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USA / KRIEGSGEFANGENE Alles erlaubt

aus DER SPIEGEL 14/1971

Länger als je ein Amerikaner in irgendeinem Krieg sitzt Floyd J. Thompson in Kriegsgefangenschaft. Am Freitag letzter Woche jährte sich zum siebten Mal der Tag, an dem der Army-Captain in Südvietnam in die Hände der Kommunisten fiel.

Nicht mit Geheim-Verhandlungen und nicht mit öffentlichen Beschimpfungen, weder im militärischen Handstreich noch durch moralischen Druck gelang es Washington bisher, Thompson und seine Leidensgefährten zu befreien. Statt freilich den von Hanoi angebotenen Weg zu testen, die »boys« durch eine Erklärung über den endgültigen Abzug aller US-Truppen heimzuholen, besann sich Amerika auf seine letzten Nothelfer -- auf den lieben Gott und das liebe Geld.

Auf Gott vertraute in der letzten Woche Präsident Richard Nixon, der »alle Menschen der Vereinigten Staaten zum vom Herzen kommenden Gebet« für die vermißten und gefangenen Landsleute in Südostasien aufrief. Eine »nationale Woche der Besorgnis« reflektierte die offizielle Ohnmacht und das öffentliche Unbehagen über die Kriegsgefangenen« deren Zahl zugleich durch das Laos-Unternehmen weiter anstieg.

Aufs Geld setzten zwei private Gruppen mit unterschiedlichen Zielen:

>Eine Vereinigung reicher Bürger mit dem Sänger Bing Crosby an der Spitze erbot sich, die Gefangenen von Hanoi freizukaufen.

* Ein Veteranen-Verein schrieb eine Belohnung zwischen 100 000 und einer Million Dollar für jeden aus, der einen gefangenen Landsmann gewaltsam befreien könne. »Alles ist erlaubt«, lockte Veteranen-Boß Rainwater.

Aber weder Gebete noch Geld noch Gewalt erscheinen geeignet, Hanoi die politische Trumpfkarte, die es mit den gefangenen Amerikanern besitzt, aus der Hand zu nehmen.

Die Nordvietnamesen verlangen eine Bereitschaftserklärung Washingtons, alle Truppen bis zu einem festen Termin abzuziehen, bevor sie über das Schicksal der GIs sprechen wollen.

»Bis das geschieht«, erklärte Ngo Dien, Sprecher des Außenministeriums in Hanoi, »erwarten wir weitere Bombenangriffe, weitere gefangene Piloten, weitere unwillkommene Gäste. Wie können wir unter diesen Umständen über ihre Entlassung verhandeln?«

Nixon beharrt seinerseits auf der Auffassung, daß die Gefangenen-Frage auf einer »menschlichen Basis« geregelt werden müsse -- »getrennt von den politischen und militärischen Aspekten des Krieges«. Er droht, so lange Truppen in Vietnam stationiert zu halten, wie noch amerikanische Landser und Piloten im »Hanoi Hilton«

Um wie viele Gefangene es sich handelt, blieb »bisher unklar. 339 Namen bot Hanoi zum letzten Weihnachtsfest den Amerikanern an, das sei -- so Hanois Ministerpräsident Pham Van Dong -- »eine vollständige und komplette Liste«.

Die Amerikaner rechnen mit höheren Zahlen. Bis Ende Februar sprach das Pentagon von 573 GIs, die nach angeblich sicheren Informationen in den Händen der Kommunisten seien -- in Hanoi, in Südvietnam bei den Vietcong, in Laos bei den Pathet Lao und in Kambodscha. Hanoi aber fühlt sich nur für die gefangenen Piloten in Nordvietnam zuständig.

Vor der Weltöffentlichkeit argumentiert Washington sogar mit noch höheren Ziffern: Es addiert zu den Gefangenen alle, die als vermißt gelten. Bis zum 28. Februar waren das noch einmal 1032 US-Soldaten.

»Laßt sie nicht in Vergessenheit geraten«, fordern Klebestreifen auf Autostoßstangen In den USA. Die Post erinnerte mit einer Sondermarke an das Gefangenenschicksal der GIs, und Millionen Amerikaner griffen zum Kugelschreiber:

Vor der Villa der »Nationalen Befreiungsfront« im Pariser Vorort Verrières-le-Buisson türmten sich Ende Januar Postsäcke mit 14 Tonnen Briefen, und vier amerikanische Männer in Sträflingskleidung entrollten auf den Bürgersteigen zwei fast kilometerlange Petitionen. Schon vorher hatte Nguyen Xuan Thuy, nordvietnamesischer Delegationschef in Paris, täglich rund 10 000 amerikanische Protest- oder Bittbriefe erhalten.

Aber als im Januar auf der 99. Sitzung der Pariser Friedensgespräche der amerikanische Delegationschef David Bruce 156 neue Namen als »vermißt« oder »gefangen« zu Protokoll gab, fragte die Außenministerin des Vietcong, Madame Nguyen Thi Binh, ob Bruce denn nun als »Unterhändler oder als Spaßmacher« nach Paris gekommen sei.

Bis Mai 1969 waren den Amerikanern derartige Fragen in der Öffentlichkeit erspart geblieben. Denn erst damals ermunterte Präsident Nixon unter dem wachsenden Druck der Bevölkerung seine Minister zu freimütigen Attacken auf Hanoi. Bis dahin galt Geheimdiplomatie als die einzig erfolgversprechende Verhaltensweise in dieser diffizilen Frage.

Wie weit er zu gehen bereit war, zeigte Nixon im November letzten Jahres mit dem fehlgeschlagenen Hubschrauber-Handstreich auf das Gefangenenlager San Tay in der Nähe von Hanoi. Als Football-Stratege fiel ihm anschließend ein Trainer-Kniff ein: »Manchmal muß man sie überraschen ... man versucht einen Trick, und es klappt nicht. Dann dreht man sich um und versucht denselben Trick noch einmal, weil sie das nicht erwarten.«

Aber der zweite Trick scheiterte ebenfalls: 300 südvietnamesische Fallschirmjäger, begleitet von amerikanischen Hubschraubern, eroberten im Januar westlich der kambodschanischen Stadt Mimot erneut ein leeres Gefangenenlager. Die 20 dort vermuteten Amerikaner fanden sie nicht.

Gleichzeitig versuchte Washington Immer wieder, die Nordvietnamesen auf die Genfer Konvention zur Behandlung von Kriegsgefangenen festzulegen, die Hanoi 1957 unterzeichnet hatte -- freilich mit dem Zusatz, für »Kriegsverbrecher« könne die Konvention nicht gelten. Genau das aber sind die abgeschossenen US-Bomberpiloten für die Vietnamesen.

Der emotionsgeladene Propagandakrieg eskalierte zur Weihnachtszeit. Nach amerikanischer Auffassung -- nur sieben Prozent aller US-Bürger glauben, daß die Gefangenen in Nordvietnam auf gute Behandlung rechnen können, während 33 Prozent sicher sind, daß GIs in Hanoi und Umgebung umgebracht werden -- war James Band Im Vergleich zu den Hanoi

* Weihnachten 1970 in der Nähe von Hanoi. Häftlingen selbst in seinen brutalsten Filmszenen noch zu beneiden.

Prügel, Gehirnwäsche, Fingernägelausreißen und Rattenbisse in Einzelhaft gehören nach amerikanischer Darstellung zum Alltag ihrer Landsleute in kommunistischer Haft.

Dagegen vertreiben in nordvietnamesischer Lesart die gefangenen GIs mit Volleyball und Schach, Lektüre und Liedern und höchstens auch einmal mit Laubfegen ihre Langeweile.

Die von beiden Seiten mit fadenscheinigen Indizien belegten Propaganda-Versionen trugen nicht dazu bei, die Ehefrauen der Vermißten und Gefangenen zu beruhigen. Mrs. James Mulligan aus Virginia Beach, deren Mann 1966 über Nordvietnam abgeschossen wurde, argwöhnt: »Zur Zeit ist in unserem Vietnamisierungsprogramm für Kriegsgefangene kein Platz.«

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