»Alles ist Lüge«
Gerüchte über die Vorbereitung eines gewaltsamen Umsturzes zirkulierten schon etliche Monate, deshalb kam er nicht unerwartet, eben nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Mir jedoch war klar: Ein Umsturz ist von Anfang an dem Untergang geweiht. Nur Verrückte können sich darauf einlassen. Damit habe ich keineswegs die Gefahr hysterischer Ausfälle unterschätzt, die von seiten der Rechten in der Presse auftauchten, auf ZK-Plenen, in provokativen Auftritten einiger Generäle, in der Sabotage vieler Perestroika-Entscheidungen in der Partei und den staatlichen Einrichtungen auf allen Ebenen.
Wenn ich auf die Ereignisse vom 19. bis 21. August zurückschaue, muß ich sagen, daß die Logik der tiefgreifenden Reformen solch eine Kehrtwende nicht ausschloß. Ich hielt es für möglich, daß die Entwicklung äußerst scharfe Formen annehmen könnte. Gründe für diese Annahme? Tiefgreifende Veränderungen betrafen den gesamten gesellschaftlichen Organismus, die grundlegenden Interessen aller sozialen Schichten.
Vor allem habe ich dabei die Partei im Auge, die im Namen des Volkes regierte, ohne vom Volk aber dazu die Vollmacht erhalten zu haben. Die Veränderungen betrafen die Armee, die in der Folge einer Politik des neuen Denkens und des damit verbundenen Abrüstungsprozesses einschneidende Reformen durchmachte. Die Konversion des militär-industriellen Komplexes war unter Schwierigkeiten Realität geworden: Denn die in diesem Sektor Beschäftigten sind der am besten organisierte, intellektuell stärkste, hochqualifizierte Teil der Gesellschaft, die obendrein viele Privilegien genießen. Dazu kam die Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse, die auf eine Veränderung der Motivation zur Arbeit abzielt, der Übergang zur Marktwirtschaft.
Das Land glitt in eine Systemkrise ab. Der Zusammenbruch des alten Systems bewirkte Instabilität, Chaos. Reformen konnten doch nicht leicht durchgesetzt werden in einem so gewaltigen Land, das sich jahrzehntelang in einem totalitären Zustand befand - mit totalem Machtmonopol, mit totaler Herrschaft von Staatseigentum. Der Reformprozeß war quälend, wirkte sich schwer auf das Leben des Volkes aus.
In der Partei vollzog sich ein aufreibender Kampf zwischen den Verfechtern demokratischer Umwandlungen und denen, die diese auf jede nur mögliche Art zu blockieren versuchten.
Das, was in der Zeit des Umsturzes vor sich ging, war ein entschiedener Zusammenstoß der Kräfte von Reaktion und Demokratie. Seit Beginn der krisenhaften Prozesse, die mit der grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft einhergingen, war ich bestrebt, eine Explosion der sich auftürmenden Widersprüche zu vermeiden. Mit Hilfe taktischer Schritte wollte ich Zeit gewinnen, damit der demokratische Prozeß genügend Stabilität erlangt, um das Alte zurückzudrängen und im Volk die Verbundenheit mit den neuen Werten zu festigen.
Am 11. September sagte mir der US-Außenminister, James Baker: »In diesen Tagen haben George Bush und ich viel über Ihre Politik nachgedacht, und jetzt begreifen wir Ihre Linie der Manöver und Kompromisse. Sie wollten Zeit gewinnen, um den konservativen Kräften keine Möglichkeit zu geben, den Reformkurs zunichte zu machen.«
Ja, genauso war es. Eine Kompromißlinie war unumgänglich, um den Momenten zugespitzter Spannung den Druck zu nehmen. Das war so im September und Dezember 1990, und das war so im Frühling 1991, als sich der Slogan breitmachte: »Nieder mit dem Generalsekretär! Nieder mit dem Präsidenten!« Meine Aufgabe in all diesen Jahren war, den politischen Kurs der Perestroika zu erhalten und zu retten. Um das zu gewährleisten, wollte ich so schnell wie möglich zu dem Unionsvertrag kommen, die radikale ökonomische Umgestaltung verwirklichen, die Partei reformieren.
Der Entwurf eines Unionsvertrages, mit dem die Beziehungen der Sowjetrepubliken zur Zentralmacht auf eine neue Grundlage gestellt werden sollten, war zur Unterzeichnung fertig. Am 20. August sollten ihn die Delegationen aus sechs Republiken im Georgssaal des Kreml unterschreiben. Ich als Präsident des Landes sollte eine Rede halten. Für den 21. August war die Sitzung des Föderationsrates anberaumt, um den Plan einer Beschleunigung der Reformen, Fragen der Lebensmittel- und Brennstoffversorgung, die Stabilisierung der Staatsfinanzen zu beraten. Die Verschwörer sahen, daß ihnen die Zeit davonlief. In dieser Situation versuchten die Putschisten, das Land in das totalitäre System zurückzuführen. Die Gefährlichkeit des Putsches lag darin, daß sich seine Organisatoren direkt im Zentrum der Macht befanden, im unmittelbaren Umfeld des Präsidenten. Für mich persönlich wog am schwersten der Verrat. Das wird mich bis ans Ende meines Lebens verfolgen.
Am Sonntag, dem 18. August, ging ich in meinem Feriensitz Kap Foros auf der Krim nach dem Mittagessen wieder an meine Arbeit. Ich wollte weiter an meiner Rede schreiben, die ich zur Unterzeichnung des Unionsvertrages halten sollte. Für den nächsten Tag hatte ich meinen Abflug nach Moskau angeordnet. Schon am Samstag abend hatte ich über Telefon mit dem russischen Präsidenten, Boris Jelzin, über die bevorstehende Vertragsunterzeichnung gesprochen.
Am Sonntag dann telefonierte ich gegen Mittag mit Vizepräsident Gennadij Janajew. Er bedankte sich bei mir, daß ich ihm meine bevorstehende Ankunft mitgeteilt hätte, und versprach, daß er auf jeden Fall am Flughafen sein würde. Anschließend sprach ich noch mit Wladimir Welitschko (Erster Vizepremier), mit Arkadij Wolski (Präsident des Wissenschafts- und Industrieverbandes), Stanislaw Gurenko (Erster Sekretär des ZK der KP der Ukraine). Nikolai Dementej (Vorsitzender des Obersten Sowjet von Belorußland) erreichte mein Anruf nicht, er war offenbar nicht an Ort und Stelle. Um 16.30 Uhr besprach ich telefonisch mit meinem Berater Georgij Schachnasarow die bevorstehende Rede.
Nur 20 Minuten später unterrichtete mich der Chef der Leibwache, daß eine Gruppe von Leuten eingetroffen sei, die ein Treffen mit mir forderten. Ich hatte niemanden erwartet, niemanden eingeladen, und niemand hatte mich über die Ankunft von irgend jemandem informiert. Der Chef der Leibwache sagte, daß auch er davon nichts gewußt habe. »Warum haben Sie sie dann durchgelassen?« - »Plechanow (Chef der KGB-Verwaltung Personenschutz - Red.) ist bei ihnen«, antwortete er. Andernfalls hätte die Wachmannschaft niemanden zum Präsidenten vorgelassen. So sind die Vorschriften. Streng, aber notwendig.
Zuerst einmal wollte ich herausfinden, wer die Leute geschickt hatte. Da ich über alle Kommunikationsmittel verfügte, die Regierungsleitungen, Funk- und Satellitenverbindungen, nahm ich also den Hörer eines der Telefone im Arbeitszimmer ab. Tot. Ich nahm den zweiten, dritten, vierten, fünften Hörer ab. Das gleiche. Ich griff zum Telefon für die Innenkommunikation. Abgeschaltet. Noch vor 20 Minuten hatte die Verbindung funktioniert. Offensichtlich hatten die Verschwörer schon im voraus einkalkuliert, daß sie mit mir kein Übereinkommen erzielen würden, und meine völlige Isolation vorbereitet.
Ich begriff, daß dies keine von den Abordnungen war, mit denen ich sonst zu tun hatte. Sogleich unterrichtete ich meine Frau, dann Tochter und Schwiegersohn von dem Vorfall. Eins war mir klar: Die Sache war sehr ernst. Nicht auszuschließen waren Erpressungsversuche oder Verhaftung oder sonst etwas in dieser Art. Alles mögliche konnte passieren.
»Ihr sollt eins wissen«, sagte ich zu Raissa Maximowna, Irina und Anatolij, »ich lasse mich auf keinerlei Erpressung ein, auf keinerlei Drohung, ich gebe keinem Druck nach und weiche um keinen Deut von meinen Positionen ab. Es ist nicht ausgeschlossen, daß im Zusammenhang damit auch gegen einzelne Familienmitglieder schärfste Maßnahmen ergriffen werden.« Die ganze Familie sprach sich dafür aus, daß meine Entscheidung bindend ist: Sie war bereit, bis zum Ende mein Schicksal zu teilen, was auch geschehen würde. Damit war unser Familienrat beendet.
Ich ging los, um die Ankömmlinge hereinzubitten. Doch sie standen bereits vor dem Arbeitszimmer - eine unglaubliche Unverfrorenheit: Walerij Boldin, der Leiter des Präsidialbüros, Oleg Schenin, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK, Oleg Baklanow, mein Stellvertreter im Verteidigungsrat und Sprecher des militär-industriellen Komplexes. Der vierte von ihnen, Walentin Warennikow, stellvertretender Verteidigungsminister und Oberbefehlshaber der Landstreitkräfte, war ein Mann, der mir fernstand. Auch Jurij Plechanow, im KGB für die Sicherheit der Staatsführer verantwortlich, war dabei. Ihn wies ich aus dem Arbeitszimmer.
»Bevor wir das Gespräch beginnen, möchte ich wissen: Wer hat Sie geschickt?«
Antwort: »Das Komitee.«
»Welches Komitee?«
»Nun das Komitee wegen des Notstandes im Land.«
»Wer hat es gebildet? Ich habe es nicht gebildet und auch nicht der Oberste Sowjet. Also wer hat es gebildet?«
Die Mitglieder des Komitees hätten sich bereits zusammengefunden, lautete die Antwort. Nun sollte ich, der Präsident, es durch ein Dekret legalisieren. »Entweder Sie erlassen das Dekret und bleiben hier, oder sie übertragen die Vollmachten an den Vizepräsidenten«, wurde ich beschieden. Baklanow sagte, Jelzin sei verhaftet. Dann berichtigte er sich: Er werde verhaftet.
»In welchem Zusammenhang stellt sich die Frage?«
»Die Situation im Land ist folgende: Das Land geht einer Katastrophe entgegen, man muß Maßnahmen ergreifen, der Notstand ist erforderlich - es gibt keine andere Rettung, man darf sich nicht länger Illusionen hingeben . . .«
»Ich kenne nicht schlechter als Sie die politische, wirtschaftliche und soziale Situation im Land, die Lage der Menschen, alle Belastungen, denen sie ausgesetzt sind. Und man muß so schnell wie möglich alles unternehmen, um ihr Leben zu verbessern. Aber ich bin ein entschiedener Gegner - und das nicht nur aus politischen, sondern auch aus moralischen Erwägungen - all jener Lösungswege, die seit jeher die Menschen nur dem Untergang geweiht haben; und das zu Hunderten, Tausenden, Millionen. Damit müssen wir für immer Schluß machen. Sonst ist alles, was wir begonnen haben, verraten und begraben, und wir beschreiten von neuem einen blutigen Weg. Wenn Sie einen anderen Standpunkt vertreten, tragen Sie ihn dem Kongreß der Volksdeputierten vor, sollen die eine Lösung suchen.« Mit diesen Worten wies ich das mir gestellte Ultimatum zurück.
Mehr als einmal habe ich in den vergangenen Jahren die Feuer löschen und vor der gefährlichen Entwicklung der Ereignisse warnen müssen. Und auch diesmal rechnete ich damit, daß sie begreifen, sich eines Besseren besinnen würden. Deshalb sagte ich: »Sowohl Sie als auch die, die Sie geschickt haben, sind Abenteurer. Sie stürzen sich selbst ins Verderben. Nun, das ist Ihre eigene Sache, hol Sie der Teufel! Doch Sie stürzen das Land ins Verderben, machen das zunichte, was wir bereits erreicht haben. Nur Selbstmörder können vorschlagen, jetzt ein Notstandsregime im Land einzuführen. Darauf lasse ich mich nicht ein.«
Unvermittelt verlangte Warennikow: »Treten Sie zurück!«
Ich habe diese unverschämte Forderung des Generals zurückgewiesen: »Weder das eine noch etwas anderes werden Sie jemals von mir hören. Teilen Sie das all denen mit, die Sie hierhergeschickt haben.«
»Na schön«, fuhr ich fort, »morgen werden Sie den Notstand ausrufen. Und weiter? Haben Sie wenigstens einen Tag, vier Schritte weitergedacht, wie es weitergehen soll? Das Land wird ablehnen, wird diese Maßnahmen nicht unterstützen. Sie wollen die Schwierigkeiten ausnutzen, die Tatsache, daß das Volk müde geworden ist, daß es jeden Diktator unterstützen würde . . .«
Ich bot den »Notständlern« an, den Volksdeputiertenkongreß einzuberufen, wenn bei einem Teil der Führung Zweifel über den richtigen Weg bestehen. »Setzen wir uns zusammen, beraten wir. Die Deputierten wissen, wie es vor Ort aussieht. Ich werde drei Hauptziele verteidigen: den Weg des Einvernehmens, den Weg vertiefter Reformen, Zusammenarbeit mit dem Westen. Zumal es da den Wunsch anderer Völker gibt, mit uns zusammenzuarbeiten, jetzt, in dieser entscheidenden Etappe.«
Das war ein Gespräch wie mit Taubstummen. Sie hatten den Motor bereits angekurbelt. Das war mir jetzt klar. Ich sagte:
»Das wär's. Eine andere Art Gespräch findet nicht statt. Melden Sie, daß ich kategorisch gegen Ihr Ansinnen bin. Sie werden eine Niederlage erleiden. Angst habe ich um das Volk, mir ist bange um all das, was wir in diesen Jahren erreicht haben. Besinnen Sie sich, das alles läuft auf Bürgerkrieg hinaus, auf Blutvergießen. Sie werden das verantworten müssen. Sie sind Abenteurer und Verbrecher. Das Volk ist nicht mehr so, daß es sich mit Ihrer Diktatur abfinden wird.«
Am übelsten hat sich Warennikow aufgeführt. Einmal sagte ich: »Mir fällt Ihr Name nicht ein (natürlich wußte ich ihn), war es nicht Walentin Iwanowitsch? Also, Walentin Iwanowitsch, die Gesellschaft, das Volk - das ist kein Bataillon, dem man kommandiert: Rechts, links, marsch! Und alle gehen, wohin Sie befehlen. O nein, so ist das nicht. Denken Sie an meine Worte.« Zum Ende des Gesprächs wünschte ich sie dahin, wohin die Russen in solchen Fällen jemanden zu schicken pflegen.
Nachdem die Verschwörer auf ihr Ultimatum meine ultimative Absage erhalten hatten, vollzog sich das weitere nach der Logik von Wirkung und Gegenwirkung. Ich wurde total von der Außenwelt isoliert. Sie setzten mich unter psychischen Druck. Später erfuhr ich, daß eine Einheit von Grenzern und ein Verband von Grenzschutzbooten unter das direkte Kommando von KGB-General Plechanow und seinem Stellvertreter Wjatscheslaw Generalow gestellt wurden, um mich zu Land und vom Wasser aus von der Außenwelt abzuschneiden. Mir blieben 32 Männer meiner Leibwache, sie standen zu mir.
Am allerschwersten war zu ertragen, daß wir keinerlei Informationen erhielten. Alles war abgeschaltet - außer dem Fernseher, wo sich die Mitteilungen des sogenannten Staatskomitees für den Notstand mit Filmen und Unterhaltungsmusik ablösten. Die Offiziere meiner Leibwache aber waren findige Leute; sie trieben in irgendwelchen Räumen Radios auf, bastelten Antennen und bekamen ausländische Sender herein. Am besten waren BBC und Radio »Liberty« zu verstehen. Dann hörten wir auch die »Stimme Amerikas«. Mein Schwiegersohn Anatolij bekam etwas Westliches über einen Sony-Taschentransistor. Wir begannen, die Informationen zu sammeln, um die Entwicklung der Lage einzuschätzen.
Es war nicht allzu schwer, sich das weitere Vorgehen der Putschisten vorzustellen: Sie bauten eine Lüge auf, um die Machtergreifung zu rechtfertigen. Die Bestätigung dafür war die Pressekonferenz des Notstandskomitees am Montag in Moskau. Die Putschisten erklärten, ich sei gesundheitlich nicht in der Lage, die Funktion des Präsidenten wahrzunehmen. Mehr noch: Sie versprachen, in Kürze ein medizinisches Gutachten vorzulegen. Da lag die Schlußfolgerung nahe, sie würden mit allen Mitteln versuchen, den Präsidenten tatsächlich psychisch und physisch zu brechen.
Das begriffen auch die Genossen der Leibwache. Und so wurde beschlossen, kein Essen mehr zu bestellen, das man uns täglich von außerhalb anlieferte, sondern von den Vorräten zu leben, die vorhanden waren. In allem sollte die Wachsamkeit verschärft werden.
Als ich bereits wieder in Moskau war, brachten mir zwei Ärzte ein Schreiben, in dem stand, was für ein Gutachten man von ihnen erwartet hatte: Gorbatschow stehe kurz vor der Verhaftung, man müsse ihn retten, »die Diagnose verschärfen« und attestieren, daß er sehr schwer krank sei. Man forderte von den Ärzten, das bis Montag 16 Uhr zu tun, bis zur berüchtigten Pressekonferenz der Putschisten. Wahrscheinlich wollten sie die ärztliche Erklärung dann dort vortragen. Da stand auch, daß die Blutzirkulation im Gehirn nicht funktioniere - und das bereits seit dem 16. August -, daß der Präsident bettlägerig und sein Zustand sehr schlecht sei, daß er überhaupt nicht mehr begreife, was um ihn herum geschehe.
Jetzt, am Montag nachmittag vor dem Bildschirm, war nicht so wichtig, was die Verschwörer da auf ihrer Pressekonferenz sagten, sondern ihr jämmerlicher Anblick. Ich war ganz und gar beherrscht, wenn auch bis ins Innerste erschüttert und aufgebracht von ihrer politischen Blindheit und ihrer verbrecherischen Verantwortungslosigkeit. Ich war überzeugt, wirklich überzeugt, daß das nicht lange dauern würde, daß sie damit nicht durchkämen.
Noch am selben Tage forderte ich, sofort die Kommunikation zur Außenwelt wiederherzustellen und mir ein Flugzeug für den Flug nach Moskau zu schicken. Eine Antwort erhielt ich nicht. Ich beschloß, unverzüglich eine Videoaufzeichnung anzufertigen. Ich machte vier Aufzeichnungen. Die Kinder - Irina und Anatolij - schnitten die Bänder in vier Teile, und wir überlegten, wem wir sie anvertrauen, wie wir sie hinausbringen könnten. Alle Menschen draußen sollten sehen, daß der Präsident lebt, gesund ist.
Der Arzt in meinem Ferienhaus schrieb ein Gutachten in mehrfacher Ausfertigung über den tatsächlichen Gesundheitszustand des sowjetischen Präsidenten, damit alle einmal die Wahrheit erfahren konnten.
Ich diktierte meinem engen Berater Anatolij Tschernjajew vier Forderungen. Nachdem sie mit der Schreibmaschine geschrieben waren, fügte ich handschriftlich Anrede und Unterschrift hinzu, damit klar war, daß ich persönlich diese Forderungen verfaßt hatte:
Erklärung
Zur Kenntnis den Volksdeputierten der UdSSR, dem Obersten Sowjet der UdSSR:
1. Daß G. I. Janajew unter dem Vorwand, ich sei krank und unfähig, meinen Pflichten nachzukommen, die Präsidentenpflichten übernommen hat - ist ein Betrug am Volk und kann nicht anders denn als Staatsstreich gewertet werden.
2. Das bedeutet, alle weiteren Aktivitäten sind ungesetzlich und unrechtmäßig. Weder der Präsident noch der Volksdeputiertenkongreß haben Janajew dazu bevollmächtigt.
3. Ich bitte, dem Genossen Lukjanow (Vorsitzender des Obersten Sowjet - Red.) meine Forderung nach sofortiger Einberufung des Obersten Sowjet der UdSSR und des Volksdeputiertenkongresses zu übermitteln, um die eingetretene Situation zu untersuchen. Sie, und nur sie, haben nach Analyse der eingetretenen Umstände das Recht, die Frage nach notwendigen staatlichen Maßnahmen und nach Mechanismen ihrer Realisierung zu entscheiden.
4. Ich fordere die unverzügliche Einstellung der Tätigkeit des Staatskomitees für den Notstand (Gekatschepe - Red.) bis zur Annahme der genannten Beschlüsse des Obersten Sowjet oder des Volksdeputiertenkongresses der UdSSR.
Die Fortführung dieser Tätigkeit, die weitere Eskalation der vom Gekatschepe unternommenen Maßnahmen können zu einer Tragödie für alle Völker führen, die Situation noch weiter verschärfen und die begonnene einvernehmliche Arbeit von Zentrum und Republiken, den Ausweg aus der Krise betreffend, zum Scheitern bringen.
Ich forderte eine Antwort. Aber nichts geschah. Jeden Tag machte ich einen Vorstoß, morgens und abends, und forderte die sofortige Wiederherstellung der Kommunikation, forderte ein Flugzeug, das mich nach Moskau an meinen Arbeitsplatz bringen sollte. Nach der Pressekonferenz Janajews und seiner Kumpane erhob ich die Forderung nach Widerruf der Mitteilung über meinen Gesundheitszustand - eine Mitteilung von diesen ungemein gesunden Leuten, denen die Hände zitterten.
Das, was in diesen Tagen mit uns passierte, bedarf einer gründlichen Analyse. Der Versuch einer Erpressung des Präsidenten war gescheitert. Kategorisch weise ich alle Anspielungen zurück, der Präsident sei nicht auf der Höhe gewesen und hätte sich allein damit befaßt, seine Haut zu retten.
Die Kräfte, die nun eine Niederlage erlitten haben, sind dabei, plumpe Lügen zu erfinden, sie versuchen, einen Schatten auf den Präsidenten zu werfen und die demokratischen Kräfte zu kompromittieren.
Auch folgendes ist im Umlauf: Ich hätte Kenntnis über den bevorstehenden Putsch gehabt, verwiesen wird dabei auf ein Interview, das der Vorsitzende des Obersten Sowjet, Anatolij Lukjanow, am 19. August gegeben hat. Die gerichtliche Untersuchung wird das als falsch erweisen. Ebenso wie das Gerücht, Gorbatschow hätte über intakte Kommunikationskanäle verfügt, habe sich zurückgezogen und abwarten wollen. Wäre der Putsch gelungen, so hätte der Präsident, indem er den Verschwörern die Chance dazu einräumte, als Gewinner dagestanden. Wäre der Putsch hingegen mißlungen, wäre der Präsident wiederum als Sieger hervorgegangen.
Baklanow - und da steht er in einer Reihe mit anderen Schurken von heute - hatte so etwas von vornherein im Kalkül gehabt. Nachdem er mich aufgefordert hatte, das Komitee zu unterstützen, sagte er: »Ruhen Sie sich aus, wir erledigen in Ihrer Abwesenheit das 'schmutzige Geschäft'. Anschließend kommen Sie nach Moskau.«
Meine Frau, Raissa Maximowna, hat sich sehr tapfer gehalten wie auch die anderen Familienmitglieder, obwohl sie begriffen, was auf dem Spiel stand. Und ich bin stolz auf meine Familie. Als über BBC die Mitteilung kam, daß sich eine Gruppe von Verschwörern auf den Weg gemacht hatte, angeblich, um der russischen Delegation, dem sowjetischen Volk und der gesamten Öffentlichkeit vorzuführen, in welchem Zustand sich Gorbatschow befindet, da wurde mir klar, daß man etwas Heimtückisches plante. Im gleichen Augenblick erlitt Raissa Maximowna einen schweren Anfall, der nicht ohne Folgen blieb.
Am besten von uns ertrug Anastassija, meine Enkeltochter, die Situation. Sie begriff überhaupt nichts, tollte herum, wollte sogar im Meer baden. Es blieb uns nichts anderes übrig, als sie hinzubringen. Aber dann war die Leibwache doch dagegen, es hätte ja sonst was passieren können. Am schlimmsten war es in diesen drei Tagen für Raissa Maximowna und Irina.
Diese drei Tage im August waren das Äußerste. Manchmal sage ich: Das, was vor dem Putsch war, war sozusagen vor der Zeitrechnung, jetzt hat eine neue Epoche begonnen. Wäre der Putsch vor ein, zwei Jahren passiert, er hätte Erfolg haben können. Doch inzwischen hatte sich die Gesellschaft völlig geändert. Die heute 18- bis 20jährigen sind in einer anderen Atmosphäre aufgewachsen. Sie sind zu mutigen Verteidigern der Demokratie geworden.
Die Verschwörer haben das Schlimmste machen wollen - die Armee auf das Volk hetzen. Aber das ist ihnen nicht gelungen. Viele Kommandeure, Offiziere und die meisten Soldaten, ganze Einheiten und Truppenverbände haben den Befehl verweigert. Sie blieben ihrem Eid treu, stellten sich an die Seite der tapferen Verteidiger der Demokratie.
Offiziere und Soldaten weigerten sich, gegen das eigene Volk zu marschieren, ohne Rücksicht darauf, daß ihnen das Militärgericht drohte. Ja, darin haben sich die Putschisten verrechnet. Das Volk hatte den Odem der Freiheit geatmet, das konnte ihm niemand nehmen. Gewiß, es will Gesetzlichkeit und Stabilität, aber nicht mittels einer Diktatur, mittels einer Notstandszwangsjacke.
Die Putschisten haben sich auch gründlich verrechnet, was die qualitativ neuen Beziehungen zwischen der UdSSR und ihren westlichen Partnern betrifft. Sie haben die gewaltigen prinzipiellen Veränderungen der internationalen Situation unseres Staates ignoriert, besonders in den Beziehungen zu den Völkern der USA und Europas. Zu Anfang gab es gewisse Unschlüssigkeiten bei der Bewertung des Putsches, aber bald schon brachte die erdrückende Mehrheit der ausländischen Regierungen den Putschisten ein entschiedenes »Nein« entgegen und wies jegliche Zusammenarbeit mit ihnen zurück.
Schon am 20. August wurde klar, daß die Putschisten nicht durchkommen würden. Eine herausragende Rolle spielte der Kampf, den Boris Nikolajewitsch Jelzin gegen die Putschisten organisierte. Er hat eine mutige Position bezogen, hat entschlossen gehandelt, indem er die volle Verantwortung auf sich nahm. Das war unter diesen außergewöhnlichen Umständen gerechtfertigt. Zurück in Moskau, habe ich die von ihm in den Putschtagen erlassenen Ukasse bestätigt.
Bei der Vereitlung der Verschwörung war die Haltung der Präsidenten und Parlamente der meisten Republiken und örtlichen Sowjets von großer Bedeutung. Standhaft verteidigten sie die Gesetzlichkeit und ihre souveränen Rechte. Der Versuch der Putschisten, den Anschein zu erwecken, als würde das ganze Land sie unterstützen, erwies sich als lächerlich.
Als klar wurde, welch unnachgiebige Position Rußland, seine Führung, die anderen Republiken und die Mehrheit des Volkes einnahmen, als augenscheinlich wurde, daß die Armee nicht der Junta folgte, da suchte das selbsternannte Komitee voller Panik nach einem Ausweg.
Am Mittwoch, dem 21. August, etwa um 17 Uhr, teilte man mir mit, eine Gruppe von Verschwörern sei im Präsidentenflugzeug auf der Krim gelandet. Damals wußte ich nicht, daß es zwischen der Führung Rußlands und dem Staatskomitee für den Notstand ein Gespräch gegeben hatte. Dabei wurde Jelzin aufgefordert, mit auf die Krim zu fliegen, um sich persönlich vom Gesundheitszustand Gorbatschows zu überzeugen. Jelzin lehnte das ab. Er schickte eine eigene Delegation mit dem russischen Vizepräsidenten Alexander Ruzkoi an der Spitze los. Die Verschwörer kamen als erste an. Als sie auf dem Gelände der Datscha auftauchten, ordnete ich an, sie unter Bewachung zu nehmen. Und ich machte klar: Ich würde so lange mit niemandem von ihnen reden, bis man mir die Regierungsleitung wieder freigeben würde. Man ließ mir durch die Wache mitteilen, das könne lange dauern.
Die Telefonverbindung wurde schließlich wiederhergestellt. Die Funktechniker informierten mich, daß KGB-Chef Wladimir Krjutschkow mit mir reden wolle.
Ich ließ ausrichten, er möge warten. Dann stellte ich sofort eine Verbindung mit B. N. Jelzin, N. A. Nasarbajew, N. I. Dementej, I. A. Karimow her*. Anschließend ließ ich mich mit General Michail Moissejew, dem Generalstabschef der bewaffneten Streitkräfte der UdSSR, verbinden und teilte mit, daß ich Verteidigungsminister Dmitrij Jasow sofort von seinen Verpflichtungen entbinde und Moissejew vorläufig alle Funktionen übertrage; ich ordnete die Rückkehr der Truppen in ihre Standorte an.
Dem Chef des Stabes für Nachrichtenverbindungen der Staatsführung gab ich die Order, den Verschwörern die Telefone abzuschalten. Nach kurzer Zeit teilte er mit, daß er den Befehl ausgeführt habe. Dem Kremlkommandanten befahl ich, alle Komiteemitglieder im Kreml festzuhalten. Moissejew und Boris Panjukow (Minister für Zivilluftfahrt) übertrug ich die Aufgabe, für eine ordnungsgemäße Landung der von Jelzin zu uns beorderten Ruzkoi-Delegation auf dem Militärflughafen von Belbek auf der Krim zu sorgen. Dann telefonierte ich mit Präsident Bush.
Man meldete mir, daß Wladimir Iwaschko (Vizegeneralsekretär der KPdSU) und Lukjanow mich unverzüglich zu sprechen wünschten - sie hätten nichts mit den Putschisten gemein. Ich habe sie später empfangen. An dem Gespräch nahmen meine Berater Wadim Bakatin, Jewgenij Primakow, Tschernjajew teil, die mit Ruzkoi eingeflogen waren. Die anderen - Krjutschkow, Baklanow und Jasow - habe ich nicht empfangen. Und gesehen habe ich sie auch nicht. Wir teilten sie auf die Flugzeuge auf und brachten sie nach Moskau.
Es ist der Verrat Lukjanows, den ich als besonders fürchterlich empfunden habe. Wir hatten uns nach dem 21. August, als er in Foros aufgetaucht war, nicht mehr gesprochen. Ich hatte übrigens auch nicht das Verlangen, mit ihm zu reden. Ich hatte Lukjanow vertraut, rechnete überhaupt nicht damit, daß er unsere Sache oder mich verraten könnte. 40 Jahre, seit der gemeinsamen Studentenzeit, hatten uns kameradschaftliche Gefühle verbunden. Man kann sein Vorgehen nicht mit Feigheit erklären, seine intellektuellen Fähigkeiten in Zweifel zu setzen - nein, unmöglich. Also Berechnung. Die gerichtliche Untersuchung wird es an den Tag bringen.
Gleich nach der Landung in Moskau in der Nacht zum Donnerstag wurden Jasow und Krjutschkow verhaftet und isoliert. Baklanow wurde, als Volksdeputierter, erst nach Zustimmung durch den Obersten Sowjet verhaftet.
Der Putsch war gescheitert. Doch leider war beim Widerstand in Moskau Blut vergossen worden. Ich übermittelte den Familien der Toten, ihren Verwandten, Freunden und Kollegen mein tiefstes Beileid. Das, was vorgefallen ist, ist für mich persönlich eine harte Lehre. In den vergangenen Tagen und Wochen habe ich über vieles nachdenken müssen. Man redete davon, daß ich nach der Rückkehr von der Krim in ein anderes Land gekommen sei. Das stimmt. Und ich kann noch hinzufügen: Ein Mann ist zurückgekehrt, der alles - die Vergangenheit, den heutigen Tag, die Perspektiven - mit anderen Augen betrachtet. Solange ich Präsident bin, werde ich keine Verzögerungen und keine Unschlüssigkeiten bei der Durchführung der Reformen zulassen. Und Kompromisse, mit denen es kein Einvernehmen gibt, wird es nicht mehr geben.
Wir müssen erkennen, daß Voraussetzungen vorlagen, auf denen die Verschwörer ihre Pläne aufbauen konnten. Die Armee war zwar auf der Seite des Volkes. Dennoch war es möglich geworden, ein Maximum an Truppen, Panzern und anderen Waffen auf die Straßen zu bringen - ohne Zustimmung seitens der höchsten gesetzgebenden Organe des Landes. Das heißt, daß in unserem Staatsmechanismus etwas nicht in Ordnung ist. Die notwendige Reorganisation des KGB ist nicht durchgeführt worden. Die Verschwörer hätten ihre Pläne nicht verwirklichen können, hätten der Oberste Sowjet und sein Vorsitzender Lukjanow sich ihnen widersetzt. Rußland hat in dieser Hinsicht sofort reagiert, und das spielte für das Zurückschlagen des Putsches eine gewaltige Rolle.
Wo war das Präsidium des Obersten Sowjet? Wo waren die Deputierten selbst? Warum sind sie nicht sofort in die Hauptstadt geeilt? Tritt eine solche Situation wie am 19. August ein, müßte man doch annehmen, daß auch ohne Telegramme, Anrufe, Erklärungen alle sich umgehend in der Hauptstadt einfinden, dort, wo das höchste Machtorgan tagt. Hätte sich der Oberste Sowjet am 19. August versammelt, hätte der Putsch gleich bei seinem Ausbruch gestoppt werden können. Das bedeutet, man muß Verfassungsmechanismen schaffen, die eine Wiederholung solcher Vorfälle ausschließen.
Dafür, daß die Mechanismen des Obersten Sowjet der UdSSR nicht funktioniert haben, dafür, daß sich viele Mitglieder des Ministerkabinetts hilflos und feige verhalten haben, dafür, daß an der Spitze von drei Organisationen, die über die militärische Macht verfügten, Männer saßen, die sich zu einem Staatsstreich hinreißen ließen - dafür trage ich als Präsident eine große, genauer, die größte Verantwortung. Es ist absolut notwendig, eine zuverlässige konstitutionelle und gesellschaftliche Kontrolle für die bewaffneten Kräfte und die rechtsstaatlichen Organe zu schaffen. Unverzüglich muß das KGB reorganisiert werden.
Wir müssen alle Hemmnisse und Schranken beseitigen, die von den alten Strukturen und den alten Leuten auf dem Weg zur Marktwirtschaft errichtet worden sind; wir müssen dem Unternehmertum freie Bahn einräumen, die Zwangsmethoden und die Diktatur von oben beseitigen, schnellstmöglich Grundlagen für eine Marktwirtschaft schaffen.
Als der Mann, der seit 1985 an der Spitze der KPdSU stand, bin ich allerdings entschieden dagegen, im Lande eine antikommunistische Hysterie, eine Hexenjagd auf Millionen Kommunisten - ehrliche Menschen, die sich nicht besudelt haben - zuzulassen. Lange Zeit habe ich tatsächlich gemeint, man könne die KPdSU erneuern. Aber nach dem Augustputsch habe ich diese Hoffnung begraben. Deshalb bin ich von meinen Pflichten als Generalsekretär zurückgetreten und habe dem ZK die Selbstauflösung empfohlen.
Dabei gehöre ich zu den Menschen, die nie ihren Standpunkt verleugnet haben. Ich bin ein überzeugter Anhänger der sozialistischen Idee. Durch viele Jahrhunderte hat diese Idee ihren Weg gefunden. Sie hat viele Anhänger, und in einer Reihe von Staaten standen sie an der Spitze der Regierung. Es gibt verschiedene Zweige der sozialistischen Bewegung, doch sie ist kein Modell, zu dem man eine Gesellschaft zwingen darf. Nein, sie ist eine Idee, die Werte beinhaltet, erarbeitet auf der Suche nach einer gerechteren Gesellschaft, einer besseren Welt. Eine Idee, gespeist von vielen Auffassungen des Christentums und anderer philosophischer Strömungen. Das Modell des Sozialismus, wie es in unserem Land herrschte, ist zusammengebrochen, nicht jedoch die sozialistische Idee.
Die historischen Resultate, die sich die Menschen von der Oktoberrevolution erhofften, haben sich nicht eingestellt. Aber das waren nicht die Resultate der Ideen dieser echten Volksrevolution. Es waren die Resultate des auf Gewalt beruhenden stalinistischen Gesellschaftsmodells.
Das möglicherweise tragischste Resultat dieses Umsturzversuchs ist, daß die zentrifugalen Tendenzen in unserem Land Auftrieb bekommen haben. Es droht das Auseinanderfallen des Unionsstaates. Ich denke ständig mit großer Sorge und innerer Erregung daran. Wenn das geschieht, sind alle unsere Gespräche und alle unsere Zukunftspläne nichts als eine Luftblase, leeres Geschwätz.
Der Unionsstaat muß als Union souveräner Staaten erhalten bleiben. Wenn das nicht geschieht, wenn irgend etwas anderes passiert, werde ich gehen. Wenn wir die Union zerstören, wird es zum Schlimmsten kommen. Von irgendwoher werde ich verdächtigt, ich würde die Völker aufhetzen, aufwiegeln, sie auseinandertreiben, um selbst herrschen zu können - und ähnliches in dieser Art. Es gibt auch solche, die in meiner Person das Bestreben sehen, um jeden Preis das Imperium zu halten. All das ist Unfug.
Ich bin fest davon überzeugt, daß die internationale Gemeinschaft es in Zukunft mit der »Union souveräner Staaten« zu tun haben wird. Mit einem Land, wo freie demokratische Staaten, Republiken, Dutzende von Nationen, Völkerschaften und ethnische Gruppen in Freiheit und Gleichberechtigung zusammenleben. Mit einem Land, wo die unterschiedlichsten Kulturen und fast alle bekannten Religionen, die ein unvergleichliches kulturelles und geistiges Gebilde darstellen, freundschaftlich miteinander koexistieren. Die große eurasische Demokratie wird eins der Bollwerke einer neuen Welt sein, ihrer Sicherheit, der Annäherung zwischen den Kontinenten beim Aufbau einer gerechteren Weltordnung.
Eine wichtige Komponente für den Zusammenhalt der Union werden die einheitlichen Streitkräfte sein, eine wirksame zentralisierte Kontrolle des Atomwaffenpotentials und eine gemeinsame Verteidigungspolitik. Der Verteidigungsminister wird ein Zivilist sein, der Chef des gemeinsamen Stabes oder Generalstabes wird aus dem Militär kommen. Was die Kontrolle über die Kernwaffen angeht, so braucht sich niemand Sorgen zu machen. Das Befehlszentrum bleibt erhalten, oberster Befehlshaber wird weiterhin der Unionspräsident sein.
Die Umgestaltung der Union verlangt ein aufmerksames und verantwortungsvolles Verhalten gegenüber den Minderheiten in der Bevölkerung der neuen Staatsgebilde. Es geht nicht an, daß eine nationalstaatliche Konsolidation im Falle des Beitritts einer Republik zur neuen Union oder, insbesondere, im Falle des Austritts aus der UdSSR von einer Einengung der Menschenrechte begleitet wird. Unsere Erfahrungen der letzten Jahre zwingen uns, diesem Problem gegenüber besonders hellhörig zu sein. Allerdings nicht nur unsere eigenen Erfahrungen.
Die Niederschlagung des Putsches und die Ergebnisse des Kongresses müßten im Ausland alle Zweifel hinsichtlich des Charakters der weiteren Entwicklung in unserem Land beseitigt haben. Jetzt bedarf es aber noch einer großen Anstrengung, um dem Reformierungsprozeß eines großen Landes Sauerstoff zuzuführen. Ganz dringend nötig ist Starthilfe für die Überwindung besonderer Schwierigkeiten bei der Lebensmittelversorgung, bei der Produktion in der Konsumgüterindustrie, beim Übergang zum konvertierbaren Rubel.
Wir müssen den bevorstehenden Winter überleben. Was Brennstoff und Energie angeht, schaffen wir das aus eigenen Kräften. Aber für Lebensmittel brauchen wir Unterstützung, buchstäblich physische Unterstützung. Für alles, was wir erhalten, werden wir selbstverständlich bezahlen, das wird eine Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen sein.
Wir alle wären unverzeihlich taub gegenüber den Forderungen der Zeit und den neuen Realitäten, wenn wir, nachdem wir es fertiggebracht hatten, uns zu vereinen und die Unsummen für die Lösung des Konflikts am Persischen Golf aufzubringen, keine Antwort auf unsere Krise finden würden, die Weltbedeutung hat und eine kolossale Chance in sich birgt.
Was die auswärtigen Schulden angeht, so werden wir unseren Zahlungsverpflichtungen nachkommen. Es sollte nur berücksichtigt werden, daß wir in der gegenwärtigen Etappe des beschleunigten Übergangs zur Marktwirtschaft und der Stabilisierung die Unterstützung des Westens, besonders Europas benötigen sowie eine maximale Bereitschaft, uns entgegenzukommen.
Der Putsch wurde niedergeschlagen. Die Demokraten feiern den Sieg, aber das Leben will Taten sehen. Deshalb haben wir auch keine Zeit, uns faul auf die berühmte Bärenhaut zu legen. Wir müssen andere werden. Dann werden wir auch besser leben.
Die Furcht vor großen Veränderungen nährt im Bewußtsein der Massen den Wunsch, innezuhalten, gar zurückzufallen, damit man - während dieser Pause - alles noch einmal überdenken und womöglich neu beginnen kann. Darauf spekulieren alle, die eine Notwendigkeit von Umgestaltungen nicht wahrhaben wollen und sich ihnen seit langem widersetzen. Das sind orthodoxe Dogmatiker, Menschen der Vergangenheit mit in Stereotypen festgefügter Denkweise und mit beschränktem Horizont.
Unter denen, die dazu auffordern, innezuhalten und nachzudenken, sind auch »Linke« neostalinistischer Prägung aufgetaucht. Sie verlangen Stillstand, wollen Ordnung schaffen mit Hilfe der Diktatur, die alle durch die Perestroika erkämpften Rechte und Freiheiten beseitigen, bestenfalls einfrieren würde. Diese Ansicht breitet sich aus, denn das Volk ist müde, zermürbt durch Unordnung, Mängel und Ungewißheit, es lechzt geradezu nach einer Verschnaufpause und würde nicht widerstreben, wenn jemand »käme« und wieder »alles von oben her regelte«. Möglicherweise wären es nicht wenige, die diesen Aufrufen folgen würden.
Diktatorenanwärter und Anhänger des Stalinismus düngen nach Kräften diesen Nährboden für Populismus. Die für sie arbeitenden Massenmedien fördern die nostalgische Spießersehnsucht nach den Zeiten der Stagnation, als alles, was man so tagtäglich brauchte, recht und schlecht da war - und was Freiheit und Demokratie angeht, wer kräht danach angesichts von Armut und Arbeitslosigkeit? Allen Ernstes und öffentlich werden Loblieder auf Pinochet und Franco gesungen: Ein paar Jahre richtige Diktatur, und wir haben den freien Markt, die Demokratie, den Aufschwung und das satte Leben.
Ich bin der festen Überzeugung, daß die Probleme nur verfassungsmäßig gelöst werden können. Darin liegt Schwäche, aber auch Kraft. Kraft insofern, als die Gesellschaft, die Menschen, nachdem sie endlich frei sind, auch die Möglichkeit erhalten haben, ihre demokratischen Rechte zu realisieren, und das ist ihnen teuer. Schwäche deshalb, weil es im Falle von Mißbrauch dieser Rechte sehr schwer wird, Gewalt anzuwenden, selbst wenn sie gesetzlich gerechtfertigt ist. Darin liegt die Besonderheit der Perestroika insgesamt. Nicht um die Vollmachten des Präsidenten geht es, sondern um die moralisch-politische Einstellung.
Unsägliche Anstrengung hat es gekostet, die neue Revolution in einem Land, das an Gewalt und Willkür gewöhnt war, in friedlichen Bahnen zu halten, und endlich haben wir eine Gesamtkonzeption für den Aufbruch nach vorn gefunden. Sie besteht aus einer Triade miteinander verbundener Hauptrichtungen, und nur sie können zu den Zielen der Perestroika führen. Das sind: die Reformierung des Staates; die Reformierung der Wirtschaft; der Anschluß des Landes an den Weltmarkt und durch diesen und mit Hilfe des neuen Denkens an das Gesamtstromnetz der Weltzivilisation.
Die politische Reform hat dazu geführt, daß der Staat ein anderer geworden ist und auch seinen Namen ändert. Die Gesellschaft entideologisiert sich zusehends. Die monopolartige Vorherrschaft einer Partei wird von pluralistischen Strukturen abgelöst. Glasnost und die Freiheit des Wortes sind schon nicht mehr wegzudenkende Charakterzüge des gesellschaftlichen Lebens.
Die Wirtschaftsreform hat den Übergang zur Marktwirtschaft auf der Grundlage vielfältiger Eigentumsformen unumkehrbar gemacht. Beide Reformen haben dem Land die Türen geöffnet, damit es »unter Beachtung der allgemein üblichen Spielregeln« dem Weltwirtschaftssystem beitreten kann.
Ausgangsposition der Perestroika war die tiefe Überzeugung, daß man so nicht mehr weiterleben konnte. Was im Lichte der Glasnost über unsere Vergangenheit aufgedeckt wurde, hat unerbittlich und hart bestätigt, daß dieses System, errichtet nach den Regeln der Tyrannei und des Totalitarismus, aus moralischer und aus der Sicht grundlegender ökonomischer und sozialer Interessen des Landes nicht länger geduldet werden konnte. Es hatte uns in eine Sackgasse, an den Rand eines Abgrund geführt.
Die Perestroika war lebensnotwendig. Es gab keine andere Möglichkeit, aus dem Teufelskreis auszubrechen, in den das Land geraten war.
Das Hauptprinzip der Perestroika ist, wenn man es philosophisch betrachtet, die Unzulässigkeit jedweden künstlichen Schemas, das man der Gesellschaft wieder aufzwingen könnte, und sei es in wohlmeinender Absicht, um sie »von oben her« zu beglücken.
Wir handeln in einer konkreten historischen Situation, in einer konkreten sozialökonomischen Lage und müssen den Realitäten Rechnung tragen, die Sprache der Wahrheit sprechen und keine aus der Vergangenheit entlehnten Phrasen dreschen.
Solange wir nicht aufhören die Urväter anzubeten und solange wir fortfahren, die Wahrheit in der Konfrontation mit dem demokratischen Denken im Ausland zu suchen, bringen wir uns um die Möglichkeit, den Sozialismus, für den wir uns entschieden haben, auf heutigem Niveau zu verteidigen.
Die Demokratie weitet sich aus, obwohl ihre Formen nicht gefestigt sind. Die Gesellschaft lebt jetzt anders. Wir stehen an der Schwelle eines großen Einschnitts in der Geschichte unseres Landes. Als Ergebnis zugespitzter Diskussionen, harter schöpferischer Arbeit, die die Meinungen, Sorgen und Interessen Dutzender Völker angehäuft hat, als Ergebnis eines nicht einfachen politischen Kampfes, der wiederum beweist, wie gewaltig groß unser Werk ist, entsteht nicht irgendein Staat, sondern ein neuer, nie dagewesener, nie gekannter.
Wir dürfen jetzt bloß nicht die Flinte ins Korn werfen, nicht stehenbleiben auf dem kritischsten Punkt der Gratwanderung. Das wäre der allergrößte und ein nicht wiedergutzumachender Fehler. Es wäre Selbstmord, wollten wir auch diesmal - wie in den fünfziger und sechziger Jahren - auf halbem Wege Angst bekommen und innehalten. Wir würden zurückfallen.
Es ist richtig, alles braucht seine Zeit, um zu reifen. Nur, für uns wird die Zeit knapp. Wir dürfen jetzt bloß nicht in Panik und Auflösung verfallen. Wir brauchen einen kühlen Kopf, Durchhaltevermögen und Mut, aber auch klares Denken und ein feines Gespür für die widerspruchsvollen Prozesse. Und vor allem brauchen wir den Glauben an die begonnene Sache.
Dazu ist es wichtig, nicht die Orientierung zu verlieren, der sozialistischen Perspektive treu zu bleiben und voranzuschreiten, auch wenn es Schwierigkeiten und Fehler gibt. Alles muß so getan werden, daß die Früchte dessen, was vor sechs Jahren begonnen wurde, für die Menschen schnellstmöglich greifbar werden - in den Regalen der Geschäfte, auf den Straßen, im Alltag, am Arbeitsplatz und in den Arbeitsbedingungen.
Wir haben die Möglichkeit, die ersten Ergebnisse schon in allernächster Zeit zu erreichen und den nötigen Schwung zu bekommen, um die dringendsten Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Die Ernte ist fern, aber sie wird sicher sehr reich ausfallen.
© 1991 C. Bertelsmann Verlag GmbH, München. Der vollständige Text des Gorbatschow-Buches erscheint am 31. Oktober unter dem Titel »Der Staatsstreich«; 180 Seiten; 29,80 Mark.
* Nursultan Nasarbajew, Präsident Kasachstans; Nikolai Dementej,Vorsitzender des Obersten Sowjet von Belorußland; Islam Karimow,Präsident Usbekistans.