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Artikel 3 / 79

»ALLE HABEN SIE MICH ENTTÄUSCHT, ALLE«

aus DER SPIEGEL 46/1966

Das »Ohne mich«, das die Stunde des

Volkskanzlers erfüllt, kommt wie ein Geschoß - abgefeuert auf alle, die so dringlich darauf gewartet haben, diese zwei Worte zu hören. Der Rückstoß bringt den Satzbau ins Taumeln, den Redner ins Stocken, die Zuhörer zum Verstummen. »Wer, im Falle einer ... ohne mich eine regierungsfähige Mehrheit zustande käme, dann Bundeskanzler wird ...«

Der dies sagt, ist Ludwig Erhard, wohnhaft am Tegernsee, ein Mann des Volkes, ein deutscher Talisman aus besseren Tagen, ein Amulett mit hohem Erinnerungswert, vielleicht für lange Zeit der letzte deutsche Regierungschef, der wirklich ein »Image« hat.

Aber die Szene seiner Abdankung ist ganz falsch gewählt, ist gar nicht Ludwig Erhards Szene: das glattgebohnerte Foyer vor den beiden Tagungsräumen der CDU/CSU-Fraktion im Bundeshaus, vollgestopft wie noch nie mit Journalisten, Scheinwerfern und Fernsehkameras, aufgeschüttet mit dem Geröll der Spekulation und der Kombination und übersät mit Zigarettenstummeln. Dabei müßte Nacht sein und offen Feld, vom Turm müßte es Zwölfe schlagen, ein sanfter Wind müßte durch die Gräser fahren und die Wolken müßten ziehen vor den guten Mond.

Dennoch will sich Traurigkeit verbreiten. Wo es vor kurzem noch nach Nemesis roch, wallt jetzt ein Duft von Räucherstäbchen. Selbst die Diadochen tragen zum Dolch vorübergehend eine Träne im Knopfloch und schämen sich auch nicht, von menschlicher Tragik zu sprechen. Der Chor dieser Tragödie beschattet die Augen, blickt dem abgehenden König nach und murmelt ergriffen: »Erhard humanum est.«

Doch was sich so erhaben darstellt, ist nichts weiter als Erleichterung: Das Aufatmen einer perhorreszierten Mannschaft, die knapp vor der offenen Meuterei erkennen darf, daß der Kapitän die irre Absicht, den lecken Kreuzer auf Grund zu setzen und zusammenschießen zu lassen, aufgegeben hat und sich anschickt, von Bord zu gehen.

Gehabt hat Ludwig Erhard diese Absicht wirklich, aber nicht lange.

Als ihn am Donnerstag der vorletzten Woche in einer Sitzung des Fraktionsvorstands die Kunde ereilte, daß seine Regierung am Austritt der freidemokratischen Minister zerbrochen sei, reagierte er zuerst überhaupt nicht. Die schrille Dissonanz dieser Nachricht hatte ihn, dessen Gehör auf schlichte Harmonien gestimmt ist, betäubt. Das Spiel war aus, aber er wußte es nicht, denn er hat die Regeln nie anerkannt. Er war überzeugt, Mendes Männer würden zurückkehren, alles werde wieder ins Lot kommen, wohin es von Natur doch gehöre.

Ludger Westrick, der Erhards Glauben an das vorgegebene Gleichgewicht der Weltordnung zwar bewundert, aber nicht teilt, war ihm in dieser Stunde zu fern, um helfen zu können. Er hatte längst zum ehrenvollen Abgang geraten, war selber, nicht ohne Enttäuschung, vorangegangen. Nun blieb er in der Kulisse und überließ den Platz an der Seite Erhards einem plötzlich dort aufgetauchten, jählings reaktivierten Kanzler-Freund: Gerhard Schröder. Wenn alle die anderen Kanzler -Freunde kamen, war dieser immer schon da.

Und erst als Ludwig Erhard klarwurde, daß die falschen Freunde das Spiel im Grunde bereits ohne ihn machten, rebellierte seine Redlichkeit.

Das war am vorletzten Freitag, als ihm Franz-Josef Strauß kaum verschlüsselt zu wissen tat, daß er, der Kanzler Erhard, fertig sei. Da schlug er zurück. Mangels besserer Argumente bediente er sich aus Gerhard Schröders bereitwillig geöffnetem Zettelkasten und drohte an, mit Hilfe des Grundgesetzes so lange zu regieren, bis die CDU samt allen zerstrittenen Diadochen im Strudel von Mißtrauensvotum, Parlamentsauflösung und Neuwahlen für ihre Treulosigkeit bestraft werde.

Aller Abscheu, den Ludwig Erhard jemals gegen die »Funktionäre« empfunden hat, die das Volk verführen, entlud sich in dieser Reaktion, auch aller Widerwille gegen eine Partei, in der die widerstreitenden Interessengruppen sich seiner bemächtigt hatten, solange er noch den Erfolg symbolisierte. Nun, da sie ihn und seinen Mißerfolg loswerden wollten, kam ihn finster die -Versuchung an, sie alle im Namen einer höheren Gerechtigkeit zum Teufel zu schicken.

Aber erst einmal entfloh er ihnen, entsagte ihren Spielregeln, entkam ihren Einflüsterungen. Vor den angstvoll geweiteten Augen seiner Partei zog der moribunde Minderheitskanzler, der Verlierer der nordrhein-westfälischen Landtagswahlen, von neuem in den Wahlkampf.

Er tat es nicht, um der CDU/CSU die Wahlen zu gewinnen; in Hessen hätte er das selbst in jenen besseren Tagen nicht gekonnt. Er tat es, um Kraft zu gewinnen für sich selber, um Bonn zu

entgehen, das ihm nur noch Verwirrung bedeutet, um neuen Mut zu finden und einen klaren Entschluß. Denn was dem Libyer Antäus* die Berührung mit der kraftspendenden Erde bedeutete, das bedeutet dem Franken Erhard die Begegnung mit dem Volk.

»Was bin ich froh, aus Bonn 'raus zu sein«, sagte er damals in Nordrhein-Westfalen, wo es wahrlich nicht bloß Beifall für ihn gab. »In Bonn kann ich mich auf keinen mehr verlassen. Alle haben sie mich enttäuscht, alle.« Und jetzt in Hessen, wo es an Mißfallen gleichfalls nicht mangelte, fügte er, abends im Sonderzug vor einem dunkelbraunen Whisky, hinzu: »In Bonn, das sind alles Intriganten. Aber hier das Volk, das glaubt noch an mich.« Diese Wahlreise, auf der ihn brüllende Lautsprecherwagen der SPD, platzende Luftballons und das Trompetensignal aus »Verdammt in alle Ewigkeit« verfolgten, empfand er als »wahres Labsal«.

Ludwig Erhard bleibt ein Volkskanzler selbst noch in der Niederlage. Sein Verhältnis zum deutschen Volk ist ungebrochen. Denn anders als sein Verhältnis zur Partei ist es keineswegs nur vom Erfolg bestimmt. Den Ärger des Volkes über Erhards politischen Mißerfolg überlebt die gemeinsame Abneigung gegen Politik überhaupt. Die Enttäuschung über Erhards versagende Wunderkraft wird gemildert durch das Mitleid für den verwundeten Wohltäter, dessen offenkundige Verletzlichkeit stets zu seinen stärksten Attraktionen gehört hat. Ludwig Erhard und das deutsche Volk haben zumindest immer Entschuldigungen füreinander gefunden.

»Das waren nicht die deutschen Arbeiter«, befand er, nachdem ihn in Gelsenkirchen »schamloses Gesindel« ausgebuht hatte, »schauen Sie sich doch einmal die Photos an. Lassen Sie sich erzählen, was mir zugerufen wurde. Das ist nicht wiederzugeben.« Und das »brave, schwer arbeitende Volk«, das er im Sinn hat, tut so was nicht. Auch nicht im roten Hessen, wo es halt mehr »extreme, straff organisierte Gruppen der Linken« zu geben scheint.

Enttäuschungen - die freilich hat er erlebt, die Enttäuschung darüber zum Beispiel, daß niemand maßhalten wollte. »Wenn ich ernüchtert bin, dann nur darüber, daß niemand bereit ist, freiwillig etwas zu tun, sondern eben nur unter Zwang.« Aber auch dafür hat er eine Entschuldigung: »Wenn dieses Volk dauernd von Interessenvertretern berieselt wird, wer macht sich dann noch die Mühe nachzudenken? Es ist ja kaum jemand da, der noch ein bißchen Zivilcourage hat.«

Also hat ihn auch der abhanden gekommene Wahlerfolg nicht irremachen können am deutschen Volk. An diesem Erfolg gemessen hat ihn ohnehin bloß die ungeliebte Partei; sie hat ihn zur »Lokomotive« gemacht. Sein eigenes Gefühl der Identifizierung mit dem Volk ist viel inniger. Als er der jubelnden Minderheit in Hessen zurief: »Ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen Mut zu machen ... seien Sie nicht kleingläubig«, da meinte er im Grunde sich selber.

Doch der Mut, den er sich auf dieser Reise zwischen Buh und Beifall machte, war nicht der Mut, in aussichtsloser Lage durchzuhalten. Der Glaube, den er in Sympathiekundgebungen der Unentwegten wiederfand, war nicht der Glaube, über die Partei obsiegen zu können. Denn beides hat er nie besessen, hat es in Wahrheit nie besitzen wollen.

In Bonn zurück, wieder ausgeliefert an die Wirklichkeit, beugte er sich bald der Übermacht, wie er es am Ende immer getan hat, wenn die Politik ihre Ansprüche gegen ihn geltend machte.

Es war der Mut zum Vermächtnis, was er sich von dieser letzten Begegnung mit seinem Volk mitgebracht hatte, war der Glaube an den Nachruhm eines Kanzlers, von dem dies Volk gar bald würde sagen müssen: Denn er war unser.

»Ich lasse mir nicht einreden«, entschied Ludivig Erhard vergangene Woche in seinem Bungalow, dessen introvertierte Wohnzellen wohl keinem aller denkbaren Nachfolger erträglich sind, »ich lasse mir nicht einreden, daß man das deutsche Volk nicht zur Vernunft bringen kann. Ich lasse mir nicht einreden, daß man Demokratie in Deutschland nur mit Zwang verwirklichen kann.«

Dies Volk, mit anderen Worten, soll sich erinnern, daß es wenigstens einmal in seiner Geschichte einen Kanzler hatte, der so fest an das Gute im deutschen Menschen glaubte, daß er es unternahm, die natürliche Harmonie des Ganzen wachsen und sich entwickeln zu lassen - auch wenn er es nicht vermochte.

Solchermaßen gestärkt im Glauben, tritt der Volkskanzler mit neuem Mut den Rückzug nach vorne an.

So begegnet, seines Nachruhms gewiß, Antäus Erhard dem Herakles BarzeL

* Antäus, der Sohn des Poseidon und der Gäa, war nach der Sage im Ringkampf unbesieglich, solange er seine Mutter, die kraftspendende Erde, berührte. Heraktes überwand ihn, indem er ihn vom Boden aufhob und erwürgte.

Süddeutsche Zeitung

Und der Wind pfeift durch die Hallen

Hermann Schreiber
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