie Screening«. Frau Runge trägt das Einladungsschreiben in ihrer Tasche. »Ihre Teilnahme ist selbstverständlich freiwillig«, steht dort. Frau Runge musste nicht lange überlegen. »Für mich ist das selbstverständlich, dass ich zur Mammografie gehe«, sagt die 60-Jährige. »Wenn der Arzt in meiner Brust was entdeckt, was da nicht hingehört, dann möchte ich, dass es entfernt wird.«

»Screening« kommt aus dem Englischen und bedeutet »durchsieben«. Ein Screening richtet sich grundsätzlich an gesunde Menschen, die wissen wollen, ob sie eine bestimmte Krankheit in sich tragen, auch wenn sie keine Beschwerden spüren.

Die Zahl derjenigen, die an einer von der Krankenkasse bezahlten Vorsorgeuntersuchung teilnehmen, steigt seit Jahren an (siehe Grafik rechts). Schließlich, so die verbreitete Hoffnung, könne man dadurch eine Krankheit bekämpfen, bevor sie sich auswächst.

Frauen, die in größeren Städten leben, besuchen eine Röntgenpraxis, um ihre Brüste untersuchen zu lassen. Aufs Land kommt dagegen das »Mammobil«, ein spezieller Brustkrebs-Omnibus, der im Inneren aussieht wie eine schlauchförmige Arztpraxis mit einem rund zwei Meter großen Röntgengerät.

54 solche Mammobile fahren zurzeit quer durch Deutschland. Das Gefährt auf dem Parkplatz in Horneburg ist Teil einer Gemeinschaftspraxis, zu der der Radiologe Dr. Thilo Töllner gehört. 400 000 Euro kostet das Mammobil, davon allein 200 000 das Röntgengerät von Siemens. Für jede Mammografie darf Töllner 57 Euro bei den Krankenkassen abrechnen.

Wenn sich jeden Tag, wie Töllner sagt, 80 Frauen hier röntgen lassen und das Jahr 250 Arbeitstage hat, sorgt das Fahrzeug für Einnahmen von mehr als 1,1 Millionen Euro pro Jahr. Verständlich, dass Dr. Töllner ein Interesse daran hat, möglichst viele Frauen durch seinen Omnibus zu schleusen. Aber nutzt der Aufwand auch den Untersuchten?

Bisher haben 2,7 Millionen Frauen im Alter zwischen 50 und 69 Jahren eine Einladung zum kostenlosen Mammografie-Screening erhalten. Mehr als die Hälfte hat den Termin wahrgenommen. Damit ist das Brustkrebs-Screening einer der am meisten genutzten Früherkennungstests überhaupt.

Noch häufiger wurde nur der Darmkrebstest auf verborgenes Blut im Stuhl genutzt (von 3,1 Millionen Männern und Frauen ab 50 Jahren), die allgemeine Gesundheitsuntersuchung »Check-up« (von 8,5 Millionen Männern und Frauen ab 35 Jahren) sowie die Untersuchung auf Gebärmutterhalskrebs (von 14 Millionen Frauen ab 20 Jahren).

Screening ist längst eine Art Volksbewegung geworden: Werbeplakate und TV-Spots mit etlichen Prominenten haben im »Darmkrebsmonat März« dazu aufgerufen, sich einer Darmspiegelung zu unterziehen. Es werben unter anderem Günter Netzer und Maria Furtwängler dafür.

Prominente Bekenner finden sich aber auch in den Kampagnen für andere Tests: Modedesignerin Jette Joop wirbt für die Schutzimpfung gegen Gebärmutterhalskrebs, Gesundheitsministerin Ulla Schmidt für das Brustkrebs-Screening, Torwartlegende Sepp Maier und ZDF-Moderator Klaus-Peter Siegloch raten öffentlich zum Test auf Prostatakrebs. Nichts scheint in einer alternden Gesellschaft wichtiger zu sein, als mögliche Krankheiten möglichst früh zu erkennen.

Das Gesundheitsministerium betreibt deshalb sogar eine eigene Internet-Seite unter www.die-praevention.de, auf der etwa die Schauspielerin Jeanette Biedermann und SPD-Politiker Sigmar Gabriel den Sinn der Vorsorge preisen. Das Ministerium selbst verspricht, dass Früherkennung »mitunter auch verhindern kann, dass es überhaupt zu gesundheitlichen Beschwerden kommt«.

In einer Pressemitteilung mahnt Ulla Schmidt: »Wer für seine Gesundheit etwas tun will, geht nicht erst zum Arzt, wenn sich Beschwerden einstellen. Wichtig ist vielmehr, den eigenen Gesundheitszustand regelmäßig kontrollieren zu lassen.«

Viele Prominente, Medien, aber auch Politiker, Kassenlobbyisten oder Mediziner sind überzeugt, eine gute Sache zu unterstützen, wenn sie ins Hohelied der Vorsorge einstimmen: Die Ärztin und Fernsehmoderatorin Susanne Holst etwa appellierte in »Bild am Sonntag«, das neue Jahr müsse »ein Jahr der Vorsorge werden«. Für sie selbst seien Vorsorgetermine »so etwas wie unantastbare Termine«. Mit erhobenem Zeigefinger wendet sich Frau Holst an ihre Leser: »Seien Sie klug, und nehmen Sie die ganz selbstverständlich wahr. Ganz wichtig auch die regelmäßigen Krebsvorsorgeuntersuchungen beim Urologen, Haut- und Frauenarzt.«

Und kann denn wirklich fragwürdig sein, was selbst von der EU-Kommission in Brüssel tatkräftig unterstützt wird? Anfang des Jahres versicherte die für Gesundheit zuständige EU-Kommissarin Androulla Vassiliou: »Investitionen in die Krebsvorsorge werden sich langfristig auszahlen; Prävention ist die wirksamste und kostengünstigste Methode, die Belastung durch Krebs in Europa zu minimieren.«

Selbst die Krankenkassen sind auf Linie: Unternehmen wie die BKK Novitas nennen sich bereits offiziell »Präventionskasse«. Andere wetteifern darin, ihren Versicherten darzulegen, welche Untersuchungen bei ihnen zum All-inclusive-Service gehören. Sie alle verkaufen - auch - ein gutes Gefühl. Das Gefühl, alles getan zu haben.

Im Jahr 2005 gaben die gesetzlichen Krankenkassen für Früherkennungsuntersuchungen 891 Millionen Euro aus, 2008 waren es schon 1,21 Milliarden.

Kein Ausgabenblock im gesamten Gesundheitswesen, nicht einmal der für Arzneimittel, wächst so rasant wie die Früherkennung.

Doch wissen Ärzte und Kassen überhaupt, was sie da so großzügig finanzieren? Sind die ganzen Untersuchungen wirklich nur von Vorteil, wie alle glauben machen wollen? Und: Wie viele Menschen profitieren wirklich? Entweder, weil sie tatsächlich vor einer Krebserkrankung bewahrt werden, oder, weil eine Krankheit früh erkannt und dadurch besser behandelt werden kann.

Während in der öffentlichen Debatte kaum Zweifel am Sinn und Zweck der ganzen Programme erlaubt sind, betrachtet die internationale Wissenschaft das Screening mit wachsender Skepsis.

Es geht dabei nicht um die Geldfrage, auch wenn sich eine Gesellschaft gelegentlich ohne jeden Zynismus fragen muss, wo das eingesetzte Geld im Gesundheitswesen am meisten hilft - und wo es vielleicht nur Nerven oder Wähler beruhigt.

Es geht vielmehr um die nüchterne Frage: Was bringen die Prozeduren wirklich medizinisch? Und wo schaden die Untersuchungen womöglich gar?

Viele Forscher müssen enttäuscht feststellen, dass durch flächendeckende Früherkennungstests weit weniger Menschen gerettet werden können als allgemein erwartet. Zu diesem Ergebnis kommen Studien, für die Hunderttausende Menschen weltweit beobachtet wurden.

Peter Sawicki, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und damit oberster Gesundheitsprüfer in Deutschland, stellt nach Prüfung der wichtigsten Fachliteratur nüchtern fest: »Alle guten Studien zeigen: In den meisten Fällen sind der Nutzen und der Schaden relativ gering. Ob man die Früherkennung macht oder nicht, hat für den Einzelnen keine große Bedeutung. Die Effekte werden erst sichtbar, wenn man sie auf die Gesellschaft hochrechnet.«

Das heißt, jeder Einzelne verbessere seine Chance, nicht an einer bestimmten Krebserkrankung zu sterben, durch eine Teilnahme am Screening vielleicht um 0,05 oder 0,1 Prozent. Erst wenn 1000 oder 2000 Menschen diese Untersuchung über einen mehrjährigen Zeitraum über sich ergehen lassen, profitiert am Ende einer davon. Natürlich denkt jeder, er könne ja dieser eine sein.

Sawicki spricht bewusst von »guten Studien«. Denn in der Medizin ist es mittlerweile üblich, dass man für jede Behauptung eine Studie zitieren kann, die irgendein Institut trickreich zusammengezimmert hat. Entsprechend oft hört man auch sensationell klingende Zahlen, die aber mehr mit statistischen Spielereien als mit wirklicher Empirie zu tun haben.

Für seriöse Wissenschaftler müssen »gute Studien« den Maßstäben der sogenannten evidenzbasierten Medizin genügen. Das englische »evidence« steht für »Beweis« und bedeutet, dass jeder Arzt sich zunächst an belegbaren Ergebnissen aus medizinischer Forschung orientieren soll, nicht an bloßer Expertenmeinung.

»Evidenz statt Eminenz« lautet deshalb das Credo dieser vor mehr als zehn Jahren begründeten neuen Richtung in der Medizin. Hört sich wie eine Selbstverständlichkeit an - ist es aber gerade in Deutschland immer noch nicht. Folgt man dieser evidenzbasierten Medizin, dann liefern sogenannte randomisiert-kontrollierte Studien (Englisch: randomized controlled trials, RCT) beste Erkenntnisse.

Im Idealfall funktioniert eine derartige Studie so: Man nimmt 50 000 Frauen und teilt sie nach dem Zufallsprinzip (deshalb: »randomisiert") in zwei gleich große Gruppen: Die eine Gruppe nimmt zehn Jahre lang am Brustkrebs-Screening teil, die andere nicht. Nach zehn Jahren »kontrolliert« man: Wie viele Frauen sind in der ersten Gruppe inzwischen an Brustkrebs verstorben, wie viele in der zweiten. Der Unterschied zeigt dann, wie nützlich das Screening ist.

Das Positive: Für die Mammografie gibt es solche randomisiert-kontrollierten Studien. Die dänischen Wissenschaftler Peter Gøtzsche und Margrethe Nielsen haben Untersuchungen ausgewertet, an denen mehr als eine halbe Million Frauen in Nordamerika und Europa teilgenommen haben.

Ihr überraschendes Ergebnis: Wenn 2000 Frauen zehn Jahre regelmäßig am Brustkrebs-Screening teilnehmen, stirbt am Ende eine Frau weniger an Brustkrebs. Das mag zunächst phantastisch klingen, vor allem für die eine, der geholfen wurde. Die Schattenseite ist aber: Gleichzeitig erhalten 10 von den 2000 Frauen eine Brustkrebsbehandlung, obwohl sie gar keinen Brustkrebs haben. Bei 200 der 2000 Frauen gibt es im Lauf von zehn Jahren mindestens einen Fehlalarm. Andere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen.

Hinzu kommt, dass der Vorteil »Eine von 2000« sich nur auf die Brustkrebssterblichkeit bezieht. Es verringert sich also lediglich die Zahl derjenigen Frauen, die an Brustkrebs sterben. Die Gesamtsterblichkeit im Auswertungszeitraum sank der Untersuchung von Gøtzsche und Nielsen zufolge aber nicht.

Dazu kommt noch die sehr viel höhere Zahl an Fehldiagnosen und unnötigen Operationen. Bereits diese Fehlalarme erhöhen nicht nur den psychischen Druck auf die Patientinnen; sie verursachen zur Abklärung der Befunde weitere Untersuchungen, unnötige Gewebeentnahmen und womöglich Therapien. Die Mediziner haben das Problem, gefährliche und ungefährliche Veränderungen nicht immer unterscheiden zu können.

Aber je mehr Screenings der Einzelne durchführen lässt, umso mehr wird auch gefunden, was wiederum zu einer Art von Überdiagnose führt, die nicht unbedingt mit mehr Gesundheit einhergeht, sondern mehr Unsicherheit, Angst und Arztbesuche bedeuten kann.

Der US-Mediziner H. Gilbert Welch vergleicht es mit einer Google-Earth-Suche nach Seen im amerikanischen Bundesstaat Utah. Wer von weit weg auf die Erde schaut, sieht zunächst nur den Großen Salzsee. Je näher man dem Land komme, umso mehr entdecke man. Welch: »Je genauer man hinschaut, umso mehr Seen findet man - aber sie werden immer kleiner und unwichtiger.« Was heißt das für Brustkrebs? Dass es nicht darum geht, möglichst alle Tumoren zu finden, sondern darum, die wirklich gefährlichen zu entdecken.

Kein Wunder, dass das Duo Gøtzsche und Nielsen angesichts der schwachen Beweiskraft nicht beantworten will, ob beim Brustkrebs-Screening am Ende der Nutzen oder der Schaden höher ist.

Ende Februar veröffentliche das »British Medical Journal« eine Arbeit von Gøtzsche und Nielsen, in der die beiden bilanzieren: »Es mag vernünftig sein, am Brustkrebs-Screening teilzunehmen, aber es mag genauso vernünftig sein, nicht daran teilzunehmen, weil das Screening sowohl Nutzen als auch Schaden hat.«

Letztlich ist es also eine Entscheidung, die jede Frau selbst treffen muss: Nehme ich für die sehr geringe Wahrscheinlichkeit, dass ich den Brustkrebstod durch das Screening vermeide, die sehr viel höhere Wahrscheinlichkeit in Kauf, dass ich durch falsche Diagnosen unnötig beunruhigt, unnötig bestrahlt und im ungünstigsten Fall sogar unnötig operiert werde?

Doch warum ist der Effekt überhaupt so gering? Dafür gibt es zwei Gründe, die Verfechter der Gesundheits-Checks geflissentlich übersehen oder verschweigen: Erstens sind die Untersuchungen mit einer großen Unsicherheit behaftet. Das liegt einerseits am mangelnden Know-how vieler Ärzte, die ungeübt sind in der Diagnose, andererseits aber auch an schlechten Geräten und der Schwierigkeit, manche Frühformen von Krebs überhaupt zu erkennen.

Deshalb gibt es nach wie vor eine Menge Fehlalarme (Mediziner sprechen dann von »falsch-positiven Befunden"), als auch Tumoren, die bei der Früherkennung übersehen wurden (sogenannte »falsch-negative Befunde").

Zweitens gründet das Problem auch in der Tücke der Krebserkrankungen selbst. Denn Früherkennung ist nur in einem speziellen Fall wirklich sinnvoll: wenn ein entdeckter Tumor bösartig ist, aber noch keine Tochterkrebszellen, sogenannte Metastasen, im Körper verstreut hat, und wenn man ihn heilen kann.

Doch nicht immer ist dieser günstige Fall gegeben, wie der Medizinexperte Klaus Koch erläutert, der für die Stiftung Warentest ein Buch über Krebsfrüherkennung geschrieben hat: »Es gibt auch Tumoren, die früh metastasieren, lange bevor sie durch Früherkennungsuntersuchungen gefunden werden können.« Wenn ein Tumor aber nur früher entdeckt wird, ohne dass man ihn heilen kann, führt die Früherkennung zu einem Schaden. »Dann wird nicht die Lebenszeit verlängert, sondern nur die Leidenszeit«, sagt Koch.

Ein weiterer Typ von Tumoren metastasiert dagegen so spät, dass er auch noch heilbar ist, wenn er durch Symptome auffällt. Auch in diesem Fall hat die Früherkennung keinen Nutzen.

Und schließlich gibt es noch Tumoren, die so langsam wachsen, dass sie nie Beschwerden verursachen, die man also auch

nie bemerken würde - wenn man sie eben nicht zufällig durch eine Früherkennungsuntersuchung entdeckte. So finde man etwa im Darm von 70-jährigen Männern fast immer Polypen, die aber irrelevant seien, weil sie so langsam wachsen, dass die Leute zuvor an einer anderen Krankheit sterben, ihren Krebs also gar nicht mehr erleben, sagt Koch, der mittlerweile als Medizinredakteur beim IQWiG arbeitet.

Nach seiner Meinung haben viele Tests sogar »ein ernstzunehmendes Schadenspotential«, über das Ärzte aber kaum aufklären. In einem kürzlich veröffentlichten Aufsatz in »Der Onkologe«, einer Zeitschrift für Krebsärzte, kommt Koch zu dem Fazit: »Als Faustregel für die Praxis kann gelten: Das Risiko, unnötig zu einem Krebspatienten zu werden, ist größer als die Wahrscheinlichkeit, durch die Untersuchung vor dem Tod durch einen Tumor bewahrt zu werden. Gut belegt ist diese Aussage insbesondere für die Früherkennung von Brust-, Prostata- und Gebärmutterhalskrebs.«

Was in medizinischen Fachblättern mittlerweile in den USA wie in Europa zugegeben wird, hat sich in der Bevölkerung aber noch lange nicht herumgesprochen. In einer Umfrage wurden beispielsweise Akademikerinnen mit überdurchschnittlichem Haushaltseinkommen gefragt, wie hoch sie den Nutzen der Mammografie einschätzten.

Die Zahlen waren gigantisch: Im Schnitt wird geschätzt, dass von 1000 Frauen, die regelmäßig am Screening teilnehmen, 60 dem Brustkrebstod entgehen. Jede dritte Frau glaubt sogar, dass zwischen 100 und 200 Frauen durch das Screening gerettet werden. Auf die echten Zahlen kam in der Umfrage fast keine: dass nämlich nur rund eine oder zwei von 2000 Frauen vom Screening profitieren.

Das Ergebnis sei durchaus typisch, sagt Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und international einer der renommiertesten deutschen Psychologen. »Der Nutzen des Mammografie-Screenings wird weit überschätzt.«

Gigerenzer hat sich für seinen Sachbuch-Bestseller »Das Einmaleins der Skepsis« ausführlich mit der Brustkrebsuntersuchung beschäftigt. Das Problem sei, dass selbst Frauenärzte den Nutzen völlig falsch einschätzten.

Gigerenzer machte einen Test bei 160 Gynäkologen, die er fragte: »Wenn eine Frau im Mammografie-Screening positiv auf Krebs getestet wurde, wie wahrscheinlich ist es dann, dass sie tatsächlich Krebs hat?« Die richtige Antwort wäre zehn Prozent gewesen. Denn nur eine von zehn Frauen mit angeblich positivem Befund hat Brustkrebs. Der Rest sind Fehlalarme. Doch was antworteten die Frauenärzte? Die Hälfte von ihnen schätzte im Gegenteil, dass neun von zehn Frauen Krebs haben, wenn sie im Screening positiv getestet wurden. Nur jeder fünfte Gynäkologe kannte die richtige Antwort.

»Wenn schon viele Ärzte die Ergebnisse nicht verstehen, wie soll es dann die normale Frau verstehen?«, fragt Gigerenzer. In puncto Früherkennung gebe es eine »kollektive Blindheit von intelligenten Menschen«.

Gigerenzer findet das unverantwortlich, vor allem angesichts des Schadens, den diese Untersuchungen anrichten könnten. Einer Frau müsse doch zumindest erklärt werden, dass es eine hohe Rate von Fehlalarmen beim Screening gebe und dass sie Gefahr laufe, unnötig bestrahlt oder gar operiert zu werden.

»Die Bürger sollten verständlich und vollständig informiert werden, nur dann können sie entscheiden, ob sie an einer Früherkennung teilnehmen wollen oder nicht«, sagt Gigerenzer. Wenn man im Flughafen durch den Scanner geht, sei es auch gut zu wissen, dass das Piepsen eben nicht auf einen Terroristen hinweist, sondern dass es sich in den meisten Fällen um einen Fehlalarm handle.

Ursel Runge hat die Frage für sich entschieden: Sie will eine möglichst hohe Sicherheit - selbst auf die Gefahr hin, unnötig behandelt zu werden. Wie alle Frauen hat sie mit dem Einladungsschreiben eine zwölfseitige Broschüre zum Mammografie-Screening erhalten. Diese offizielle Broschüre ist typisch für die unvollständigen Informationen, aufgrund derer sich die Frauen entscheiden müssen.

Untermauert wird darin vor allem die Angst: »Etwa zehn Prozent aller Frauen erkranken im Lauf ihres Lebens daran«, heißt es in dem Papier. Dass diese Statistik aber nur stimmt, wenn die Frauen 85 Jahre alt werden, wird nicht verraten. Von 100 Frauen sterben immer noch 50 an Herz-Kreislauf-Komplikationen, 23 an irgendeinem anderen Krebsleiden - und 4 an Brustkrebs.

Selbst die Broschüre der Deutschen Krebshilfe zum Thema Brustkrebs ist kaum besser. Dort heißt es: »Studien haben ergeben, dass sich durch eine Mammografie-Screening-Untersuchung bei Frauen zwischen 50 und 69 Jahren die Brustkrebssterblichkeit um bis zu 30 Prozent senken lässt.«

Auch das ist eher ein Zahlenspiel, denn »wie verstehen Frauen diese 30 Prozent?«, fragt Max-Planck-Forscher Gigerenzer. Meist eben so, dass von 100 Frauen 30 weniger an Brustkrebs sterben. Schaue man sich aber die Studien an, ist es so, dass von 1000 Frauen, die am Screening teilnehmen, 3 an Brustkrebs sterben. In der Gruppe ohne Screening sterben dagegen 4. »3 statt 4, das ist natürlich eine relative Risikoreduktion von 25 Prozent. Aber wenn man nur diesen Prozentwert berichtet, führt man die meisten Frauen in die Irre, da diese dann den Nutzen weit überschätzen«, behauptet der Professor.

Wer ehrlich mit Patienten umgehen will, dürfe statt relativer Risikoreduktion nur die absolute Verringerung der Gefahren angeben. Nur so könne man den Nutzen richtig einschätzen. Statt »30 Prozent weniger« wäre die verständliche Aussage also »eine von 1000 weniger«. Gigerenzer urteilt scharf: »Die Deutsche Krebshilfe ist dabei, ihren guten Ruf zu verlieren, weil sie immer noch Patienten unzureichend informiert.«

Absolute Risikoreduktion? Relative Risikoreduktion? Nach Ansicht des Berliner Frauenarztes Hans-Joachim Koubenec kennen die meisten Ärzte diesen Unterschied nicht einmal. Koubenec leitet die Brustsprechstunde im Immanuel-Krankenhaus in Berlin. »Jahrelang hab ich gedacht, ich sei der große Experte, und hab mich auf den Nutzen der Mammografie verlassen«, sagt der Gynäkologe über sich selbst. Doch dann habe er die kritischen Beiträge von Gigerenzer entdeckt. Koubenec wollte es »den selbsternannten Experten vom Max-Planck-Institut zeigen«, wühlte sich durch die evidenzbasierte Literatur - und musste erkennen, dass Gigerenzer recht hat.

Der Mediziner gibt zu, dass er das »wie einen Sonnenaufgang« empfunden habe, eine Befreiung von altem Denken und medizinischen Vorurteilen. »Heute muss ich sagen, dass ich manchen Frauen wohl geschadet habe«, sagt Koubenec.

»Ich habe Frauen ja schon mit 35 Jahren zur Basis-Mammografie geschickt, darüber rauf ich mir heute die Haare.« Seit er zum Skeptiker der Früherkennungsuntersuchungen geworden sei, werde er aber vom Berufsverband der Berliner Frauenärzte nicht mehr als Referent eingeladen. »Die Patienten halten Früherkennung für sinnvoll, die Ärzte verdienen gut daran, da stören Sie nur, wenn Sie den Nutzen in Zweifel ziehen.«

Koubenec hält das Screening mittlerweile für einen richtigen Industriezweig, von dem viele Leute profitieren. »Die haben natürlich keine Interesse, dass immer mehr informierte Frauen nicht zum Screening gehen.«

Industrienähe wird man Angela Spelsberg kaum vorwerfen. Die Medizinerin leitet das Tumorzentrum Aachen und sieht jeden Tag krebskranke Menschen. Auch Frau Spelsberg fühlt sich der evidenzbasierten Medizin verpflichtet, dennoch ist sie eine Verfechterin des Screenings.

Die Zahlen etwa der dänischen Forscher Gøtzsche und Nielsen bestreitet Spelsberg nicht. Eine oder zwei von 2000 Frauen, das höre sich zwar wenig an, aber man müsse das doch mal hochrechnen auf die Bevölkerung! Das seien mindestens 1000 Frauen in Deutschland, die jedes Jahr gerettet werden könnten.

Spelsberg ärgert vor allem, dass das Screening so halbherzig betrieben werde, dass auch mehrere Jahre nach Einführung allenfalls die Hälfte der Frauen zwischen 50 bis 69 Jahren eine Einladung erhalten, dass die Röntgengeräte nicht gut genug eingestellt seien, überhaupt, dass man nicht die europäischen Qualitätskriterien (Euref) anwende, sondern noch immer an den weniger hochwertigen deutschen Mammografie-Standards festhalte.

»Im Prinzip gilt der Satz: 'Lieber kein Screening als ein schlechtes'«, sagt selbst Frau Spelsberg. »Aber ich ziehe daraus den Schluss, für ein qualitativ hochwertiges Screening zu kämpfen.«

Die Medizinerin geht davon aus, dass durch eine Verbesserung der Qualität nicht nur eine, sondern fünf von 1000 Frauen vor dem Brustkrebstod bewahrt werden könnten. Es ärgere sie aber maßlos, dass in Deutschland ein qualitativ schlechtes Screening laufe, gegen das weder die Radiologen noch die Krankenkassen etwas unternähmen.

Und oft wissen die Ärzte selbst bei der Entdeckung eines Karzinoms in der Brust nicht, wie gefährlich oder risikolos es letztlich wirklich ist. Die Frauen wählen dann meist die sicherere Variante, also die Operation.

Mikrokalkablagerungen in den Milchgängen zeichnen sich nicht selten auf den Schirmen der Radiologen ab. Aber nur in einem Teil solcher Fälle wird daraus wirklich ein lebensbedrohlicher Tumor.

Mathematisch-statistisch lassen sich die Folgen solcher Probleme erst in etlichen Jahren großflächig erfassen. Die einzelne Patientin dagegen ist mit ihrer Entscheidung ganz allein. Deshalb sprechen sich Kritiker wie Befürworter für mehr Forschung und eine bessere Ausbildung der Ärzte aus.

Ähnlich schlecht laufe das Screening auf Gebärmutterhalskrebs, sagt Spelsberg: »Die Gynäkologen in Deutschland machen fünfmal so viele Abstriche wie im europäischen Durchschnitt, dennoch sterben bei uns mehr Frauen an Gebärmutterhalskrebs. Das ist eigentlich ein schlechter Witz.«

Sie sagt, Ziel der Früherkennung sei es nicht, das Leben um jeden Preis zu verlängern. Es gehe darum, eine möglichst hohe Lebensqualität bis kurz vor dem Tod zu erreichen. »Die Frage ist: 'Wie gesund werden wir sterben?'« Deshalb solle die Medizin eben möglichst frühzeitig eingreifen, nicht erst, wenn jemand schon krank sei.

Die größte Medienkampagne für ein Screening wird jedes Jahr in München geplant, im Büro von Christa Maar, der Ex-Gattin des Münchner Verlegers Hubert Burda. Von ihrem Fenster im zweiten Stock blickt sie auf einen Spielplatz, auf dem Kinder toben. Ihr eigener Sohn Felix starb im Alter von 33 Jahren an Darmkrebs. »Mein Sohn wollte, dass man sich darum kümmert, dass die Menschen keinen Darmkrebs mehr bekommen«, sagt Christa Maar.

2001, im Jahr seines Todes, gründete sie die Felix Burda Stiftung, die nun für die Darmkrebsfrüherkennung wirbt. 2002 hat die Stiftung erstmals den März zum »Darmkrebsmonat« ausgerufen. »Ich war damals in allen Talkshows«, sagt Frau Maar. »Wir haben eine Riesenkampagne aufgezogen.« Prominente wie Nina Ruge, Verona Pooth oder Michael Schumacher warben für die Vorsorge. Für keine Früherkennungsuntersuchung wird so viel getrommelt wie für den Darmkrebs-Check.

In diesen Tagen werben unter anderem Wladimir Klitschko und Sandra Maischberger auf Plakaten und Spots der Stiftung: »Gehen Sie zur Darmkrebsvorsorge - wie ich. Danach fühlt man sich besser.« Ende März moderierte Barbara Schöneberger im Berliner Luxushotel Adlon vor 300 geladenen Gästen die Abschlussgala. Das Burda-Blatt »Bunte« berichtete zwei Seiten lang unter der Überschrift: »Vorsorgen und feiern«.

Und selten war eine Lobbyorganisation so schnell so effizient: Ein Jahr nach dem Tod von Felix Burda beschloss der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), dass die Darmkrebsvorsorge von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt wird. Seither haben alle Männer und Frauen ab 55 Jahren das Recht auf eine Darmspiegelung (Koloskopie).

Christa Maar gibt zwar zu, dass es keine randomisiert-kontrollierte Studie gibt, die den Nutzen der Darmspiegelung belegt. »Aber sämtliche Ärzte, die ich kenne, sagen mir, dass so eine Studie nicht notwendig ist, weil der Nutzen völlig klar ist.«

Belegt ist der Nutzen bislang eigentlich nur für die Ärzte: Sie erhalten pro Darmspiegelung 193 Euro von den Krankenkassen.

Ingrid Mühlhauser bezweifelt dagegen, dass die Prozedur auch den Untersuchten nutzt. Die ausgebildete Fachärztin für Innere Medizin lehrt an der Universität Hamburg Gesundheitswissenschaften und beschäftigt sich seit Jahren mit Früherkennungsuntersuchungen.

Mühlhauser, obschon mit 55 Jahren mitten in der berechtigten Altersgruppe, war noch nie bei einem Screening und würde auch nicht gehen. Zur Darmspiegelung schon gar nicht.

Grundsätzlich könnte die Untersuchung zwar einen Nutzen haben, weil man eben Vorstufen zum Krebs, sogenannte Polypen, entdeckt, die im Darm sehr langsam wachsen, die man jedoch bei einer Koloskopie gleich mit entfernen kann. »Aber meine feste Überzeugung ist, dass der Schaden der Darmspiegelung den Nutzen bei weitem aufwiegt«, sagt Mühlhauser. »Deshalb ist die Kampagne zur Darmspiegelung verantwortunglos«, so ihr hartes Fazit.

Fachärztin Mühlhauser weist darauf hin, dass bei 10 000 Darmspiegelungen 30-mal eine schwere Blutung auftritt und 10-mal der Arzt unabsichtlich den Darm durchstößt. Zwei Teilnehmer davon sterben im Zusammenhang mit der Spiegelung.

Dazu kommen Komplikationen vor und nach der Untersuchung. Der Grund: Vor einer Spiegelung muss der Darm gründlich gereinigt werden, die Patienten dürfen 24 Stunden vorher nichts mehr essen und nur noch eine spezielle Flüssigkeit trinken. »Das ist gerade für Leute nicht unproblematisch, die schon an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung leiden.« Insgesamt seien die Nebenwirkungen der Darmspiegelung in randomisiert-kontrollierten Studien bisher aber nur unzureichend dokumentiert.

Stiftungsschirmherrin Christa Maar lässt sich von solchen Überlegungen nicht irritieren: »Bis 2015 wollen wir die Anzahl der Darmkrebstoten auf unter 15 000 senken, jetzt sind wir bei 26 000. Damit das gelingt, muss man aber sicherstellen, dass mehr Menschen als heute zur Darmspiegelung gehen.«

Maars Einfluss erstreckt sich bis in die Politik. So ruft in Hamburg der Senator für Gesundheit und Soziales, Dietrich Wersich (CDU), derzeit »in Kooperation mit der Felix Burda Stiftung« zur »Vorsorgekoloskopie« auf und schürt dazu unnötige Ängste. In einem von Wersich herausgegebenen Faltblatt kann man sein »persönliches Darmkrebsrisiko« testen. Wenn man nur den Punkt »Ich bin mindestens 55 Jahre alt und habe in den letzten fünf Jahren keine Darmspiegelung erhalten« mit Ja ankreuzt, hat man bereits 20 Punkte, was bedeutet: »Bei Ihnen besteht ein erhöhtes Risiko zum Darmkrebs. Wenden Sie sich an Ihren Hausarzt.«

Für die Gesundheitswissenschaftlerin Mühlhauser ist das Faltblatt »ein Hohn auf alle Bemühungen, Informationen wirklich zu verbessern«, zumal selbst die Anhänger des Screenings nur alle zehn Jahre zur Darmspiegelung raten.

Mit noch mehr Eifer als der Hamburger Senator geht Ulla Schmidt ans Werk: Die Gesundheitsministerin wollte bereits alle Leute bestrafen, die nicht an Früherkennungsuntersuchungen teilnehmen. Im Entwurf für die Gesundheitsreform 2007 hieß es, dass alle, »die an einer Krebsart erkranken, für die es eine Früherkennungsuntersuchung gibt und die diese Untersuchung nicht regelmäßig in Anspruch genommen haben«, nicht nur ein Prozent ihres jährlichen Bruttoeinkommens zu den Arzneimitteln zuzahlen müssen, sondern zwei Prozent. Wer nicht zur Vorsorge geht, soll also auch noch finanziell büßen.

Selbst das »British Medical Journal« berichtete unter der Überschrift »Deutschland will Krebspatienten bestrafen, die nicht zum regelmäßigen Screening gehen« über den Fall. Der Entwurf wurde trotz Protesten ins Sozialgesetzbuch V aufgenommen, wo er mittlerweile unter Paragraf 62 steht. Allerdings mit der Ausnahmeregelung, dass auch derjenige den Arzneimittelrabatt erhält, der sich lediglich über die Früherkennungsuntersuchung beraten lässt.

Welchen Druck die Vorsorgelobby ausüben kann, weiß auch Rainer Hess, der Vorsitzende des G-BA, des höchsten Gremiums im deutschen Gesundheitswesen. Er entscheidet, welche Behandlungen oder Arzneimittel von den Krankenkassen bezahlt werden - und welche nicht. Der G-BA entscheidet aber auch, welche Früherkennungen die Kasse übernimmt.

Die letzte wichtige Entscheidung dazu fällte er im Jahr 2008. Damals beschloss der G-BA, dass das Hautkrebs-Screening in Deutschland - als einzigem Land der Welt - eingeführt wird. Selbst sonnenreichere Staaten wie die USA oder Australien, in denen viel mehr Menschen an Hautkrebs sterben, haben sich bisher gegen ein solches Screening entschieden.

Dafür nun Deutschland. Jeder Krankenversicherte über 35 Jahren hat seit dem 1. Juli ein Recht darauf, dass sein Haus- oder Hautarzt alle zwei Jahre die gesamte Körperoberfläche nach verdächtigen Veränderungen absucht. Auch für diese Prozedur gibt es keine randomisiertkontrollierte Studie, die den Nutzen nachweist.

Beantragt wurde der Hautkrebstest von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Dann lief es wie immer: Der G-BA richtete einen Unterausschuss mit Experten ein, die den Nutzen prüften und eine Empfehlung abgaben. Um welche Experten es sich dabei handelt, wird nicht verraten.

Im Fall des Hautkrebs-Screenings war einer der maßgeblichen Experten Professor Eckhard Breitbart, ein Hautarzt aus Buxtehude. Als der G-BA entschied, das Screening in den Katalog der Krankenkassen aufzunehmen, räumte er zwar ein, es fehle »ein eindeutiger Beleg« dafür, dass die Untersuchung zu weniger Hautkrebstoten führe. Allerdings habe dem Gremium ein »Projektbericht« aus Schleswig-Holstein vorgelegen, der einen Nutzen behaupte.

Veröffentlicht ist dieser »Projektbericht« bis heute nicht, die Fachwelt konnte die Ergebnisse bisher also nicht diskutieren. Dafür kennt man den Autor: Es ist der Experte Breitbart, Mitglied im Unterausschuss, der mit über die Einführung des Screenings entschieden hat.

Der G-BA-Vorsitzende Hess sagt, dass es zuvor massiven Druck aus der Öffentlichkeit gegeben habe. »Die Hautärzte hatten jahrelang auf das Problem hingewiesen, und die Medien waren bereit, die Angst vor dem Hautkrebs zu schüren. Vor diesem Hintergrund ist auch die Bereitschaft der Kassenärztlichen Vereinigung gewachsen, das Screening zu unterstützen, trotz schwacher Evidenz.«

Nun kann man, wie meist rund um dieses Thema, argumentieren: Soll sich doch jeder so schützen, wie er es für richtig hält. Aber nützt das Hautkrebs-Screening überhaupt etwas?

Klaus Koch, Verfasser des Stiftung-Warentest-Buchs zur Krebsfrüherkennung, weist darauf hin, dass Hautkrebs grundsätzlich eine sehr seltene Todesursache ist. Von 10 000 Personen im Alter von 60 Jahren sterben nur 5 bis 10 in den darauffolgenden zehn Jahren an Hautkrebs. Außerdem sei es für Hausärzte, die diese Untersuchung ebenso wie Hautärzte durchführen dürfen, offenbar sehr schwer, den Krebs überhaupt zu erkennen.

Von 1000 Männern und Frauen, die sich der Früherkennung unterziehen, müssen demnach bis zu 340 Personen damit rechnen, einen auffälligen Befund zu bekommen, der sich als Fehlalarm herausstellt. »Die Nutzen-Risiko-Abwägung fällt daher eher negativ aus«, sagt Koch. »Die Kontrolle der Haut durch einen Allgemeinarzt oder einen Hautarzt ist zur Früherkennung von Hautkrebs nur wenig geeignet.«

Koch kommt nach kritischer Bewertung der meisten Gesundheitstests zu dem Fazit: »Wer nicht raucht, tut mindestens hundertmal mehr für seine Gesundheit, als er mit allen Früherkennungsmaßnahmen zusammen erreichen könnte.«

Zu welcher Lähmung in den Arztpraxen das Hautkrebs-Screening führen kann, beschrieb der Arzt Günther Egidi jüngst in der »Zeitschrift für Allgemeinmedizin«. Egidi, der auch Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin ist, rechnet vor, dass im Schnitt auf eine Praxis 2500 Einwohner kommen. Wenn davon 1800, die älter als 35 Jahre sind, das Screening über zwei Jahre hinweg in Anspruch nehmen, bedeutet es, dass der Arzt pro Quartal 225 Gesunde untersuchen muss. Um das Honorar von 21 Euro abzurechnen, muss er jeden Patienten aber 20 Minuten inspizieren. Umgerechnet heißt dies, dass Egidi jeden Tag allein 75 Minuten mit Hautkrebs-Screening befasst wäre.

Egidi betreibt als Hausarzt seine Praxis im Bremer Arbeiterviertel Huchting. Er ärgert sich, dass immer mehr Gesunde die Arztpraxen stürmen und auf alle möglichen Krankheiten gecheckt werden wollen. Für die wirklich Kranken bleibe dagegen weniger Zeit. Und Geld. »Für die Rundumbetreuung eines Patienten bekomme ich 13 Euro im Monat«, sagt Egidi, für einen Check-up könne er dagegen 30 Euro bei der Kasse abrechnen. »Ich mach das natürlich auch, wider besseres Wissen, weil ich das Geld einfach brauche.«

Neben den Ärzten profitiert vor allem die Pharmaindustrie vom Geschäft mit der Angst, jedenfalls wenn es um Vorsorgeimpfungen geht.

Im Jahr 2007 beschloss der G-BA beispielsweise, dass sich alle Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren gegen den durch humane Papillomviren (HPV) ausgelösten Gebärmutterhalskrebs impfen lassen können - ein Glücksfall für den Impfstoffhersteller Sanofi Pasteur MSD. Dessen Wirkstoff Gardasil schaffte es innerhalb weniger Monate zu einem der umsatzstärksten Arzneimittel in Deutschland: 38 Millionen Euro gaben die Krankenkassen allein im Jahr 2007 für Gardasil aus, für 2008 liegen noch keine Zahlen vor.

Ohnmächtig müssen die Krankenkassen sich dabei dem Diktat der Hersteller fügen, die für neue Medikamente in Deutschland den Preis nach Belieben festsetzen können. Reibach auf Rezept: So kostet die vollständige Impfung mit Gardasil in Deutschland 477 Euro, in Australien nur 287 Euro und in den USA 255 Euro.

»Auch bei der HPV-Impfung standen wir unter enormem Druck«, gesteht G-BA-Chef Rainer Hess. »Schon bevor die Impfung vom Robert-Koch-Institut überhaupt empfohlen wurde, hat die Techniker Krankenkasse sie für ihre Versicherten eingeführt. Wenn aber mal eine Kasse das einführt, folgen bald andere. Das führt zu einem so starken Druck, dass später die gesetzlichen Krankenkassen insgesamt die Impfung bezahlen müssen.«

Aber ist die HPV-Impfung wenigstens sinnvoll? Deutschlands oberster Gesundheitsbeamter Hess drückt es so aus: »Es gibt eben Entscheidungen, die nicht evidenzbasiert sind, sondern aus politischen Gründen gefällt werden.« Gebärmutterhalskrebs ist grundsätzlich sehr selten: Von 100 000 Frauen im Alter bis 44 Jahren stirbt eine pro Jahr daran. Von 100 000 Frauen im Alter von 60 bis 74 Jahren sind es 7. Immerhin schützt die HPV-Impfung vor zwei häufigen Viren, die erst Zellveränderungen und dann Gebärmutterhalskrebs auslösen können. Studien haben ergeben, dass von 100 Frauen, die geimpft wurden, nur ein bis zwei Prozent solche Zellveränderungen hatten. In der Gruppe der nicht-geimpften Frauen waren es dagegen zwei bis drei Prozent.

Doch selbst aus den Zellveränderungen wird nur in seltenen Fällen Krebs. Das Problem ist: In den vorhandenen Studien wurde die Wirksamkeit der Impfung nicht gegen Gebärmutterhalskrebs untersucht, sondern allgemein gegen das Auftreten von Zellveränderungen.

Die angesehene US-Fachzeitschrift »New England Journal of Medicine« kommentierte: »Die schlechte Nachricht ist, dass wir die Wirksamkeit der Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs nicht kennen.«

Die Pharmafirma Sanofi Pasteur MSD macht unterdessen munter Werbung für die Impfung. In einem von der Firma unterstützten TV-Spot erzählt Modedesignerin Jette Joop: »Als Mutter erlebe ich, wie schnell meine Tochter groß wird. Ich will nicht, dass Gebärmutterhalskrebs dieses Leben in Gefahr bringt.« Das sind Sätze, die jeden Vater und jede Mutter treffen.

Doch erstens gibt es keine Langzeiterfahrungen mit dem Impfstoff. Immer wieder treten Komplikationen bei Mädchen nach der Impfung auf. Ob sie in einem ursächlichen Zusammenhang stehen, ist ungewiss. Erst vor kurzem haben die spanischen Gesundheitsbehörden mehr als 70 000 Impfdosen Gardasil vom Markt genommen, nachdem zwei Mädchen nach der Impfung ins Krankenhaus mussten.

Ein Problem ist aber auch, dass die Werbung für die Impfung immer wieder einen hundertprozentigen Schutz vorgaukelt. Wenn nur ein Teil der Mädchen sich dadurch so sicher fühlt, dass sie beim Sex auf ein Kondom verzichten, könnte dies zu Nebenwirkungen führen, die den geringen Nutzen womöglich sogar aufwiegen.

Das PR-Getrommel für die Impfung ist vielen Wissenschaftlern mittlerweile viel zu laut. Vor wenigen Wochen haben 13 angesehene Medizinprofessoren einen offenen Brief an den Gemeinsamen Bundesausschuss geschrieben und auf fehlende Daten aus den Studien des Herstellers Sanofi Pasteur MSD hingewiesen. Ihrer Ansicht nach stehen die Studienergebnisse »in deutlichem Widerspruch zu vielen sehr optimistischen Verlautbarungen«.

Weiter heißt es: »Wir wenden uns dagegen, dass zur Gefährdung durch Gebärmutterhalskrebs mit falschen Informationen Angst und Schuldgefühle erzeugt werden.« Unterzeichnet wurde der Brief von Ingrid Mühlhauser sowie von Michael Kochen, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin, und Wolf-Dieter Ludwig, Krebsspezialist und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft.

G-BA-Chef Hess nimmt sich den Brief zu Herzen: »Selbst der Nobelpreisträger, der das erfunden hat, hat ja gesagt, dass die Impfung nicht evidenzgesichert ist.« Von der Impfkommission des Robert-Koch-Instituts fordert Hess nun eine Neubewertung der HPV-Studien. »Wenn der Nutzen womöglich so gering ist, muss man natürlich fragen, ob die Kosten noch in einem sinnvollen Verhältnis stehen«, sagt er. »Nach der Antwort des Robert-Koch-Instituts werden wir noch mal über die HPV-Impfung entscheiden.«

Sein wichtigster Berater ist dabei der Gesundheitsprüfer Sawicki. Das von ihm geleitete Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen hält sich streng an die Regeln der evidenzbasierten Medizin und verfasst für den G-BA Gutachten über Arzneimittel und Behandlungsmethoden. Sawicki steht dem Trend zu immer mehr Früherkennungstests ebenfalls skeptisch gegenüber.

»Screening macht ja nur Sinn, wenn es anschließend eine erfolgreiche Therapie gibt«, sagt der Mediziner. Doch die gibt es in vielen Fällen eben nicht. Häufig sei es deshalb so, dass man nur früher über die Krebserkrankung Bescheid wisse, ohne dass die Patienten dadurch länger lebten.

Dennoch blühe die Lobbyarbeit: Die Radiologen machen sich fürs Brustkrebs-Screening stark, Urologen für den Test auf Prostatakrebs, die Pharmaindustrie will Tests, mit denen man Diabetes früh entdecken kann, weil dann mehr Menschen Diabetes-Medikamente schlucken. Und Hersteller von Cholesterin-Senkern wollen einen möglichst frühen Check auf Blutfettwerte und einen niedrigen Grenzwert. Am Ende besteht die Gesellschaft nur noch aus Kranken und Demnächst-Kranken.

Was aber folgt aus all dem? Dass man nie mehr zur Vorsorge gehen soll, weil der Nutzen so gering ist oder Ärzte oft nur aus einer Mischung aus Nichtwissen und Gewinnstreben dazu raten? Sicher nicht.

Selbstverständlich kann und soll jeder Bürger weiterhin an all den Früherkennungsuntersuchungen teilnehmen, die er oder sie selbst für richtig hält. Aber er sollte so gut aufgeklärt werden, dass am Ende eine vernünftige Entscheidung möglich ist. Jeder sollte wissen: Wahrscheinlich gehöre ich zu den 999 von 1000 Menschen, für die es keinen Vorteil bringt. Vielleicht bin ich aber auch der eine von 1000, der durch die Teilnahme am Screening einem bestimmten Krebstod entgeht.

Menschen mit hohem Sicherheitsbedürfnis werden also weiter diese Untersuchungen auf sich nehmen. Aber sie sollten von ihren Ärzten fairerweise auch über die Risiken und Schadenspotentiale aufgeklärt werden. Und zwar ohne die bisher übliche Vorsorgeideologie, ohne Druck und den Appell an das schlechte Ge-wissen.

Peter Sawicki, der medizinische Diagnosen und Therapien streng wissenschaftlich nach ihrem Nutzen und Schaden beurteilt, sagt, dass es gleichwohl einen tiefverwurzelten Wunsch der Menschen gebe, ihr Schicksal zu erfahren. In der aufgeklärten Gesellschaft hätten sich dabei nur die Werkzeuge geändert. »Früher hat man Wahrsagerinnen befragt, den Flug der Vögel beobachtet, man blickte in eine Kristallkugel oder in den Kaffeesatz. Heute geht man zum Arzt und lässt sich Blut abnehmen.«

Sawicki: »Der Arzt soll einem bescheinigen, dass alles in Ordnung ist. Man versucht dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.« Gesunden Menschen Lebensmut und Hoffnung zu geben sei aber nicht Aufgabe der Medizin. Dafür sei die Religion da, meint er nüchtern. MARKUS GRILL

* Bei der Gala der Felix Burda Stiftung am 29. März im BerlinerHotel Adlon.

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