Fahndung Alles ganz anders
In Augsburg schoß der Polizist zuerst -- der Verdächtige, dessen Hand zum Halfter gezuckt war, brach tödlich getroffen zusammen. In Hamburg schoß der Verdächtige zuerst -- der Polizist ging, Pistole in der Hand. doch Kugeln in Bauch wie Brust, schwer verletzt zu Boden.
Die Wildwest-Regel, daß die beste Chance habe, wer am schnellsten zieht und dann noch trifft -- sie gilt tatsächlich für die Auseinandersetzung zwischen deutschen Polizisten und deutschen Anarchisten, die in populärer und unzureichender Verallgemeinerung das Stichwort »Baader-Meinhof« führt.
Anarcho-Merkmale waren zu registrieren, als am Donnerstag letzter Woche -- in Augsburg gegen 13.30 Uhr, in Hamburg gegen 22.45 Uhr -- die Schießereien begannen. Konspirative Wohnungen spielten eine Rolle, Dumdumgeschosse, eine Druckerpresse für gefälschte Pässe und Führerscheine, falsche Autokennzeichen -- womöglich gestohlener Wagen, gebündelte Tausender -- womöglich aus Banküberfällen.
Diesmal blieben vier aus dem Untergrund im Fahndungsnetz:
* Manfred Grashof, 25, Kern-Mitglied der Baader-Meinhof-Gruppe, gesucht unter anderem wegen Mordversuchs; er wurde in seinem Hamburger Unterschlupf, als er auf einen Kriminalbeamten feuerte, von Polizisten-Kugeln schwer verletzt;
* Wolfgang Grundmann, 23, nach eigenem Bekunden Mitglied der Berliner Anarchisten-Gruppe »Schwarze Hilfe«, verdächtig der Mittäterschaft an einem Banküberfall in Kaiserslautern; er war in Begleitung Grashofs und kapitulierte;
* Thomas Weisbecker, 23, gesucht wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt, Körperverletzung und schwerer Brandstiftung in einem West-Berliner Kaufhaus; er starb durch eine Polizisten-Kugel in Augsburg, als er bei einer Ausweiskontrolle -- so die Polizeiangaben -- zur Pistole griff;
* eine Weisbecker-Begleiterin, die von der Polizei bis zum Freitagabend nicht identifiziert werden konnte; sie trug Tausendmark-Scheine bündelweise bei sich.
Mit Manfred Grashof wurde die Polizei nach zweijähriger Großfahndung, die einherging mit einer bundesweiten Hysterisierung, eines BM-Kernmitglieds habhaft (die anderen: Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Holger Meins, Jan-Carl Raspe).
Grashof, der von dem -- mittlerweile inhaftierten -- Rechtsanwalt Horst Mahler in die Gruppe eingeführt worden war, nannte sich einst »Che«, im Untergrund dann »Carlos«. Er war der BM-Experte für Paßfälschungen. Seine Träume von der Guerrillero-Revolution mußten unter dem Druck der Fahndung längst verflogen sein, als ihn hinter Stuckfassaden in Hamburg-Harvestehude am Donnerstag letzter Woche Polizisten im eigenen Unterschlupf erwarteten, ein Stockwerk über dem Betriebskindergarten der Arbeitsvermittlung »Adia interim«.
Wie einst bei der Mahler-Festnahme in Berlin, lauerten die Beamten schußbereit hinter der Wohnungstür, als er mit Grundmann um 22.45 Uhr in das Apartment zurückkehrte. »Nicht schießen, wir sind nicht bewaffnet«, rief der vorangehende Grundmann, als er in die Pistolenmündungen der nicht mit kugelsicheren Westen bekleideten Polizisten starrte, und hob die Hände. Grashof aber, hinter Grundmann, griff, so die Polizei-Darstellung. zur Waffe und feuerte dreimal
Ähnlich in Augsburg, neun Stunden zuvor, als der -- zu diesem Zeitpunkt noch nicht identifizierte -- Untergründler Weisbecker von Beamten der bayrischen BM-Sonderkommission an den Stadtwerken kontrolliert werden sollte.
* L.: 1970 in West- Berlin; r. letzte Woche in Hamburg.
Der Bärtige -- so die offizielle Version des Landeskriminalamtes -- griff »zu seiner unter der Kleidung befindlichen großkalibrigen Faustfeuerwaffe«. Das LKA: »Trotz Androhung, die Hände hochzunehmen und nicht zur Waffe zu greifen, versuchte er, die Pistole auf einen Beamten zu richten.« Da traf ihn die Polizistenkugel, und Weisbecker brach zusammen »wie ein Sack« -- so der Augenzeuge Harry Kaden, Pförtner der Stadtwerke.
Daß Weisbecker ein BM-Mann oder auch nur eine Randfigur war, war Ende letzter Woche »keineswegs gesicherte polizeiliche Erkenntnis. Nur, »die Anarcho-»Methoden waren zu deutlich, als daß Kriminalisten nicht hätten Verdacht schöpfen können.
Die Staatsanwaltschaften sind mittlerweile zu der Erkenntnis gelangt, daß man es generell mit anarchistischen Gewaltverbrechern in der Bundesrepublik zu tun habe -- die überstrapazierte »Baader- Meinhof-Gruppe« erscheint nur noch als Teil der Anarcho-Szene. »Nur mit Phantasie«, meint Bundesanwalt Felix Kaul. lassen sich die »Splittergruppen« Nachfolgeorganisationen oder großen Haufen« noch erfassen.
Nicht nur an Phantasie, auch an kriminalistischer Systematik freilich fehlte es den amtlichen Anarcho-Verfolgern in Bayern. Denn die Schüsse von Augsburg, die sich wie ein -- wenn auch makabrer -- Erfolg der Fahndung ausnahmen, hätten womöglich nicht zu fallen brauchen.
Zwischen den Experten des Bundeskriminalamtes und den bayrischen Behörden bestand nach den Recherchen des SPIEGEL die Abrede, den Weisbecker-Unterschlupf in Augsburg weiterhin zu observieren -- um auch an andere Anarcho-Akteure »heranzukommen«, wie ein leitender Beamter sagte. Aber: »Es kam alles ganz anders. Diese Konfrontation war gegen die Abrede. Wir hätten noch einige Wochen stillhalten und beobachten können, wer da alles auftaucht.«