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»Alle blicken wie gebannt auf den 23.«

Das verschämte Techtelmechtel der CDU mit der NPD und die aktuelle Diskussion um die populäre Ostpolitik könnte die Union den schon sicher geglaubten Wahlsieg in Baden-Württemberg kosten. Noch vor wenigen Wochen schien die FDP von einer schmerzlichen Niederlage bedroht, die zugleich das Bonner Regierungsbündnis gefährdet hätte. Nun rechnen prominente Freidemokraten mit einem Stimmenanteil von annähernd zehn Prozent.
aus DER SPIEGEL 17/1972

Die Regenten ordneten die totale Mobilmachung an -- zu Lande, zu Wasser und in der Luft.

In Mercedes-Kolonnen und im Bundesbahn-Sonderzug durchkreuzten Bonns Sozialliberale Deutsch-Südwest. Mit Hubschraubern und Charterjets fielen sie im Wahlkampfland Baden-Württemberg ein. Am Ruder der Bodenseedampfer »Konstanz« und »Reichenau« durchfurchten sie das schwäbische Meer.

SPD-Kanzler Willy Brandt stritt für seine Ostpolitik unter den Böllerschüssen des Heimat- und Trachtenvereins im Schwarzwaldstädtchen Hornberg ebenso wie auf dem nachtdunklen Rathausplatz zu Reutlingen. FDP-Außenminister Walter Scheel tafelte TV-gerecht auf dem Hofgut des Götz-von-Berlichingen-Nachfahren Gustav von Gemmingen im badischen Treschklingen und erklomm in Bad Rappenau das Dach des Kurmittelhauses, um von oben herab bei den Schwimmern im Bewegungsbecken für die Ostpolitik zu werben.

In 1126 Wahlveranstaltungen suchen Bonns Koalitionäre den -- nach dem

* In Balingen

Kandidaten-Rückzug der NPD -- scheinbar unbezwinglichen schwarzbraunen Kartelverband des CDU -Landesherrn Hans Karl Filbinger noch kurz vor der Stuttgarter Landtagswahl am 23. April abzufangen. Zwischen Neckar und Bodensee, im Schwarzwald und auf der Alb ist der Kampf um Bonn entbrannt.

FDP-Generalsekretär Karl-Hermann Flach umschrieb das Ziel: »Wir wollen dieser Republik das Schicksal eines europäischen Festland-Formosa ersparen.« Und Berlins regierender Sozialdemokrat Klaus Schütz warnte vor einem christdemokratischen Roll-back: »Die Baden-Württemberger müssen meinen Landsleuten die von der CDU mutwillig heraufbeschworene schwerste Berlin -- Krise aller Zeiten ersparen helfen.«

Vor Wochen noch schien die Niederlage der Sozialliberalen besiegelt. Die Bonner SPD/FDP-Mehrheit begann abzubröckeln, die Regierung Brandt! Scheel mußte eingestehen, daß etliche Reformvorhaben scheitern würden und die Teuerung kaum zu bremsen sei. Schließlich war auch noch Genossenzwist im Hause Schaumburg ausgebrochen. Die Koalition mußte fürchten, von den baden-württembergischen Landtagswählern die Quittung für die hausgemachte Bonner Regierungskrise zu bekommen: einen absoluten Wahlsieg der Christdemokraten, eine deutliche Niederlage der SPD und den Rausschmiß der FDP aus dem Stuttgarter Landtag.

Denn ein liberales Desaster im Südwesten könnte die Bonner Fraktion der Freidemokraten auseinandertreiben« der Koalitionsregierung im Bundestag die Mehrheit rauben, Kanzler Brandt samt Ostverträgen stürzen.

Die verhängnisvolle Kettenreaktion schien zwangsläufig, weil Baden-Württembergs SPD und FDP in schlechter Form angetreten waren. Sie mußten ankämpfen gegen einen demagogischen Filbinger, der die Angst seiner Landeskinder vor Russen und Rezession, Kriminellen und Kommunisten schürte. Der Landesvater in der tiefschwarzen CDU-Hochburg Saulgau (Bundestagswahl 1969: 74,5 Prozent): »Diese Sozialisten wollen Marxismus, Leninismus, Maoismus oder irgendeinen anderen Ismus an die Stelle dieses erfolgreichen Systems der humanen Leistungsgesellschaft setzen.« Landes-Großvater Kurt Georg Kiesinger dichtete in der Schiller-Geburtsstadt Marbach: »Es war der Bundeskanzler. der seinen Traumritt nach Osten machte, statt sich um die Dinge hier im Innern zu kümmern.«

Nahezu gelähmt versuchten die Sozialdemokraten mit dem biederen Innenminister und ehemaligen Mathematik-Lehrer Walter Krause als Spitzenkandidat gegenzuhalten. Noch im letzten Jahr gemeinsamer CDU/SPD-Regierung in Stuttgart hatte Kabinettschef Filbinger mit CDU-konformen Direktiven für die Haltung Baden-Württembergs im Bonner Bundesrat den SPD-Innenminister vor den sozialdemokratischen Parteifreunden bloßgestellt. Trotz der Niederlage vor vier Jahren -- damals rutschte die SPD von 37,3 auf 29 Prozent Stimmenanteil ab -- war die Parteispitze der südwestdeutschen SPD nicht aufgefrischt und aufgewertet worden.

Zu fein für den Gang in die Provinz waren sich die inzwischen in Bonn zu bundesweiter Reputation gelangten Südwest-Vertreter, Kanzleramtsminister Horst Ehmke und Entwicklungshilfeminister Erhard Eppler. SPD-Bundesgeschäftsführer Holger Börner resignierte: »Was langfristig versäumt wurde, kann man mit kurzfristigen Maßnahmen nicht mehr reparieren.«

Zusätzlich deprimierend mußte auf die Sozialdemokraten der marode Zustand der Freidemokraten, des Wunschpartners der Zukunft, wirken. Die Scheinblüte der südwestdeutschen FDP von 1968. als die Partei -- in Bonn in der Opposition, in Stuttgart mit dem liberalen Messias Ralf Dahrendorf

14,4 Prozent erobert hatte, war dahin. Die Enttäuschung über den Abstieg des Wunderprofessors mit der Knopfloch-Nelke nach Brüssel. die Umorientierung der Partei auf Scheels linksliberalen Kurs und die Annäherung an die SPD hatten die Protestwähler gegen Bonns Große Koalition -- die auf Dahrendorf fixierte politische Schickeria und die konservativen Traditionswähler aus Gewerbe und Bauernstand -- abgesprengt. Bei der Bundestagswahl 1969 bereits war die FDP-Wähler-Klientel auf 7.5 Prozent geschrumpft.

Einen Tiefschlag versetzte sich die Parteiführung selber, als sie in der konservativen Südwestecke der Republik statt des populären altliberalen Wahlkämpen Hermann Müller das bei der alten Stammwählerschaft unbeliebte Gespann aus dem schnodderigen Schnauzer Karl Moersch und dem exzentrischen Parteilinken Martin Bangemann präsentierte. Die Altliberalen aus Rems-, Affen- und Glottertal, die einst mit Reinhold Maier durch dick und dünn gezogen waren, drohten enttäuscht, zu der eigentlich unbeliebten Klerikal-Partei CDU abzuwandern und die Freidemokraten unter die Fünf-Prozent-Sperrklausel fallen zu lassen. Der vorsichtige Schwabe Eppler mit seiner »Liebe zu Zahlen« (Eppler über Eppler) kalkulierte, die Christdemokraten würden von ihrem einstigen Stimmanteil von 44.2 Prozent zwar vier Prozent verlieren, jedoch zwei Drittel der NPD-Wähler (1968: 9,8 Prozent) und ·die Hälfte der 14,4 Prozent FDP-Stimmen erben. Sie kassierten mithin etwa 53 Stimm-Prozente, weit mehr als sie zur absoluten Mehrheit der Mandate brauchen. Allensbach bestätigte die Eppler-Ängste mit einer Umfrage Ende März: »Spürbare Verbesserung der CDU-Opposition.«

Kanzleramtsminister Ehmke gab die Hoffnung auf: »Da ist für uns nichts mehr zu holen.« Und SPD-Stratege Herbert Wehner wagte nicht mehr daran zu glauben, daß die neu belebte ostpolitische Diskussion den Sozialliberalen in Baden-Württemberg neuen Auftrieb geben könnte: »Die Zeit bis zum Wahltermin ist knapp. Das verstehen die Leute nicht mehr.«

Doch Wehner irrte. Zu Ostern geschah das Wunder des Stimmungsumschwunges. Der drohende Untergang der SPD/FDP-Koalition und das mögliche Scheitern der Verträge mit Moskau und Warschau reaktivierten abgeschlaffte Wähler und Wahlkämpfer. Die Ostpolitik und die negativen Folgen einer Ablehnung der Ostverträge im Bundestag wurden -- für die Sozial- und Freidemokraten im letzten Augenblick -- zum Thema Nummer eins der gesamten Nation. Die im Wahlkampf auf Inflation und Kriminalität fixierte CDU geriet in die Defensive.

In der Kanzlerresidenz auf dem Bonner Venusberg bestürmten die Landes- und Bezirksvorsitzenden der SPD den wahlkampfmüden Brandt ("Wahlkampf ist nicht gerade meine Sache"), sich demonstrativ in Baden-Württemberg einzusetzen, und animierten ihn zu dem bundesweit kolportierten Versprechen, er werde notfalls »holzen«. Mitgerissen vom zweiten Kanzler-Anlauf, fand nun auch Krause, der sich auch heute noch ziert, SPD-feindlichen Befürwortern der Ostpolitik die FDP zu empfehlen: »Ostpolitik ist die einzige Chance für uns, diese Wahlen doch noch zu gewinnen.«

Die DDR erhöhte die Chance. Beide westdeutschen Fernsehprogramme feierten die Osterspaziergänge nach Ost-Berlin, Potsdam und Dresden als populäre Kostprobe auf eine erfolgreich abgeschlossene Ostpolitik des Kabinetts Brandt/Scheel.

Die- größte Überraschung boten die schon verloren gegebenen Freidemokraten. Ihre Anführer Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher, Karl Moersch und Karl-Hermann Flach rafften sich zu einer Marathon-Tournee durch die Heimat der Altliberalen auf.

Flankenschutz erhielten die sozialliberalen Werber von 140 Professoren und von evangelischen Bischöfen, die Wählerinitiativen organisierten und Aufrufe verfaßten. Ende letzter Woche rückten mehr als 200 prominente Historiker und Politologen eine Pro-.Ostvertrags-Annonce in vier überregionalen Tageszeitungen ein -- darunter so prominente und konservative Wissenschaftler wie der Tübinger Professor Hans Rothfels und der Göttinger Ordinarius Hermann Heimpel.

Sogar Ex-Arbeitgeber-Präsident Hans-Constantin Paulssen leistete direkte Landtagswahl-Hilfe und überwand seine Abneigung gegenüber der neuen F.D.P: »Wir brauchen diese FDP als Korrektiv gegen sozialistische Träumerei in der SPD. Und der bis dahin rückhaltlose Verfechter des Zweiparteien-Systems, der prominente Tübinger Politik-Ordinarius Theodor Eschenburg, überwand seine Abneigung gegen den FDP-Linken Martin Bangemann: »Ich schluck« die Krot.«

Als wertvollsten Verbündeten gewannen die bedrängten Freidemokraten ihre alte Zugnummer Hermann Müller zurück. Für das Versprechen, er werde in »einem sozialliberalen Stuttgarter Kabinett einen Ministerposten erhalten, zog Müller zugunsten der neuen FDP auf Altliberalen-Fang. General Flach frohlockte: »Das alte Schlachtroß wird wieder mobil.«

Listig durchstreifte Flach selber das für die FDP strategisch wichtige Remstal und ging den Altliberalen um den Bart: Aus ihren Reihen stamme doch jener Karl Georg Pfleiderer, der schon Anfang der fünfziger Jahre als einer der ersten jene Ostpolitik propagiert habe, die jetzt Walter Scheel im Namen der FDP vollenden wolle. Flach ist mit seinem Werbefeldzug zufrieden: »Wenn wär die Altliberalen nicht aktiviert hätten, wären wir im Arsch.«

Letzte -- unfreiwillige -- Wahlhilfe leistete die NPD mit ihrem Verzicht auf eigene Kandidaten und dem Aufruf an ihre Anhänger, Filbingers Christdemokraten zu unterstützen. Die CDU, die allzu gerne die braune Erbschaft antrat und ohne Skrupel -- so auf dem Rathausplatz zu Balingen -- die der NPD reservierten Plakatflächen beklebte, übersah in ihrem Eifer die Kehrseite des Geschäfts. Denn was sie an zusätzlichen NPD-Stimmen zu gewinnen hofft, setzt sie an fast gewonnenen altliberalen Stimmen wieder aufs Spiel. Die meisten der umworbenen. die es ohnehin Überwindung kosten würde, ihre Stimme den Christdemokraten anzuvertrauen, schrecken davor zurück, ein Bündnis der Klerikalen mit den Neofaschisten (siehe Seite 86) zu unterstützen.

Die Zuversicht, in Stuttgart zu überleben, hat die Freidemokraten »da unten schon ein bißchen besoffen gemacht« (Kanzleramtsminister Horst Ehmke). Euphorisiert prophezeite Genscher: »Ich halte jede Wette, daß wir das Bundestagswahlergebnis von 7,5 Prozent halten.« Müller griff höher: »Wir kriegen neun Prozent.« Und Rangemann griff noch höher: »Mehr als zehn Prozent sind nicht drin.«

Tatsächlich haben die Sozialliberalen in Baden-Württemberg die Außenseiterchance« der CDU doch noch die absolute Mehrheit abzujagen und selber die Regierung zu übernehmen. Ein Bonner Regierungsmitglied: »Es hängt möglicherweise an einem Mandat.« Landeskenner Krause konkretisiert: »Die Schlacht wird in Südbaden geschlagen. Wenn da die CDU einen Wahlkreis verliert, kann es klappen.« Selbst wenn es nicht klappt -- ein respektables Abschneiden der Freidemokraten am 23. April würde die Bonner Koalition stabilisieren, die Mehrheit für die Ostverträge sichern und Willy Brandt die Kanzlerschaft garantieren.

Wirtschafts- und Finanzminister Karl Schiller, der weiß, warum er sich im Wahlkampf von Baden-Württemberg nicht hat sehen lassen (Allensbach: Nur 28 Prozent der Südwest-Staatler sind mit seiner Politik einverstanden), um schrieb auf seinem Flug nach Santiago de Chile die Lage in der Bundeshauptstadt letzte Woche: »In Bonn herrscht High-noon. Keiner geht über die Straßen. Die Uhr wurde durch den Kalender ersetzt. Alle blicken wie gebannt auf den 23.«

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