GROSSBRITANNIEN All you need is love
Als die letzte Stunde nahte, versammelte die Frau des großen Künstlers ihre Familie, um Abschied zu nehmen von ihren Lieben. Die Kinder versicherten die Todkranke ihrer immerwährenden Liebe, der Ehemann, von dem sie in 30 Jahren nur eine einzige Nacht getrennt gewesen war, versuchte, ihr das Sterben leichtzumachen.
»Du sitzt«, sprach er, »auf deinem wunderbaren Pferd, es ist ein schöner Frühlingstag, und wir reiten durch die Wälder. Überall blühen die Glockenblumen, und der Himmel ist wolkenlos blau.«
Die detaillierte Kenntnis vom Krebstod der Linda McCartney, mag er sich nun so friedvoll abgespielt haben oder nicht, verdanken die Briten nicht einem Genreschreiber von Familienidyllen, sondern dem trauernden Ehemann der Verstorbenen, dem Ex-Beatle Paul McCartney persönlich. Seine in fast allen Londoner Zeitungen in vollem Wortlaut (inklusive eines grammatischen Fehlers) wiedergegebene Verlustanzeige hatte Sir Paul mit einem »Ich liebe Dich, Linda« und gleich sechs »x« gezeichnet, dem gängigen Symbol für ungezählte Küsse.
Unbritisch? Nicht länger. Die traditionelle »stiff upper lip«, Ausweis einer Haltung, die auch schwerste Schicksalsschläge mit stoischem Gleichmut hinnimmt, scheint abgelöst durch die »trembling lower lip«, die zitternde Unterlippe, eine Gefühlsduselei, die das ganze Land erfaßt hat und derer sich niemand mehr schämen will: Heiße Tränen sind cool in New Labours neuer Gesellschaft.
Das jedenfalls behauptet ein Philosophieprofessor der Universität Bradford, der mit seinen Thesen zur Gefühlslage der Nation einen landesweiten Streit um britische Identität ausgelöst hat. Anthony O''Hear, 49, Ehrendirektor des Royal Institute of Philosophy, erkennt seine Landsleute nicht wieder: »Das Britannien unserer Väter und Großväter, das Britannien des Zweiten Weltkriegs« sei ersetzt worden durch ein »neues Britannien« - Labour-Land -, in dem jeder sein Herz auf der Zunge trage, in dem »die Gefühle, das Image und die Spontaneität die Vernunft, die Realität und die Zurückhaltung abgelöst« hätten.
Die angebliche Errichtung einer Volksdemokratie der Gefühle hält der Mahner für einen Ausbund von »Dekadenz«, und er schimpft: »Mitleid gilt mehr als Prinzipien, persönliche Befriedigung mehr als Bindungen und Anstand, und was Tony Blair ,das Volk'' nennt, zählt mehr als Rang, Tradition und Geschichte.«
Nun wäre die Philippika vermutlich sang- und klanglos untergegangen (zumal
* Am 2. September 1997 nach Dianas Tod.
sie in einem Essay-Bändchen erschien, in dem elf weitere, gleichermaßen empörte Warner unter anderem den Umweltschutz, die atonale Musik und verkommene Tischsitten als Belege für die »Sentimentalisierung der Gesellschaft« geißeln), hätte O''Hear sich nicht an einem nationalen Heiligtum vergriffen, um den Untergang des Vater- und Großvaterlands nachzuweisen. Der Inbegriff aller modernen Gefühlsseligkeit sei nämlich Diana, die vielbetrauerte »Königin der Herzen«.
Seit ihrer Kanonisierung nach dem tödlichen Autounfall Ende August 1997 hat niemand mehr gewagt, die kapriziöse Fürstin so heftig anzugreifen: Eine junge Frau geprägt von »kindlicher Egozentrik« sei sie gewesen, die »Personifizierung des Rousseauschen Prinzips«, nach welchem »die ersten natürlichen Gefühle stets die richtigen« seien.
Sogleich fielen die Glitterati des neuen Britannien über O''Hear her. Emotionaler Überschwang? Im »Evening Standard« rief Julie Burchill, eine Primadonna des Zeitgeists, zum Widerstand auf: »Wir wollen die Erinnerung an die unverbildeten und reinen Gefühle dieses Tages wachhalten und niemals wieder Sklaven einer Haltung werden, welche die Windsors stets als ihre Waffe mißbraucht haben.«
Aus Israel schaltete sich Blair, Schöpfer des Ausdrucks »Volksprinzessin«, in die Debatte ein. Wer den Briten falsche Sentimentalität über Dianas Tod vorhalte, müsse sich seinerseits den Vorwurf gefallen lassen, ein Snob zu sein, befand der Regierungschef. »Die Idee, daß die Gefühle für Diana irgendwie unbritisch seien, halte ich schlicht für absurd«, so der Premier, der in der Woche zuvor öffentlich bekannt hatte, daß die Liebe zu seiner Frau der »Grundstein« seines Lebens sei. Wie einst die Beatles schien auch er der Nation zu empfehlen: »All you need is love.«
Schon allein das Wutgeheul über die angebliche Diana-Schändung belegt, daß O''Hear mit seiner Diagnose, das Herz habe über das Hirn gesiegt, wohl nicht so unrecht hat. Wie im Amerika des Bill Clinton, der alle Welt wissen läßt, wie sehr er ihr Glück und ihren Schmerz teile, wird auch in Blairs Großbritannien Mitgefühl großgeschrieben. Oberschülern in Tel Aviv hat der Regierungschef vorige Woche erzählt, er habe sich zu seiner Nahost-Mission buchstäblich rühren lassen - durch den Hollywood-Film »Schindlers Liste«.
Blair, 44, Meister in der Kunst, die neue Empfindsamkeit seiner Landsleute zu nutzen, entwirft die Illusion einer sanfteren Nation, ohne mit den politischen Dogmen von Margaret Thatcher zu brechen, die für Mitgefühl in der Erscheinungsform des Sozialstaats gar nichts übrig hatte. Wenn also eingefleischte Thatcher-Anhänger schon nicht Blairs Politik ablehnen können, wollen sie ihm wenigstens vorwerfen, er habe aus den Briten Heulsusen gemacht.
* Am 2. September 1997 nach Dianas Tod.