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ENGLAND Alle erschießen

Die Insel wird wieder einmal vom Kontinent her bedroht: Die Tollwut greift an.
aus DER SPIEGEL 29/1976

Der Feind dringt von Osten vor. Frankreich ist überrollt, »nur noch 120 Kilometer«, warnte der britische Abgeordnete Gavin Strang die Briten, »steht er vor der Kanal-Küste entfernt«.

Im schottischen Edinburgh rückten Polizei-Scharfschützen aus, die BBC meldete in den Nachrichten »verdächtige Personen und Hunde in Wagen mit ausländischen Kennzeichen«. Im Unterhaus stellte der Parlamentarier Robert Adley fest: »Die gesamte Nation ist außerordentlich alarmiert.«

Nach Pakistanis. IRA-Terroristen und Porno-Händlern, die die britische Insel illegal zu erreichen suchten, rüstet Britannien nun gegen einen bösartigen Feind, der verborgen auf Segeljachten und Motorbooten, in Jets und Handtaschen über das schützende Gewässer reist: die Tollwut.

In einem Leitartikel forderte der »Daily Mirror« Gefängnisstrafen für Reisende, die versuchen, die Quarantäne-Bestimmungen zu umgehen, und ihre Tiere heimlich auf die britische Insel bringen. Nachdem Hafenarbeiter in Edinburgh beobachtet hatten, daß eine dunkelbraune Katze von dem norwegischen Schiff »Svinthun« gesprungen war, erhielten die Scharfschützen der Polizei den Befehl: »Erschießt alle streunenden Katzen im umliegenden Gebiet.«

2000 Mark Geldstrafe mußte ein Holländer entrichten, der seinen Pudel auf der Autofähre ins Land brachte, mit 3000 Mark Buße wurde eine Mexikanerin bestraft. Ein amerikanischer Student wollte für die Quarantäne seiner drei Wochen alten Katze »Joker« nicht bezahlen -- die Briten schläferten das Tier ein.

Das Landwirtschaftsministerium ließ 15 000 Plakate an die britischen Botschaften in den EG-Staaten senden, auf denen über die Tollwutbestimmungen des Landes hingewiesen wird. Der Kanalhafen Ramsgate engagierte einen Hundefänger. Das BBC-Fernsehen bereitet TV-Spots vor, in denen schockierende Bilder über die Folgen der Tollwut gezeigt werden sollen.

Denn: Ein halbes Jahrhundert ist England von dieser Seuche nicht mehr heimgesucht worden. Wohl registrierten die Behörden der Insel in den letzten 30 Jahren zehn Todesfälle durch Tollwut, nur, so vermerkte die »Sunday Times« zufrieden: »Alle Opfer wurden im Ausland gebissen.«

Je weiter aber sich die Tollwut über Frankreich und den europäischen Kontinent ausbreitet, desto mehr fürchten die Briten den illegalen Transport infizierter Tiere über den Kanal.

Und die Tollwut marschiert. In den letzten 30 Jahren hat sie die 1600 Kilometer von Ostpolen bis Westeuropa hinter sich gebracht. In Frankreich rechnet man mit einer Geschwindigkeit von 40 Kilometer pro Jahr.

In England müssen alle Säugetiere, die aus dem Ausland eingeführt werden, jetzt sechs Monate lang in einem der 40 britischen Quarantäne-Zentren verbringen, bevor sie akzeptiert werden. Für die Unkosten müssen die Besitzer aufkommen, die zuweilen mit Tonbandgeräten im Tierheim anreisen, um das Bellen ihrer Lieblinge aufzunehmen.

90 000 Tiere werden allein am Londoner Flughafen Heathrow monatlich untersucht. Derzeit warten 500 Hunde und Katzen und 24 Schimpansen auf den Transport ins Tierheim. Rennpferde und Zirkusunternehmen sind von den strikten Bestimmungen ausgenommen.

Ernsthaft gefährdet aber wurde durch die drakonischen Maßnahmen bislang nur die Existenz eines Zauberkünstlers: Ein Gaukler, der die Passagiere eines Luxusdampfers mit einer Maus unterhielt, mußte seinen Co-Künstler in Quarantäne geben: Das Tier ging ein.

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