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Artikel 28 / 84

»ALLE SIND MITEINANDER INS BETT GESTIEGEN«

aus DER SPIEGEL 18/1969

Nach seiner grundsätzlichen Einstellung zum Sexuellen befragt, gibt er zur Antwort: »Das bejahe ich -- aber nicht in der Tat, sondern im Geist.« Er sieht auf die Spießer herab. Doch er verteidigt sich wie ein Spießer. Ein »rein geistiges« Verhältnis zum Sexuellen ist kein geklärtes Verhältnis zum Sexuellen. Eine derartige »Bejahung« ist dumm oder unaufrichtig.

Im August oder September wird die Verhandlung gegen Erich Bender, den 55 Jahre alten Gründer des Kinderchors beim Norddeutschen Rundfunk, von vorn beginnen müssen. Am Montag vergangener Woche brach der Prozeß zusammen, nachdem Max Goldberg, der Verteidiger Benders und seiner mit ihm angeklagten Adoptivtochter Carola, 28, das Mandat niedergelegt hatte.

Die weiterhin offene Strafsache gegen Erich und Carola Bender verlangt Rücksicht. Bender wird Unzucht mit Abhängigen, mit Angehörigen des von ihm geleiteten Mädchenchors, seiner Adoptivtochter Kuppelei vorgeworfen.

Doch Rücksicht verdienen auch die von den beiden Angeklagten der Lüge bezichtigten Zeuginnen, die vor der Aussetzung des Prozesses gehört wurden. Noch einmal werden sie aussagen müssen.

Es geht in der Strafsache gegen Erich und Carola Bender um harte Tatbestände nach geltendem, wenn auch nicht unbestrittenem Gesetz.

Erich Bender wurde am 5. Mai 1913 in Frankfurt geboren. 1932 machte er das Abitur. Vom Konservatorium wurde er schon während der Schulzeit aufgenommen. Er hat das germanistische Staatsexamen abgelegt. Seit 1936 arbeitete er mit Kinderchören in Berlin. 1939 heiratete er, 1939 wurde er Soldat. Er war »Soldat an allen Fronten«. 1942 entkam er aus Stalingrad.

Zeitweise gehörte er einer Propagandakompanie an. Er hatte den Auftrag, das Orchester der Mailänder Scala wieder zusammenzustellen. Abfällige Bemerkungen über das Dritte Reich setzten ihn Verfolgungen aus, denen er nur mit Glück entrann. Im August 1945 wurde Erich Bender von den Engländern an den Hamburger Sender geholt. Er begann mit dem Aufbau des Kinderchors, der 1965 sein 20jähriges Jubiläum in der Hamburger Musikhalle feiern konnte.

Ein stattliches Stück Biographie -- in das jäh die Frage bricht: »Wie sind Sie sexuell mit Ihrer Frau zurechtgekommen?« Eine solche Frage kann übel gestellt werden. Doch der Vorsitzende, der Landgerichtsdirektor Günther Olters, 41, stellt sie im Kammerton. Es ist nichts an dieser Frage auszusetzen. Sie ist erforderlich für die Aufklärung. Später, in irgendeiner Zeitung, mag sie roh, mag sie unangemessen klingen. In der Sitzung zweifelt niemand unter den Beobachtern an ihrer Berechtigung und Notwendigkeit.

»Ich bin sehr glücklich«, sagt Erich Bender von seiner Ehe. »Habe nie bereut, daß ich meine Frau geheiratet habe Erich Bender holt weit aus: »Ich habe einen Beruf, der aufgebaut ist auf der Phantasie. Ich bin Komponist Erich Bender teilt mit: »Der Einfall ist ein Geschenk Gottes.« Bender ist »nie interessiert gewesen im Leben, die Außenwelt ernst zu nehmen«. Auch nicht in »sexueller Hinsicht«.

Erich Bender äußert sich über den Geschlechtsakt.« In jeder Wiederholung liegt eine Ermüdungserscheinung.« Und etwas übergangslos fährt er fort: »Die einzige Erholung war für mich meine Frau.« Er sagt: »Ich muß irgendwie, was ich empfinde, darstellen,.. Dinge, die mich erfüllen, müssen heraus. Daher erfinde ich Musik, schreibe ich Briefe Er hat Briefe verfaßt und angeregt, die man »eindeutig« zu nennen pflegt.

»Ich habe keine sexuellen Photos gemacht«, erklärt Erich Bender. Gleich darauf räumt er jedoch ein, gewisse Photos von ihm und seiner Frau seien unmittelbar nach Kriegsende in der Absicht entstanden, »eine Dokumentation herzustellen«. Er werde diese Bilder wohl doch selbst aufgenommen haben: »Wer kann das sonst gewesen sein.« Erich Bender erklärt sich über das Lebensgefühl, aus dem heraus diese Photos entstanden: »Aus der Freude des Daseins, der Hölle entronnen zu sein.

Erich Bender über seinen Chor: »Ein Chor ist wie ein Orchester.« Über die Mitglieder des Chors: »Es gibt Mädchen, die ich länger halte. Mädchen mit Stimmführerfunktion.« Laufend wurde der Chor erneuert. »600 bis 800 Mädchen sind durch meine Hände gegangen. Natürlich nur musikalisch.« Die »Mädchen mit Stimmführerfunktion« sind ein kritischer Punkt. Die Anklage nimmt an, Erich Bender habe mit der Zuteilung oder Entziehung besonderer Funktionen innerhalb des Chors einen Druck ausgeübt.

Erich Bender zu den einzelnen Vorwürfen, die ihm gemacht werden. Er ist »letzten Endes unvorbereitet von dieser Zusammenrottung (der gegen ihn aussagenden Zeuginnen) überfallen worden«. Er hat eine Erklärung dafür, daß Aussagen gegen ihn gemacht worden sind: »Ich kann es mir nur so erklären, daß alle diese Mädchen ihr Versagen auf mich abwälzen wollen.«

»Alle, die mich anzeigten, sind im Streite aus dem Chor fortgegangen. Alle sind im Beruf oder im Leben gescheitert.« Das ist nicht ganz korrekt, die Anspannung mag es entschuldigen: Im Namen einer minderjährigen Zeugin hat die Mutter Anzeige erstattet. Die anderen Zeuginnen sind im Zusammenhang mit Ermittlungen in diesem einen Fall verhört worden. Sie haben nicht angezeigt.

Wie auch immer: Erich Bender sieht sich als Opfer einer Verschwörung. Und für das Scheitern der Belastungszeuginnen in Beruf und Leben und für ihr Ausscheiden aus dem Chor im Streite weiß er viel vorzubringen. Das eine Mädchen mußte scheitern, »denn sie ist nicht in der Lage gewesen, einen Dreivierteltakt zu dirigieren«. Schon deshalb kann er ihr niemals eine besondere Funktion innerhalb des Chors versprochen oder gar anvertraut haben. Die Zeugin hatte »eine Art, sich mir anzuschließen ... Sie hatte eine Neigung zu servilen Handlungen, die ich nicht mochte«.

Zu einer anderen Zeugin hat Erich Bender »überhaupt keinen Kontakt gehabt. Sie war bei uns das Chordoofchen«. Auf ihre Stimme konnte Erich Bender jederzeit verzichten. Der Beobachter allerdings hat wenigstens ein brillantes Solo dieses Chordoofchens im Ohr. »Völliger Unsinn« sind für Erich Bender die Aussagen der Mädchen. Nie ist er abends ins Zimmer seiner Tochter zum Gute-Nacht-Sagen gegangen, wenn in deren Bett ein Chormitglied schlief, das über das Wochenende zu Besuch gekommen war.

Es kann also nicht sein, daß er irgendeinem neben seiner Tochter im Bett liegenden Mädchen das Oberteil des Schlafanzugs hochgestreift, die Brust berührt und gefragt hat, ob und wie das Mädchen das empfinde.« Alles Unsinn«, sagt Erich Bender, ein Hiob unter der Geißel des Herrn, ratlos und empört, daß ihm solche Nachstellung widerfährt. Geschlechtsverkehr mit minderjährigen Chormitgliedern hat er nie gehabt.

»Konfus, erfunden, erlogen«, klagt Erich Bender. »Alles Unsinn, Phantastereien, frei erfunden«, beschwört er das Gericht. Natürlich hat er innerlich über den Gesang hinaus an den Chormitgliedern Anteil genommen. Er will vorsichtig gewesen sein »damit, Chormitglieder überhaupt in unser Haus zu bringen«.

In der Familie Bender ist es frei hergegangen. Gerade die Zeuginnen, deren Aussagen Erich Bender belasten, sprechen voll Bewunderung von der offenen Atmosphäre im Hause Bender, davon, wie unbefangen Benders leibliche Kinder, ein Sohn und eine Tochter, erzogen wurden. Es ist nicht autoritär zugegangen bei Benders. Und warum soll die Familie nicht auch insgesamt, die Hausgehilfin eingeschlossen, der Freikörperkultur anhängen. Doch ist Erich Bender wirklich vorsichtig mit der Einladung von Chormitgliedern gewesen? Er will darauf hinaus, wenn Chormitglieder über das Wochenende gekommen seien, dann seien sie so gut wie immer als Freunde seiner Kinder, als Freunde seiner Adoptivtochter gekommen.

Er übersieht, daß die Anklage gerade darin ein besonders fatales Moment erblickt. Daß sie annimmt, Erich Bender habe sich seiner Kinder bedient. Dieser Verdacht ist nicht völlig von der Hand zu weisen. Denn in der am dritten Tag ausgesetzten Hauptverhandlung bedient sich Erich Bender auch seiner Tochter Christiane. Von ihr findet sich in den Prozeßakten ein verblüffendes Photo. Die Tochter tritt als Zeugin auf, verzichtet auf ihr Aussageverweigerungsrecht und behauptet, sie habe dieses Photo im Alter von zwölf Jahren mit Hilfe eines Selbstauslösers und eines Stativs angefertigt.

Das ist ein gräßlicher Augenblick. Von einem Stativ herab, das sich ja nicht auf Bodenhöhe bringen läßt, kann dieses Photo nicht entstanden sein. Wäre tatsächlich derart photographiert worden: Es müßte das an gewissen Verschiebungen auf dem Photo zu sehen sein.

Auch Frau Bender sagt als Zeugin aus. Wenigstens ein Photo zeigt sie unbekleidet mit einem unbekleideten, minderjährigen Chormitglied. Das soll nur ein »Spaß« gewesen sein. Es liegen allerdings auch Aussagen vor, nach denen Frau Bender dabei war, wenn Erich Bender sich junger Choristinnen annahm. Um Erich Bender herum fallen und stürzen die Menschen seiner nächsten Umgebung. Mit seiner Adoptivtochter war nie etwas. Daß er in einem Brief an sie von dem »ehelichen Leben« schreibt, da's man 14 Tage lang miteinander geführt hat, soll allein darauf zurückzuführen sein, daß Carola ihm Diät kochte.

Selbstverständlich besteht auch Carola Bender darauf, daß nichts war. Immer wieder versucht sie, dem Vater zu soufflieren. Der Vorsitzende muß energisch werden. Carola hat einem Freund, der »den Herzenswunsch« hatte, einmal mit zwei Mädchen zusammenzusein, ein minderjähriges Chormitglied zugeführt. Beherrscht schildert sie eine Dreierszene im Stil Casanovas.

Scharf greift sie die drei »lügenden« Zeuginnen an, die das Gericht an zwei Tagen hört. Ihre Attacken haben eine katastrophale Wirkung. Denn diese drei Zeuginnen mögen sich in Details irren. Doch diese Zeuginnen überzeugen auf eine rührende Weise. Sie bewundern den Chorleiter Erich Bender noch immer. Sie »verachten (nur) den Menschen«. Die eine, hart angefaßt, denn ihre Aussage kann für Erich Bender verheerende Folgen haben, beteuert, sie wolle den Angeklagten nicht ins Zuchthaus bringen: »Schließlich war er mein erster Mann.« Die Zeuginnen geraten allenfalls in Harnisch, wenn Carola so garstig wird, wie das nur Frauen untereinander können. Erst von Carola attackiert, sagt eine Zeugin über die Zustände im Hause Bender: »Die sind doch alle miteinander ins Bett gestiegen.«

Übereinstimmend, eine jede in ihren Worten, erklärten die Zeuginnen, warum sie nicht seinerzeit, als die zur Verhandlung stehenden Dinge geschahen, Alarm schlugen. Sie hätten, sagen sie, ja nicht gewußt, daß dergleichen nicht in Ordnung war. Erst später hätten sie erkannt, wie anders das sein könne. Ihnen ist als üblich und selbstverständlich vermittelt worden, was sie erst später wirklich beurteilen konnten. Sie haben damals einen erfolgreichen, bewunderten Mann erlebt, einen Mann, der für sie ein Künstler war, einen innerlich freien, unabhängigen Menschen mit anderen, höheren Maßstäben.

Der Mann mit dem besonderen Maßstab will heute nur Durchschnitt sein. Wie alle anderen will er sich verhalten haben. Allenfalls hat er Späße gemacht. Vor allem war er um menschliche Führung und Teilnahme bemüht. Er »ist mißverstanden worden. Er wird verleumdet. Erich Bender schont niemand. Er kämpft mit dem Rücken zum Vesuv wie Teja. So macht er es, bislang jedenfalls, unmöglich, darüber zu sprechen, ob ihn tatsächlich alles belasten muß, was die Anklage gegen ihn vorbringt.

Die Reformbedürftigkeit des Sexualstrafrechts schreit zum Himmel. Bis zu welchem Alter ein Schutz durch das Gesetz erforderlich ist, steht dahin. Es lst zu klären, ob und wann ein Schaden tatsächlich angerichtet wird. Die »Unzucht mit Abhängigen« ist ein verschwommener, mit billigen Emotionen beladener Tatbestand. Es könnte sein, daß erst die gerichtliche Verfolgung zu Schäden führt. So wie die Welt mit ihren Kindern umgeht, ist es ein Hohn, wenn sie aufschreit« es habe sich einer an einem Kinde »vergriffen«.

Hätte Erich Bender wenigstens von der Zone des möglichen Mißverständnisses gesprochen, in die er sich leichtfertig begeben hat. Hätte er wenigstens angedeutet, daß er über gutgemeinten Bemühungen den Überblick, die Kontrolle, das Trennungsvermögen verlor. Wäre ihm wenigstens abzuringen gewesen, daß er seine dominierende, für die Chormitglieder gottvatergleiche Rolle nicht erkannte.

Am dritten Tag legte Verteidiger Max Goldberg das Mandat nieder. Er entspräche damit einem Wunsch beider Angeklagten. Selbstverständlich sei er weiterhin von der Unschuld seiner Mandanten überzeugt. Der Rechtsanwalt Max Goldberg ist der Rechtsanwalt Max Goldberg. Es ist nicht zu ersehen, warum seine Art der Verteidigung die Angeklagten überraschen konnte. Herr Goldberg hat die Gewohnheit, in derartigen Prozessen vornehmlich gegen die Presse zu verteidigen. Auch in der Strafsache Bender forderte er am zweiten Tag, wie weiland im Prozeß gegen den Party-Krüger, den Ausschluß der Presse. Für Herrn Goldberg kommt das Unglück für seine Mandanten in derartigen Prozessen von der Presse. Doch Herr Goldberg hat die Benders unangenehm überrascht.

Der Norddeutsche Rundfunk bat in der vergangenen Woche den Kinderchor aufgelöst, da er nicht länger auf die rechtliche Erledigung der Strafsache Bender warten kann. Eine Entscheidung, der kein Gran Spießigkeit oder Vorwegnahme des Urteils anhaftet. Niemand will die Uhr zurückdrehen. Nur wenige bestreiten noch die Reformbedürftigkeit des Sexualstrafrechts.

Gerade ein Mann wie Erich Bender müßte sich von der spießigen Vorstellung befreien, nur in erbittertem Bestreiten läge sein Heil. Vorerst läßt er nicht mit sich reden über die Dinge, über die man reden könnte. Vorerst hat er das Gericht, das alles in allem nicht moralisierend verfuhr, sondern still und betroffen, nicht anerkannt. Sein Chor hat Freude bereitet. Man möchte ihm helfen, er ist in Not. Doch er klagt nur -- »Lüge, Lüge, Lüge.«

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