BONN / CDU Alles Quatsch
Eine Frau von fünfzig Jahren blies Kurt Georg Kiesinger den »Dombrowski-Marsch": »Herr Bundeskanzler, noch ist Polen nicht verloren.« Mit diesem Anfangsvers der polnischen Nationalhymne trat eine unbekannte Wählerin am letzten Donnerstag in Mülheim (Ruhr) ihrem Idol in den Weg. Der Kanzler auf Abruf gelobte ihr: »Wir werden weiterkämpfen.«
Wie der CDU-Vorsitzende zu kämpfen gedenkt, offenbarte er wenig später seinen nordrhein-westfälischen Parteifreunden bei der Eröffnung des Kommunalwahlkampfes in der Ruhr-Stadt. Um nach dem Verlust des Kanzleramtes nicht auch noch die Führung der Christen-Union zu verlieren, will er vor allem die Reformer niederhalten: »Wer so redet wie diese Herren, redet uns konsequent um den Sieg.«
Vor »diesen Herren« setzte der oberste Christdemokrat noch am selben Tag in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion seine Reformer-Beschimpfung fort. Die Reformthesen von Ernst Benda, Gerhard Stoltenberg und Manfred Wörner qualifizierte er ab: »Das ist doch alles Quatsch.«
Keiner der Gescholtenen meldete sich zu Wort. Eine offene Konfrontation mit Kiesinger schien ihnen noch zu früh. Die Reformer wollen die Zeit bis zum Bundesparteitag Mitte November nutzen, um parteiintern Personal-Veränderungen vorzubereiten.
Die umstrittenen Unions-Patriarchen versuchen unterdessen, das widerspenstige CDU-Jungvolk unter Kontrolle zu halten. Als sich nach der Fraktionssitzung die christdemokratischen Parlamentsneulinge in der parteieigenen Polit-Akademie Eichholz bei Bonn versammelten, vermutete der um sein Amt fürchtende Generalsekretär Bruno Heck Verschwörung und ließ sich vorsorglich bei den Bundestags-Debütanten blicken.
Gastgeber und Chefreformer Manfred Wörner, den die Partei-Erneuerer an Hecks Stelle zum Generalsekretär wählen wollen, beließ es bei einer Einweisung in die Parlamentsarbeit.
Um seine Pläne nicht zu gefährden, befolgte Wörner den Rat von Freunden, sich nach seinem ersten öffentlichen Kiesinger-Angriff (SPIEGEL 42/1969) nun zurückzuhalten und seine Stellung in der Fraktion abzusichern.
Ersten Rückhalt fand Wörner letzte Woche bei der Wahl des Sprechers der baden-württembergischen CDU-Bundestags-Abgeordneten: Er setzte sich gegen den blassen Konservativen Eduard Adorno leicht durch.
Schon die ersten zaghaften Reformansätze erinnerten Kurt Georg Kiesinger an das Schicksal seines glücklosen Vorgängers Ludwig Erhard. Kiesinger über Erhard und sich selbst: »Ich habe diesem Mann bis zuletzt die Stange gehalten, wie es meiner Meinung nach gute Sitte in einer demokratischen Partei sein sollte.«