RHEINLAND-PFALZ Alles drin
Im Spätsommer, der Wein begann zu reifen, wanderte Helmut Kohl mit einigen Getreuen durch heimatliche Gefilde. Im Pfälzer Wald bei Sankt Martin ließ er sich berichten, daß auch bei der Christenpartei in Rheinland-Pfalz bald eine gute Ernte einzufahren sei. »Die Sozen«, juxte Mitwandersmann Hanns Schreiner, Ministerialdirektor aus der Mainzer Staatskanzlei, »liegen bei 30 Prozent, die Grünen bei ein oder zwei.«
Umfragen und Hochrechnungen signalisierten - vor der Bonner Wende - Schreiner und seinem daheimgebliebenen Chef, dem rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel, daß sie bei der Mainzer Landtagswahl im Frühjahr 1983 auf »gut und gerne 55 Prozent« CDU-Stimmen würden bauen können. Kohls Kommentar: »Prima so.«
Ein halbes Jahr später, eine Woche vor dem rheinland-pfälzischen Wahltag, der nun mit der Bonner »Schicksalswahl« (Kohl) zusammenfällt, ist der Ausgang für Schreiner alles andere als eindeutig: »Das reinste Lotteriespiel, man könnte auch einen Groschen in die Luft schmeißen.«
Denn zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik fallen eine National- und eine Regionalwahl zusammen, und die große Frage ist, ob ein »Überspüleffekt« (Schreiner) eintritt, die Bonner Wahl also die rheinland-pfälzische bestimmt. Sozialwissenschaftler gehen davon aus, daß das Landtagswahlergebnis mit dem Zweitstimmen-Resultat der Bundeswahl fast identisch sein müsse.
Zwar hat die Union in Rheinland-Pfalz bei Bundestagswahlen noch nie schlechter abgeschnitten als im Bundesdurchschnitt. Aber in Rheinland-Pfalz lagen 1980 CDU (45,6 Prozent) und SPD (42,8 Prozent) nicht so weit auseinander, daß ein Wechsel der Mehrheitsverhältnisse ganz und gar auszuschließen wäre - wenn man davon absieht, daß FDP (9,8 Prozent) oder Grüne (1,4 Prozent) den Ausschlag geben könnten.
Bei Landtagswahlen war der Unterschied stets deutlicher. Als Kohl noch Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz war, brachte es die Union schon mal auf 53,9 Prozent. Auch Nachfolger Vogel, der Bruder des SPD-Kanzlerkandidaten, holte 1979 noch 50,1 Prozent. Die rheinland-pfälzische SPD, damals mit dem jetzigen Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi an der Spitze, bot mit 42,3 Prozent ihr bestes Landtagswahlergebnis (FDP: 6,4 Prozent).
Frage also, was bei der einmaligen Konstellation einer Drei-Stimmen-Wahl den Ausschlag gibt: die herkömmliche Landes-Präferenz für die CDU oder der Überspüleffekt der Bundestagswahl mit allen Eventualitäten. Gewählt wird separat: Bundestagswahlzettel mit Erst- und Zweitstimmen in die eine, Landtagswahlzettel in die andere Urne, die daneben steht.
»Alles ist drin«, wie CDU-Schreiner sagt: daß es im Landtag bei der absoluten Mehrheit der Union bleibt (CDU: 51 Sitze, SPD: 43, FDP: 6), ob nun mit oder ohne FDP im Parlament. Und auch die Mehrheit links von der Union ist denkbar - was das Ende einer 35jährigen Herrschaft bedeuten würde. Selbst Landeschef Vogel hält für »realistisch«, daß er verlieren könnte.
Deutlich wird bei alledem nur eins: Wenn die Wahl für Kohl in Bonn schlecht läuft, wäre Bernhard Vogel in Mainz kaum der Mann, ein korrigierendes Super-Ergebnis zu erzielen. Der »kleine Vogel«, wie ihn die Pfälzer nennen, hat zwar eine »beneidenswert fröhliche Gelassenheit« ("Rheinischer Merkur"), aber sonst fällt er kaum auf: »Keine politischen Kraftakte, kaum eine brillante Rede.«
Er setzt auf die angestammte Anhängerschaft und müht sich insbesondere, die Winzer bei Laune zu halten. Eine Serie von Weinpanscher-Skandalen im Ländchen, die neun Monate lang auf SPD-Initiative hin einen Untersuchungsausschuß des Landtags beschäftigte, pflügte Vogel mit beschwörenden Hinweisen auf den drohenden Imageverlust des Moselweins einfach unter.
Die Winzer wissen es zu lohnen. »Es soll reine Weinbaudörfer geben«, scherzte der CDU-Abgeordnete und Weinbau-Lobbyist Dieter Hörner, »in denen immer montags nach der Wahl gesucht wird, wer die vier Stimmen für die SPD abgegeben hat.«
So schlaff wirkte die SPD über Jahre, daß Vogel über »eine Mannschaft« höhnte, »von der die Zuschauer schon beim Anpfiff sagen: die armen Kerle«. Aufwärts ging es aus der Sicht der Genossen erst mit Dohnanyi, dann mit dem neuen Spitzenkandidaten Hugo Brandt, der sich als Abgeordneter in Bonn wegen seines abgewogenen Urteils im Innenausschuß des Bundestages einen Namen gemacht hat.
Vogels Herausforderer, von Haus aus Volksschullehrer, verfolgt eine klare Taktik. Er vermeidet tunlichst, enttäuschte Jusos oder potentielle Grünen-Wähler zu verprellen. Anders als der Sozialdemokrat Holger Börner im benachbarten Hessen, der im Dachlatten-Stil die Konfrontation gesucht hatte, setzt Brandt alles daran, den Grünen die Themen zu nehmen.
Gegen US-Giftlager in der Pfalz, gegen die Nato-Raketenbasen in Hunsrück, Eifel und Pfälzer Wald, gegen das geplante Kabelfernsehen in Worms/Ludwigshafen/Speyer machen in erster Linie die Genossen Front, allen voran der rheinland-pfälzische DGB-Chef Julius Lehlbach. Der Grünen-Sprecher Roland Vogt, der als Beruf »Friedensarbeiter« angibt, bezichtigt denn auch die SPD des »Klientendiebstahls«.
Gleichwohl möchten die Grünen, gäbe es eine Mehrheit links von der Union, die CDU-Ära im Lande beenden. Sie würden den Sozialdemokraten Brandt zum Regierungschef wählen und dann weitersehen. »Danach«, prophezeit der grüne Liedermacher Joachim Knipp, »sind wir das Messer auf der Brust der SPD.«
Das müßte die CDU von den Freidemokraten nicht fürchten. Die rheinlandpfälzische FDP war schon immer mit einem nationalliberalen Wählerstamm gesegnet, dem die derzeitige Bonner Koalition behagen müßte. Für den Fall, daß es anders kommt, haben die Liberalen Vorkehrungen getroffen. Der Fraktionschef und langjährige Pharma-Lobbyist Hans-Otto Scholl, der 1981 nach einer mysteriösen Finanzaffäre als Landesvorsitzender geschaßt worden war, hält sich bis nach der Wahl einen Managerjob in Düsseldorf warm. Weil die Wende das Ende bedeuten könnte, wurde den FDP-Fraktionsangestellten vorsorglich gekündigt.
»Man kann ja nur ahnen«, sagt ein Freidemokrat, wie sich etwa das Stimmen-Splitting, das die FDP propagiert, bei einem Votum mit drei Stimmen auswirkt. Das bislang unerforschte Stimmverhalten bei einer Doppelwahl in Bund und Land macht in Mainz zur potenzierten Ungewißheit, was in Bonn schon ungewiß genug ist - ein »Ereignis«, so die Mainzer CDU, das es bisher »ganz einfach noch nicht gegeben hat«.