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RECHT Alles Deutsche

Nach der höchstrichterlichen Auslegung des Grundvertrags ist eine zweifelhafte Rechtspraxis noch fragwürdiger geworden: die »Zulieferung Westdeutscher und West-Berliner in die DDR zwecks Strafverfolgung.
aus DER SPIEGEL 34/1973

Mehrfach fiel der Name »Brückmann«, als die Karlsruher Verfassungsrichter sich in geheimer Beratung die Köpfe über den »Status des Deutschen im Sinne des Grundgesetzes« heißredeten. Doch eine Antwort auf die so personifizierte Rechtsfrage -- ob DDR-flüchtige Kriminelle auch künftig DDR-Strafverfolgern an Hand gegeben werden dürften -- dünkte die meisten Herren vom Zweiten Senat bei der Auslegung des Grundvertrages zumindest verfrüht.

Denn Deutschsein heißt treu sein, das ungefähr stellten die Karlsruher Richter fest -- treu dem keineswegs »untergegangenen«, nur »nicht organisierten ... Gesamtdeutschland«. Deswegen seien alle DDR-Bürger eben »Deutsche im Sinne des Grundgesetzes« und wie jeder »Bürger der Bundesrepublik« zu behandeln. »Die weiteren Konsequenzen«, so das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli, »können hier auf sich beruhen.« Sie ruhten -- genau anderthalb Wochen lang.

Dann, am 10. August, zog das Berliner Kammergericht in erster und letzter Instanz seine Konsequenz aus der Karlsruher Camouflage: Ingrid Brückmann, 17, des Vatermordes in der DDR beschuldigt, im Oktober vergangenen Jahres von Ost-Berlin nach West-Berlin geflohen, sei in die Deutsche Demokratische Republik zurückzuschicken, wie der dortige Generalstaatsanwalt Josef Streit es wünsche.

Drei Tage nach dieser Entscheidung legte der Verteidiger des Mädchens, der Berliner Rechtsanwalt Gerd Joachim Rons, gegen den Beschluß des Kammergerichts Beschwerde bei der Europäischen Kommission für Menschenrechte ein, denn das Bundesverfassungsgericht dürfen Berliner wegen alliierter Vorbehalte grundsätzlich nicht anrufen. Bis zur Entscheidung in Straßburg durch den der Europäischen Kommission übergeordneten Europäischen Gerichtshof darf Ingrid Brückmann nun als Untersuchungsgefangene im Westen einsitzen, womöglich für Jahre.

Die Lösung dieses Falles durch einen Straßburger Spruch würde nach herrschender Rechtsauffassung zwar nicht die westdeutschen Gerichte binden. Doch die Bundesrepublik wäre verpflichtet, ihr innerstaatliches Recht auf dem Gesetzgebungsweg im Sinne des Urteils zu bereinigen. Und in dem Verfahren vor den europäischen Instanzen könnte, so die Beschwerde angenommen wird, endlich ein Gesetz an übergeordneten Rechtsgrundsätzen gemessen werden, das auf dem gleichen Axiom beruht wie die jüngste Karlsruher Erkenntnis: daß Gesamtdeutschland fortlebe.

Es ist das »Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen« (RHG) aus dem Kalten Kriegsjahr 1953. Denn während das Bundesverfassungsgericht vornehmlich grundgesetzlichen Maßstab anzulegen hätte, gelten für die Kommission und den Gerichtshof primär die »Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten«, ebenfalls von 1953. sowie deren Zusatzprotokolle -- und damit womöglich strengere Regeln.

»Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden«, garantiert Artikel 16 des Grundgesetzes. Und gezielt verfassungskonform erlaubt das »innerdeutsche« Rechtshilfegesetz denn auch nur die »Zulieferung«, nicht die »Auslieferung« Verdächtiger und nicht ins »Ausland«, sondern nur an »deutsche Gerichte und Behörden außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes«. Der von Brückmann-Anwalt Roos zitierte Artikel 3 des vierten Zusatzprotokolls zur Konvention hingegen bestimmt: »Niemand darf aus dem Hoheitsgebiet des Staates, dessen Staatsangehöriger er ist, durch eine Einzel- oder Kollektiv-Maßnahme ausgewiesen werden« -- wohin auch immer. und sei es ins Niemandsland oder in die DDR.

Darüber hinaus aber könnte in Straßburg bei Verhandlung des Falles Brückmann das gesamte Rechtswesen im anderen deutschen Staat zur Sprache kommen, denn Artikel 6 der Konvention gibt jedermann Anspruch auf »öffentliches« rechtliches Gehör vor »einem unabhängigen« Gericht.

An solcher Gewähr durch die dritte DDR-Gewalt aber hegte offenbar selbst der Bundesgesetzgeber Zweifel. Deswegen ist eine »Zulieferung« laut Rechtshilfegesetz nur nach »Genehmigung« durch den zuständigen Generalstaatsanwalt zulässig und seine Verfügung wiederum sei bei dem Oberlandesgericht, in Berlin beim Kammergericht, durch Beschwerde anfechtbar.

Dieses verkürzte Verfahren jedoch dürfte kaum hinreichend die Wahrung aller »rechtsstaatlichen Grundsätze« (RHG) bei einer »Zulieferung« garantieren. Und eben deswegen scheint es seinerseits nur schwer mit Artikel 6 der Konvention vereinbar: Das Obergericht entscheidet zwar nach »mündlicher«, aber keineswegs »öffentlicher« Verhandlung und durch seinen Beschluß, dessen Begründung nur »aktenkundig zu machen« ist und geheim bleibt.

Das Rechtshilfegesetz genüge mit diesem Verfahren nicht einmal den »Mindesterfordernissen« der Konvention, stellte schon 1958 der Kölner Menschenrechtler Professor Heinz Guradze fest, und sei daher »ungültig«.

Nach dem Wortlaut des Grundvertrags und nach dessen verbindlicher Interpretation durch das höchste deutsche Gericht scheinen nun auch die verfassungsrechtlichen Minimalanforderungen gestiegen. Der Vertrag selbst sieht in seinem Artikel 7 ausdrücklich über den »Rechtsverkehr« mit der DDR neue Vereinbarungen vor, über deren Vorbereitung Staatssekretär Günther Erkel vom Bundesjustizministerium in dieser Woche in Ost-Berlin verhandelt.

Und das Bundesverfassungsgericht stellte in seinem Spruch wenigstens abstrakt auch den Fall Brückmann klar: »Ein Deutscher hat, wann immer er in den Schutzbereich der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gelangt ... einen Anspruch darauf, nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland vor deren Gerichten sein Recht zu suchen.«

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