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Artikel 43 / 86

LIBANON Alles falsch

Ein blutiger Kreislauf von Rache und Vergeltung zieht Israel noch während seines Rückzugs tiefer in den libanesischen Treibsand. *
aus DER SPIEGEL 12/1985

Drei Jeeps und ein »Safari«-Mannschaftswagen, besetzt mit Artillerie-Reservisten, holperten von der israelischen Stadt Metulla durch jenen Grenzzaun, den man einst den »guten« nannte, auf libanesisches Gebiet.

Die Soldaten sollten ihren Dienst in Nabatija antreten, aber sie waren nur etwa 100 Meter durch das frühlingsgrüne Ajun-Tal gefahren, als ihnen ein roter Lieferwagen entgegenkam.

Ein israelischer Offizier winkte das libanesische Fahrzeug an den Straßenrand. Der Chauffeur bremste - und brachte zugleich 70 Kilo Sprengstoff zur Explosion. In den Trümmern des »Safari« kamen zwölf Soldaten um, 14 erlitten Verletzungen. Es war der schwerste Verlust, den die Israelis seit Beginn ihres Rückzugs aus dem Libanon hatten hinnehmen müssen.

Einen Tag später nahmen sie Rache. Panzer und gepanzerte Mannschaftswagen fuhren vor der Ortschaft Srarije auf, kämpften den Widerstand der dort stationierten Einheiten der regulären libanesischen Armee sowie der schiitischen Freischärler von der Organisation »Amal« (Hoffnung) nieder und begannen ihr Strafgericht.

Alle Männer von Srarije mußten sich auf dem Marktplatz versammeln. Zeugen erzählten später, ein Kollaborateur, den Kopf mit einer Kapuze verhüllt, die nur das rechte Auge freiließ, habe mitgeholfen, die Einwohner zu identifizieren, deren Namen die Israelis von mitgebrachten Listen ablasen.

Unterdessen hatten andere israelische Abteilungen die Häuser durchsucht und mutmaßliche Unterkünfte von »Terroristen« in die Luft gesprengt oder mit Bulldozern eingedrückt. Israelische Panzer walzten Autos platt.

Bis auf neun, denen es gelang, sich zu verstecken, nahmen die Israelis sämtliche jungen Männer des Ortes mit, deren sie habhaft wurden, rund 200. Zum Abschluß ihrer Aktion überpinselten die Soldaten sorgsam alle israelfeindlichen Slogans an den Häuserwänden und malten in die überall abgebildeten Gesichter des Amal-Führers Nabih Birri sowie des Ajatollah Chomeini knallrote Bärte hinein.

34 Bewohner von Srarije kamen bei der Aktion um. Es seien alles »Terroristen« gewesen, behaupteten die Israelis. Auf arabisch schrieben sie an die Häuserwände: »Dies ist Rache für jeden Tropfen israelischen Blutes, die Rache der israelischen Verteidigungsstreitkräfte.«

Ein makabrer Wechsel von Rache und Vergeltung und stets neuer Vergeltung für die Vergeltung hält Israels Truppen im Libanon ebenso unrettbar gefangen wie ihre libanesischen Kontrahenten. Die libanesische Krankheit, die den Bürgerkrieg niemals heilen läßt, verdirbt offenbar jeden, der sich längere Zeit im Land aufhält.

Israels Rückzug in Phasen, der im Herbst 1983 mit dem Abzug seiner Truppen aus dem Schufgebirge begann, ist von den Libanesen mißverstanden worden. Einen sofortigen totalen Rückzug hätten sie als logische Handlung nach erledigter Aufgabe begriffen. Das Zurückgehen in Etappen aber betrachteten sie als Beweis, daß die Israelis nicht mal in der Lage waren, den eben aufgegebenen Abschnitt zu halten.

Die Schiiten des Südlibanon verstanden nicht, warum ausgerechnet sie, die 1982 die einmarschierenden Israelis noch als Befreier von den Palästinensern begrüßt hatten, ihnen Blumen und Reiskörner zugeworfen hatten, nun einem demütigenden Besatzungsregime ausgesetzt waren. Die militanten Sendboten des obersten Schiiten Chomeini aus dem Iran fanden immer mehr Gehör.

Ein schiitischer Freischärler versicherte dem SPIEGEL: »Die Israelis haben ihre Panzer, aber wir haben unseren Glauben. Und Allah ist auch stärker als die israelische Luftwaffe.«

Tragende Kraft unter den 950 000 Schiiten des Libanon wurde die 1975 nach Beginn des Bürgerkriegs von Chomeini-Schwager Mussa Sadr gegründete Amal-Bewegung. Ihr Ziel war es ursprünglich, den im libanesischen Wirrwar wirtschaftlich diskriminierten, vergleichsweise rückständigen Schiiten, die ein karges Dasein als Zitrus-, Bananen- und Tabakbauern fristen, einen größeren Anteil am Wohlstand der Nation zu verschaffen.

Heute geht es vielen Schiiten nicht mehr um die Reichtümer dieser Welt, sondern - nach iranischem Vorbild - um die Verwirklichung religiöser Grundsätze im Alltag.

Der im Grunde relativ gemäßigte und lange prowestliche Amal-Chef Nabih Birri mußte sich unversöhnlich geben, wenn er nicht, vor den Wahlen der Amal-Leitung am 18. April, von religiösen Randgruppen überholt werden

will. So forderte er »jetzt Bomben auf israelische Galiläa-Dörfer«.

Erbittert registrierten die Israelis, daß sich auch der christliche Libanon-Präsident Amin Gemayel, dessen Familien-Clan sie lange unterstützt und gefördert hatten, auf die Seite der radikalen Israel-Feinde schlug. Amin Gemayel lobt nun ausdrücklich jeden Anschlag schiitischer Freischärler.

Auf Druck der Syrer und der Moslems in seinem Lande hatte er bereits das mit amerikanischer Hilfe im Mai 1983 mit Israel geschlossene Friedensabkommen wieder aufkündigen müssen.

Gemayel mußte einsehen, daß er ohne das Einverständnis Syriens nichts bewirken konnte. Also kehrte er sich von Israel, das ihm immerhin den gefährlichen PLO-Staat im Libanon zerschlagen hatte, total ab.

Damit geriet er auch zunehmend in Gegensatz zu den zahlreichen Israel-Freunden innerhalb der christlichen Streitmacht Forces Libanaises. Lange war es im Christenlager undenkbar, gegen ein Mitglied der Familie Gemayel, der Gründer der christlichen Falangisten-Partei, zu opponieren.

Vergangenen Dienstag aber erhoben sich die rund 10 000 Mann starken Milizen gegen den Präsidenten und trennten sich von den Falangisten, besetzten Beiruts Hafen und brachten die Städte Byblos und Dschunje unter ihre Kontrolle.

Die Revolte führt Samir Dschadscha, von Beruf Mediziner. Dschadscha, der im Bergkrieg gegen die Drusen in der Festung Deir el-Kamar eingeschlossen war, hatte seinerzeit sein Leben nur retten können, weil die Israelis seinetwegen auf den Drusenführer Dschumblat Druck ausgeübt hatten.

Später tat er sich als Kritiker der prosyrischen Politik des Präsidenten hervor, ohne freilich daran etwas ändern zu können. Gemayel blieb denn auch gelassen. »Ich bin bereit, deine Feinde in die Knie zu zwingen«, hatte Syriens Präsident Hafis el-Assad den bedrängten Gemayel gleich wissen lassen.

Der handelte nach guter libanesischer Tradition in schwierigen Lagen: Er berief eine Kommission ein, die den Fall untersuchen sollte, alarmierte aber gleichzeitig die reguläre Libanon-Armee gegen die Forces Libanaises seiner Christenbrüder.

Die Armee, von den Amerikanern relativ gut mit Waffen versorgt, als Washington in Gemayel noch einen Vorkämpfer westlicher Ideale sah, brauchte einen Test nicht zu fürchten. Außerdem gab es ja die syrische Rückversicherung.

Daß der anderen Seite so schnell tatkräftige israelische Hilfe zugute kommen würde, schien ausgeschlossen. Zu tief sitzt bei den Israelis noch die Enttäuschung über ihre einstigen libanesischen Verbündeten, von denen sie sich um die Früchte ihrer »Frieden für Galiläa« genannten Libanon-Invasion, Israels längstem Krieg, betrogen glauben.

Überdies müßte Jerusalem befürchten, daß eine israelische Parteinahme im innerchristlichen Streit die Wut der radikalen Untergrundkämpfer nur noch weiter schüren würde.

Die schreiben schon jetzt alles, was immer an Terrortaten weit außerhalb der israelischen Besatzungszone geschieht, den Machenschaften des zionistischen Feindes zu, so als in der Moschee des Schiiten-Dorfes Maarake zwölf Libanesen durch eine Bombe getötet wurden. Unter ihnen waren Chalil Dscheradi und Mohammed Saad, der als verantwortlich gilt für den blutigen Angriff auf einen israelischen Stützpunkt in Tyrus im November 1983.

Am vorletzten Freitag wurde ein Hauptquartier fundamentalistischer Schiiten im Bir-el-Abed-Viertel in Beiruts Süden durch die Explosion eines sprengstoffbeladenen Autos zertrümmert.

Dieser Anschlag galt möglicherweise dem Scheich Mohammed Hussein Fadlallah, dem geistlichen Führer der schiitischen Ultras von der »Partei Gottes«, Hisballah. Fadlallah soll 1983 den Anschlag auf das Quartier der amerikanischen Marines in Beirut gesegnet haben, manche sagen sogar, er habe ihn auch organisiert. Der militante Scheich kam indessen heil davon, doch 100 Libanesen fanden bei diesem Attentat den Tod, über 250 wurden verletzt.

Wohl beteuerte Jerusalem, es habe mit solchen Greueltaten nichts zu tun. Doch für die Libanesen war die Sache klar. Das seien »neue Verbrechen der Israelis«, behauptete sogar der Rundfunksender der christlichen Falangisten.

Amal-Chef Birri prophezeite: »Diese barbarischen Attentate werden zum Vulkan eines Patriotismus, den Israels Terrorismus nie auslöschen wird.« Scheich Fadlallah kündigte Israel und Amerika bittere Vergeltung an. Denn »beide sind Feinde Allahs. Israel ist der kleine, Amerika der große Satan«.

Dennoch blieb Israel lange vorsichtig im Konflikt mit den Schiiten. »Wir haben temporäre Differenzen, aber keinen Existenzkampf mit dieser Bevölkerung«, mahnte der Orientalist Jizchak Bailey von der Universität Tel Aviv. Aber der Weg in die Gewalt war vorgezeichnet. Schon im Februar, als zwölf Soldaten getötet und nahezu 30 verletzt wurden, entschloß sich Israel zur »Politik der eisernen Faust«.

Systematischer israelischer Gegenterror forderte unter Schiiten innerhalb von zwei Wochen 60 Todesopfer und 50 Verletzte. Über 300 Menschen wurden verhaftet. Ein israelischer Offizier erklärte: »Hier wird kein zweiter Iran entstehen.«

Möglicherweise aber Israels Vietnam. Die Zeitung »Jediot Acharonot« schilderte die Lage so: »Wir können große Armeen besiegen, Städte und Berge erobern, aber wir können nicht in einem Land kämpfen, das schon vor Jahren seinen Verstand verloren hat, in einem verrückten, geistesgestörten Land. Wir können gegen Panzerdivisionen und Luftgeschwader kämpfen, aber nicht gegen einen elfjährigen Jungen mit einer Sprengladung oder einen 80jährigen Greis, der eine Panzerfaust abfeuert.«

Inzwischen gibt es genügend Beispiele für Brutalitäten, begangen von Israelis, die den Taten ihrer schiitischen Widersacher oft kaum nachstehen. So etwa riskiert heute im Südlibanon jeder sein Leben, der entgegen israelischem Verbot allein in einem Auto fährt: Er könnte

ein Selbstmörder mit einer Bombenfracht sein.

Motorradfahren ist völlig untersagt, denn auf schnellen wendigen Maschinen könnten Terroristen zu entkommen versuchen.

Manche harmlosen Bürger, die von diesen Verboten nichts wußten, fuhren in ihren Tod. Übernervöse israelische Soldaten, die überall einen potentiellen Bombenleger zu sehen glauben, schießen auf alles, was ihnen verdächtig erscheint.

Aber das Durchgreifen mit »eiserner Faust« brachte bisher wenig Erfolg. Die Zahl der Terrortaten steigt ständig. Jetzt sind es durchschnittlich sechs pro Tag.

Israel bleibt entschlossen, seine Politik des harten Durchgreifens fortzusetzen, »um das Leben unserer Jungs zu schützen«, so Regierungschef Peres. Die Befürchtung, auf diese Weise den Haß der Schiiten, aber auch der Christen zu schüren, sei gegenstandslos, glaubt Verteidigungsminister Rabin, denn »mehr Feinde als jetzt können wir hier kaum haben«. Ein Soldat im Südlibanon stimmte seinem Minister zu: »Hier sind Tränen wertlos. Hier zählt nur das Gewehr.«

Was im Libanon überhaupt noch zählt, ist inzwischen in Israel Gegenstand nachdenklicher Betrachtungen. Verbissen kommentierte »Jediot Acharonot": »Ganz egal, was wir im Libanon tun, alles ist von vornherein falsch.«

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