Alle Staatsgewalt geht dem Volk aus
Schneider, 52, ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht und Leiter der »Forschungsstelle für Zeitgeschichte des Verfassungsrechts« an der Universität Hannover.
Unter Dach und Fach« seien die »wichtigen Sachen« beim Einigungsvertrag, behauptete noch letzte Woche DDR-Chefunterhändler Günther Krause im SPIEGEL-Gespräch. Nichts davon stimmt. Es gibt weder ein sicheres Dach noch feste Mauern im Fachwerk.
Nahezu alle wesentlichen Fragen sind ungeklärt und werden in den nächsten Wochen entweder durch Formelkompromisse überdeckt oder ausgeklammert, also der Entscheidung des gesamtdeutschen Parlaments überantwortet.
Vor allem enthält der jetzige Vertragsentwurf mehr Widersprüche und verfassungspolitischen Streitstoff als weitsichtige Richtlinien für die Zukunft, mit deren Hilfe die Lebensverhältnisse im Land rasch angeglichen werden könnten. Manche Floskel dient nur als Bemäntelung dafür, daß etwas eben nicht geregelt werden soll.
Die Irreführungen beginnen mit dem Vorschlag für eine neue »Präambel« des Grundgesetzes, nun habe sich »das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben«. Da eine Verfassunggebung nach Artikel 146 ausdrücklich abgelehnt, nicht einmal ein Verfassungsrat, geschweige eine Nationalversammlung einberufen wird, erscheint jene Bezugnahme auf die »verfassungsgebende Gewalt des Volkes« wie eine schriftliche Lüge.
Überhaupt bleibt von der unmittelbaren Beteiligung des Volkes an der Staats- und Verfassungsgewalt nach der Vereinigung fast nichts übrig. Zwar soll die Möglichkeit des Volksentscheids über eine neue Grundordnung in Gestalt des neuen Artikels 146 formal erhalten werden. Mit dem Verzicht auf seinen bisherigen Übergangscharakter wird das Grundgesetz jedoch zur Dauerverfassung »für das gesamte Deutsche Volk«, ohne daß eben dieses Volk irgendwann auch nur die geringste Chance gehabt hätte, darüber mitzubestimmen.
Alle Bemühungen um einen klaren verfassungsrechtlichen Neubeginn, wie ihn sich der Parlamentarische Rat 1949 für den fernen Fall einer Wiedervereinigung noch vorgestellt hatte, werden mit einer bloßen Empfehlung an die gesetzgebenden Körperschaften Gesamtdeutschlands abgespeist, »sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen«. Das ist - gemessen an der Verheißung des Artikels 146, einmal werde das deutsche Volk »in freier Entscheidung« eine Verfassung beschließen - weniger als gar nichts. Kein Wunder also, wenn Fragen der unmittelbaren Demokratie im Einigungsvertrag schon gar nicht mehr erwähnt werden.
Auch Regelungen anderer wichtiger Probleme sucht man vergebens. Das kommunale Ausländerwahlrecht, wie es noch in der DDR gilt - ausgeklammert. Soziale Menschenrechte auf Arbeit, Wohnung oder Bildung - Fehlanzeige. Kein Wort über die Gleichstellung der Frauen in Staat und Gesellschaft; statt dessen ein unverbindlicher Appell an den geamtdeutschen Gesetzgeber, die »Vereinbarkeit von Familie und Beruf« zu erleichtern.
Auf der anderen Seite werden veraltete Institutionen erneut festgeschrieben und in den anderen Teil Deutschlands übertragen. So sollen auch in der DDR Beamte öffentliche Aufgaben wahrnehmen. Auf die mehr als 20 Jahre alten Bestrebungen, die Ordnung des Berufsbeamtentums durch ein einheitliches öffentliches Dienstrecht zu ersetzen, findet sich keinerlei Hinweis.
Völlig ungeklärt sind die zentralen Eigentumsprobleme. Man weiß zwar, daß sich die Bundesregierung inzwischen mit den besatzungsrechtlichen Enteignungen bis 1949 abgefunden hat; doch bleibt offen, ob enteignetes Vermögen in der Regel zurückgegeben werden soll und nur ausnahmsweise eine Entschädigung erfolgt oder ob genau das Umgekehrte gilt.
Erhebliche Einbußen erleidet auch ein anderes Glanzstück des Grundgesetzes: der Föderalismus. Obwohl nach Artikel 83 die Verwaltungshoheit grundsätzlich bei den Ländern liegt, soll das Verwaltungsvermögen der DDR nicht etwa den neuen DDR-Ländern, sondern dem Bund zufallen. Die Länder Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen werden also enteignet, bevor sie überhaupt existieren.
Akzeptabel wäre eine solche Regelung höchstens dann, wenn die DDR-Länder im Zeitpunkt der Vereinigung dem Geltungsbereich des Grundgesetzes mit den gleichen Rechten und Pflichten beitreten, wie sie die übrigen Bundesländer haben. Das ist, zumindest in finanzieller Hinsicht, nicht der Fall: Die DDR-Länder sollen bis Ende 1994 weder am allgemeinen Finanzausgleich noch an der normalen Umsatzsteuerverteilung teilnehmen. Statt dessen erhalten sie eine allmählich wachsende Quote am durchschnittlichen Umsatzsteueranteil der jetzigen Bundesländer pro Einwohner, die zunächst nur 60 Prozent betragen soll.
Das Ergebnis: Die DDR-Länder werden noch auf Jahre hinaus im Einheitsfonds gefesselt sein, vom Bund nicht nur finanziell, sondern auch politisch abhängen und bevormundet werden - »Länder zweiter Klasse«.
Geradezu skandalös mutet die Regelung der DDR-Schulden an. Sie werden nicht etwa vom Bund übernommen. Vielmehr soll Artikel 135a angewandt werden, der ursprünglich für die Verbindlichkeiten des Nazi-Regimes konzipiert wurde. Das bedeutet: Durch Gesetzgebung kann bestimmt werden, daß diese Schulden gar nicht oder nicht in voller Höhe beglichen werden. Findet hier eine erneute Enteignung statt, diesmal der Gläubiger der DDR?
Auch für das Haushaltsdefizit der DDR sollen die künftigen DDR-Länder mithaften. Es wird dafür ein Sondervermögen gebildet, das allein der Bund verwaltet, für das er auch eigenmächtig Kredite aufnehmen kann und dessen Verbindlichkeiten dann nach Auflösung des Sondervermögens Ende 1993 von den DDR-Ländern mitübernommen werden müssen, ohne daß sie auf die Höhe des Haushaltsdefizits oder gar auf die Verwaltung des Sondervermögens irgendeinen Einfluß haben. So etwas heißt im Zivilrecht ein »Vertrag zu Lasten Dritter«.
Ungelöst ist die Frage, welche rechtliche und politische Bedeutung der Einigungsvertrag für die Zukunft hat, wenn ein künftiger gesamtdeutscher Gesetzgeber mit einfacher Mehrheit davon abweichen kann. Im Entwurf wird nur bestimmt, daß der Einigungsvertrag »nach Herstellung der Einheit Deutschlands als Bundesrecht geltendes Recht« bleibt. Die Gefahr von nachträglichen Modifikationen durch anderslautende einfache Bundesgesetze wäre erst gebannt, wenn der Vertrag als Bestandteil des Bundesrechts den Gesetzen vorgehen sowie Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes erzeugen würde. Aber darauf konnte man sich nicht verständigen, Bonn will am liebsten statt eines Einigungsvertrages ein Überleitungsgesetz. Das Volk bleibt außen vor.
Wiederholt sich die Geschichte? Fast immer waren staatliche Ordnungen in Deutschland das Werk von Regierungen und Bürokraten. So geschah es 1648, 1815, 1866 und 1871. Auch 1949 hatte an der Schaffung des Grundgesetzes der Herrenchiemseer Beamtenkonvent maßgeblichen und das Besatzungsregime entscheidenden Anteil.
Nur 1919 - nach einer erfolgreichen Revolution - hatte das Volk direkten Anteil an der Verfassunggebung. Es wäre das Modell für 1990, wenn tatsächlich einmal »alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht« (Artikel 20). Nach den Plänen des Bonner Verfassungsministers Wolfgang Schäuble ist es umgekehrt - dem Volk ist alle Staatsgewalt ausgegangen.