EURATOM / ISPRA Alles schwankt
Als das Baby 1961 geboren wurde, freuten sich die sechs Väter -- und zahlten. Den inzwischen herangewachsenen Zögling lassen sie jetzt langsam verhungern.
Das Kind: Europas Atomforschungszentrum Ispra am Lago Maggiore. Die Väter: die in der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) zusammengeschlossenen Länder Belgien, Bundesrepublik, Frankreich, Italien, Luxemburg und Niederlande.
1961 hatte Euratom das Forschungszentrum, in dem italienische Atomwissenschaftler seit 1957 glücklos experimentiert hatten, für einen Dollar Pacht im Jahr übernommen. Damals bewilligten die Sechs jährliche Haushaltsmittel von über 100 Millionen Mark. Denn Ispra sollte die »Voraussetzungen für die Entwicklung einer mächtigen (europäischen) Kernindustrie schaffen« -- so der Euratom-Vertrag.
Heute hat Ispra zwar noch 2200 Bedienstete (darunter 1750 »Europa-Beamte"), aber vorerst kein Jahres-Budget mehr, sondern lebt von monatlichen Zwischenzahlungen. Ispra-Generaldirektor Hendrikus Kramers zum SPIEGEL: »Unser Geld ist zu Ende. Wir können nicht einmal mehr einen Hilfsarbeiter einstellen.«
Die sechs Väter sind an ihrem kostspieligen Zögling kaum noch interessiert. Vor allem die Franzosen, die von Anfang an die Brüsseler Euratom-Spitze beherrschten, wollten in ihren eigenen Labors einen klaren Vorsprung gewinnen und verhinderten daher praktisch jede Grundlagenforschung in Ispra.
Am Einspruch Frankreichs scheiterte auch der Plan, Ispra durch die Verpflichtung des deutschen Nobelpreisträgers Mößbauer aufzuwerten. Die Franzosen blockierten Mößbauers Vorschlag, ein Forschungsinstitut für 80 Millionen Mark zu errichten, weil dadurch die Struktur des Ispra-Zentrums zerstört werde.
Statt dessen sorgten sie dafür, daß sich alle Anstrengungen auf das von ihnen vorgeschlagene Projekt eines Schwerwasser-Reaktors konzentrierten -- nach dem französischen »organique« und »eau lourde« kurz »Orgel« genannt.
Seit Jahren arbeiten zwei Drittel des Ispra-Personals an diesem Projekt und verbrauchten dafür 85 Prozent des Budgets, obwohl sich keines der Euratom-Länder -- Frankreich eingeschlossen -- ernsthaft für Orgel interessiert.
In Cadarache entwickeln die Franzosen, in Karlsruhe die Deutschen bereits sogenannte Schnellbrut-Reaktoren, die einen sehr geringen Bedarf an Kernbrennstoff haben und voraussichtlich billigeren Strom als der Orgel-Reaktor liefern werden.
Sollte also Orgel eines Tages wirklich gebaut werden, wird er vermutlich längst überholt sein. Dr. Helmut Neu, international anerkannter Ispra-Spezialist für die Direktumwandlung von Kernenergie in Elektrizität: »Alle diese Probleme kann heute die Industrie lösen. Dazu braucht man kein internationales Forschungszentrum.«
Zahlreiche Wissenschaftler resignieren deshalb bereits. Die Orgel-Arbeiten, die bisher 460 Millionen Mark verschlungen haben, sind für sie unattraktiv geworden, und obendrein erließ die Euratom-Kommission einen Einstellungsstopp, so daß die rund 450 Atomforscher durchschnittlich nur je zwei wissenschaftliche Hilfsarbeiter zur Verfügung haben.« Das mag für ein Universitätslabor genügen«, klagte Generaldirektor Kramers, »aber nicht für ein internationales Kernforschungszentrum.« Gleichwohl bestanden Belgier und Franzosen darauf, daß in Ispra weiter georgelt wird. Lediglich die Italiener begehrten auf.
»Die Euratom-Krise«, erklärte Außenminister Fanfani, »kann nur überwunden werden ... wenn abgestandene Gemeinschaftsprojekte reduziert oder eliminiert werden.«
Rom offerierte einen Orgel-Ersatz: den mit Plutonium gespeisten Schnellbrüter PEC (Prova Elementi Combustibili). Dieses Projekt, so die Italiener, solle Euratom mitfinanzieren.
Die Italiener, die mit eigenen Reaktor-Projekten bislang kein Glück hatten, möchten in der Schnellbrüter-Forschung mit Deutschen und Franzosen gleichziehen.
In fünf Jahren haben sie über 44 Millionen Dollar in den Euratom-Fonds eingezahlt, aber für ihre Projekte nur knapp 30 Millionen erhalten.
Italiens Partner zögerten jedoch, neben dem Orgel- auch noch das PEC-Projekt in Angriff zu nehmen. Und weil sie Italien blockierten, blockierte Italien seinerseits die Gemeinschaft: Roms Vertreter in der für Budget-Fragen zuständigen Brüsseler Kommission räumte seinen Stuhl.
Vor dem Ministerrat in Brüssel grollte Roms Industrieminister Giulio Andreotti: »Die Europäische Atomgemeinschaft ist gescheitert. Sie muß von Grund auf erneuert werden.«
Aber weder markige Worte noch Pressionen halfen. Unter Führung von Frankreich lehnte es der Euratom-Ministerrat ab, das italienische PEC-Projekt mitzufinanzieren. Italien, so scheint es, wird also auch künftig reguläre Budgets für Ispra blockieren. Und in Ispra wird die Unlust wachsen.
Generaldirektor Kramers: »Alles schwankt bedenklich.« Und Verwaltungsdirektor Zampetti: »Eine neue Kernforscher-Emigration nach Amerika steht bevor.«