Rußland »Alles scheiterte an Dudajew«
SPIEGEL: Wjatscheslaw Alexandrowitsch, Präsident Jelzin droht den Tschetschenen wieder mit Krieg. Waren Ihre Verhandlungen vergebens?
Michailow: Sie waren erfolgreich und unser Präsident droht niemandem mit Krieg. In 45 Tagen haben wir die friedliche Beilegung des militärischen Konflikts ausgehandelt: Waffenruhe, Entwaffnung von illegitimen Kampfverbänden, Rückzug der russischen Truppen in Etappen. Auf diese Vereinbarung haben wir sogar gemeinsam ein Glas Sekt getrunken.
SPIEGEL: Aber in und um Grosny wird weiter geschossen. Gefangenenaustausch, Entwaffnung und Truppenabzug kommen nicht voran. Haben Sie zu früh gefeiert?
Michailow: Jedenfalls haben wir ziemlich bald bemerkt, daß es mit der Umsetzung hapert. Zum Beispiel vermuteten wir 56 Gefangene bei den Tschetschenen, ihr Verhandlungsführer sprach sogar von 84. Doch als der Austausch nach dem Prinzip »Alle gegen alle« beginnen sollte, präsentierte die Gegenseite plötzlich nur noch 7 Mann. Inzwischen sind es wenigstens schon wieder 25. Bislang hat auch der Austausch militärischer Daten und Karten - etwa über Minenfelder - noch nicht begonnen. Die Tschetschenen schieben technische Gründe vor . . .
SPIEGEL: . . . an die Sie nicht glauben?
Michailow: Dudajew hat inzwischen in seinem Verteidigungsrat die Verhandlungsergebnisse um 180 Grad herumgedreht. Danach sollen nur Dudajew-Gegner ihre Waffen abgeben. Das gesamte Kommando von Schamil Bassajew . . .
SPIEGEL: . . . des Geiselnehmers in der russischen Stadt Budjonnowsk, der durch seine Aktion die Verhandlungen erzwang . . .
Michailow: . . . wurde von der Liste der gesuchten Verbrecher gestrichen und auf die Ehrenliste der »Ewigen Söhne und Töchter der tschetschenischen Nation« gesetzt.
SPIEGEL: Haben Sie ernsthaft geglaubt, die Tschetschenen würden sich an der Fahndung nach Bassajew beteiligen, obwohl er als Nationalheld gilt?
Michailow: Mir liegt ein von Dudajew eigenhändig unterschriebenes Papier vor über die Zusammensetzung der tschetschenischen Delegation. Darin bestätigt er, daß er jedes Ergebnis akzeptiert, dem seine fünf Beauftragten zugestimmt haben. Das ist bei unserem Abkommen der Fall.
SPIEGEL: War nicht das eigentliche Ziel Ihrer Gespräche in Grosny, den zum russischen Staatsfeind erklärten Präsidenten Dudajew zu isolieren, innertschetschenische Zwistigkeiten auszunutzen und mit willigeren Partnern zu annehmbaren Ergebnissen zu kommen?
Michailow: Die Staatsanwaltschaft hat eine landesweite Fahndung nach Dudajew eingeleitet. Vor einer Gerichtsentscheidung darf Dudajew nicht als Staatsverbrecher bezeichnet werden. Vor den Verhandlungen hat sich mein Stellvertreter Arkadij Wolski sogar mit Dudajew getroffen, um seine Haltung auszuloten. Dabei wurde klar: Er würde nur torpedieren. Ich will keinen Hehl daraus machen, daß wir uns während der Verhandlungen an andere Kräfte, zum Beispiel an die Feldkommandeure, herangetastet haben, die kompromißbereiter sind als Dudajew.
SPIEGEL: Billigen Sie Dudajew wieder eine politische Zukunft zu?
Michailow: Es gibt keine Hoffnung, mit ihm in grundlegenden Fragen ins Benehmen zu kommen.
SPIEGEL: Aber Dudajew besitzt nach wie vor reale Macht, sonst würden Sie mit seinen Vertretern doch gar nicht verhandeln.
Michailow: Er hat Einfluß auf einen Teil der Kommandeure, auf die Unversöhnlichen. Die kontrollieren heute noch etwa ein Viertel des tschetschenischen Territoriums.
SPIEGEL: Erschwert es nicht Ihren Verhandlungsauftrag, wenn Präsident Jelzin und Premier Tschernomyrdin die Tschetschenen-Führer als Banditen beschimpfen?
Michailow: Als Vertreter der Exekutive muß ich mit allen verhandeln, mit Verbrechern, Banditen, sogar mit dem Teufel, wenn es um die friedliche Beilegung von Konflikten geht.
SPIEGEL: Bisher blieb unklar, welchen Grad an Unabhängigkeit die Tschetschenen-Republik künftig haben soll. Wann und wie wollen Sie dieses heikle Problem lösen?
Michailow: Unserer Auffassung nach kann von »Unabhängigkeit« nur im Rahmen eines einheitlichen Staates die Rede sein. Über Besonderheiten des Status der Tschetschenischen Republik soll nach Neuwahlen entschieden werden - entsprechend dem Selbstbestimmungsrecht und den internationalen Menschenrechtsnormen, in Übereinstimmung mit der russischen Föderationsverfassung und mit der Verfassung der Tschetschenischen Republik.
SPIEGEL: Fühlt sich die russische Armee durch das Abkommen nicht um den Sieg betrogen? Von bedingungsloser Kapitulation der Tschetschenen kann ja keine Rede sein.
Michailow: Manche sind in der Tat dieser Meinung. Doch das Wort vom gestohlenen Sieg geht auch auf tschetschenischer Seite um.
SPIEGEL: Ihr Stellvertreter Arkadij Wolski sprach oft von einer »Kriegspartei« in Moskau. Verraten Sie uns, wer an der Spitze dieser Partei steht?
Michailow: Leider weiß das niemand, es ist eben eine sehr eigentümliche Partei. In der Duma haben 89 Abgeordnete dafür gestimmt, den »Feind im eigenen Nest zu vernichten«. Soll man die dazurechnen?
SPIEGEL: Verbreiteter ist in Rußland die Meinung, ein Kompromiß mit den Tschetschenen wäre auch ohne Krieg zu erreichen gewesen.
Michailow: Ja, 1991/92 wäre ein Kompromiß möglich gewesen. Doch in dem Maße, in dem Tschetschenien sich bewaffnete, verringerten sich diese Chancen. Dudajew wollte nur noch mit Ebenbürtigen, also mit Jelzin oder wenigstens mit Tschernomyrdin verhandeln. Und zwar ausschließlich als Vertreter eines unabhängigen Staates. Alles scheiterte an Dudajew.
SPIEGEL: Zehntausende von Toten in einem brutalen Krieg gegen ein kleines Volk - gibt es da in Moskau wirklich niemanden, der zur Rechenschaft gezogen werden muß?
Michailow: Die Bezeichnung »Krieg« ist ungenau. Die Föderationstruppen erfüllten ihren Auftrag - die Entwaffnung der illegitimen Kampfverbände. Sie taten ihre Pflicht. Was aber die Menschenrechtsverletzungen betrifft, gibt es eine Menge zu verantworten und zu bestrafen. Früher oder später wird jedes Detail dieses Dramas untersucht werden müssen. Dazu gibt es einen Beschluß der Staatsduma.
SPIEGEL: Das scheint uns nicht sehr wahrscheinlich in Rußland, wo so wenig aufgeklärt und viel verschleiert wird.
Michailow: Opfer unter der Zivilbevölkerung sind bereits Gegenstand staatsanwaltschaftlicher Untersuchungen.
SPIEGEL: 40 Millionen Dollar pro Kriegstag hat das Tschetschenien-Abenteuer den russischen Staat gekostet. Warum dieser riesige Aufwand, um einer der ärmsten Regionen der ehemaligen Sowjetunion den Weg in die staatliche Unabhängigkeit zu verlegen?
Michailow: Ihre Zahl kann ich weder bestätigen noch widerlegen, aber sie wird häufig genannt. In den dramatischen Tagen der terroristischen Geiselnahme von Budjonnowsk schlug Schamil Bassajew unserem Premier telefonisch vor, in Rußland ein Referendum darüber abzuhalten, ob Tschetschenien Mitglied der Föderation bleiben solle oder nicht. Ein schlauer Schachzug: Es könnte sein, daß heute mehr als 50 Prozent der Russen dafür stimmen würden, Tschetschenien auszuschließen . . .
SPIEGEL: . . . warum also nicht, wenn die Mehrheit beider Völker es so will?
Michailow: Mir ist ein solcher Standpunkt fremd. Für mich ist und bleibt Rußland ein einheitliches Land. Die Geschichte hat es so gewollt, daß der Kaukasus zu einem Teil Rußlands wurde. Weder die USA noch Frankreich noch ein anderer Staat würden zulassen oder auch nur erwägen, einen Teil ihres Staatsgebiets in die Selbständigkeit zu entlassen.
SPIEGEL: Von Ihnen war zu hören, die Russische Föderation sei kein Zimmer, das man einfach betreten und wieder verlassen könne. Halten Sie nicht viel vom Selbstbestimmungsrecht kleiner Völker?
Michailow: Selbstbestimmung muß einem Volk die volle Entfaltung ermöglichen, jedoch im Rahmen eines einheitlichen Staates. In Rußland leben 156 Völkerschaften. Sollen etwa ebenso viele neue Staaten entstehen?
SPIEGEL: Wer diesen Weg gehen will, muß es versuchen dürfen.
Michailow: In Rußland besteht die Bevölkerung zu 82 Prozent aus Russen. Nach internationalen Standards sind wir ein mononationaler Staat.
SPIEGEL: Sie haben schon im ZK der KPdSU Nationalitätenfragen bearbeitet. Hätten Sie damals gedacht, daß die angeblich ewige Freundschaft der Sowjetvölker sich so rasch in ethnischem Streit und Blutvergießen auflösen würde?
Michailow: Offen gestanden, nein. Doch das Grundprinzip ist bis heute nicht erschüttert worden. Auch in Tschetschenien haben wir es nicht mit einer ethnischen Auseinandersetzung zu tun. Viele Russen mußten aus Tschetschenien fliehen, weil es soziale, wirtschaftliche und politische Fehlentwicklungen gab - und nicht, weil die Freundschaft zwischen Russen und Tschetschenen aufgekündigt worden wäre. Der Konflikt in Tschetschenien ist eigentlich ein reiner Verfassungskonflikt, ausgelöst durch einen Militärputsch unter der Fahne der Unabhängigkeit gegen die Integrität des russischen Staates.
SPIEGEL: Empfinden Sie den Untergang der UdSSR als historischen Verlust?
Michailow: Die Auflösung der Sowjetunion war nicht unvermeidlich. Den ersten und größten Fehler hat damals Rußland gemacht, indem es sein nationales Gesetz über das der Union stellte. Heute weiß man: Ihr Verlust ist ein Verlust für alle. Y