SEKTEN Alles umkehrbar
Die Bundesregierung beobachtete »mit Sorge die Entwicklungen in der deutschen Sektenszene« und den dort praktizierten »Indoktrinationsprozeß, der zu tiefgreifenden krankhaften Persönlichkeitsveränderungen« führe. Das Bundesfamilienministerium registrierte dazu eine »wachsende Hörigkeit der Sektenmitglieder« und »Fälle S.71 schwerer psychischer Störungen«. Die Bundesländer standen bei derlei Diagnosen in nichts nach. So stuften die Bayern die »sog. Jugend- und Psychosekten« in einem Gesetzentwurf als »pseudoreligiös« und »gesellschaftsgefährdend« ein.
Die Landesregierung von Rheinland-Pfalz sprach in einer Expertise gar von »psychischer und physischer Körperverletzung« mit »verheerenden Folgen": Der Betroffene finde sich nämlich »im Leben nicht mehr zurecht« und bedürfe einer »langen psychiatrischen Behandlung«.
Solche amtlichen Alarmberichte machten den Münchner Diplom-Psychologen Georg Sieber, 45, hellhörig, der früher schon Polizei, Penner und Patentbeamte seelisch getrimmt hatte. Wegen des vermeintlichen psychologischen Massenbedarfs rund um die Sekten wollte er nun gleich ein überkonfessionelles Beratungsinstitut mit Filialen in allen größeren Städten gründen.
Zuerst einmal aber fühlte er vor, um den tatsächlichen »Bedarf an Beratung zu evaluieren«. Er stellte ein Budget von 40 000 Mark bereit und setzte vier Mitarbeiter seines Poko-Instituts an die Arbeit.
Über Berichte in Tageszeitungen, Annoncen in Wochenzeitungen und Magazinbeiträgen bei fünf Rundfunksendern wurden in drei Monaten über 20 Millionen Menschen mit seinem Beratungsangebot vertraut gemacht. Ergebnis laut Sieber-Studie: »Eine Reaktion in Form einer Anfrage, eines Hilfeersuchens oder wenigstens einer Stellungnahme konnte nicht registriert werden.«
Danach klapperten die Poko-Psychologen an die hundert einschlägige Organisationen und Beratungsstellen ab -- etwa die von geplagten Eltern gegründete und mittlerweile von Bonn mitfinanzierte »Aktion für geistige und psychische Freiheit«, wo die Bitte nach »zumindest einer Stichprobe« aus Gründen der Anonymität und Vertraulichkeit abgelehnt wurde.
Die städtische Erziehungsberatungsstelle München nannte für die letzten eineinhalb Jahre vier einschlägige Fälle, jedoch ohne nähere Spezifikation. In dem vom Bund der Deutschen Katholischen Jugend getragenen Deprogrammierungszentrum »Haus Altenberg« fanden die Sieber-Forscher bei zwei Besuchen nur eine vierköpfige »christliche Wohngemeinschaft« vor. Und die beim Bundesfamilienministerium zuständige »Dienststelle Gesch.Z. 211--2007« verfügte laut Sieber-Studie auch »über keine konkreten Zahlen«.
Fazit der Münchner Psychologen: »Selbst bei großzügiger Interpretation muß davon ausgegangen werden, daß Beratungsfälle nur außerordentlich selten auftreten und nur ausnahmsweise erfaßbar sind.« Und »so dramatisch im Einzelfall der Kontakt eines Menschen mit einer noch ungewohnten Weltanschauungsgruppe« verlaufen mag, so könne jedenfalls »nicht von einer allgemeinen Gefahr für die Öffentlichkeit gesprochen werden«. Sieber, über seine Fehlinvestition enttäuscht: »Ich habe geglaubt, da ist ein Riesenproblem wie bei den Pennern.«
Während freilich die Penner wie ihre Probleme inmitten der Großstädte offen zutage treten, handelt es sich bei Sektengeschädigten um ein sehr viel scheueres Publikum, das seine Sorgen nach Kräften zu verbergen trachtet. Besonders jugendliche Betroffene werden nach Rückkehr in die bürgerliche Welt häufig von verschämten Familienangehörigen sorgfältig abgeschirmt.
Siebers Ergebnisse stellen die Schriften und Verlautbarungen des bundesweit bekannten evangelischen Sektenpfarrers Friedrich-Wilhelm Haack ein wenig in Frage, der in zahlreichen Büchern den »religiösen Untergrund« ausgeleuchtet hat und stets kampfesfreudig die »5. Kolonnen Satans« attackiert. Auch Haack war übrigens von den Sieber-Rechercheuren konsultiert worden -- wenngleich »ergebnislos«.
Diese Erfahrung hatten schon vor den Münchner Psychologen Wissenschaftler der Universität Tübingen gemacht, die im Auftrag des Bundesfamilienministeriums ganz Europa und die USA bereisten, um eine »wissenschaftliche Vorstudie im Bereich der neuen Jugendreligionen« zu erstellen.
In dem »nur für Behörden und zur wissenschaftlichen Auswertung bestimmten« Bericht heißt es, daß gerade »kirchliche Fachleute für Sekten- und Weltanschauungsfragen« in Deutschland nicht eben kooperativ waren, obschon sie doch »Besitzer angeblich bedeutender Archive« sind.
Gleichwohl gelangten auch die Tübinger Forscher bei der Sichtung der »polemisch-engagierten Literatur z. B. von Kirchen, Elterninitiativen, Sektengegnern u. a.« zu dem »Eindruck, als dienten immer wieder dieselben Fälle zur Illustration der vorgetragenen Urteile«.
Bei einer Podiumsdiskussion der sektennahen »Gesellschaft zur Förderung religiöser Toleranz und zwischenmenschlicher Beziehungen e. V.« räumte unlängst der Tübinger Projektleiter Hochschullehrer Günter Kehrer freilich auch ein, daß ihm nach zweijährigem Studium das Treiben der Sekten »manchmal sehr auf die Nerven fällt«. Es sei für eine Gesellschaft, die von der Scheidung bis zur Abtreibung »alles für umkehrbar« halte, nun einmal »schwierig zu verstehen, daß jemand Religion so blutig ernst nimmt«.
Sogar Sekten- und Satans-Pfarrer Haack saß mit auf dem Münchner Podium -- und gab sich überraschend milde. Letztlich hatte er nur die »Wucherpreise« mancher Sekten zu beanstanden: »Wenn diese Dinge einmal vorbei sind, wird man anders über und mit den Sekten reden.«
Aber dies ist nun wieder manchen Sektenfreunden nicht recht. Der Münchner Rechtsanwalt Jobst Freiherr von Hanstein, der sich in Klammern als »Swami Prem Gunakar« bezeichnet und sich als »Jünger des erleuchteten Meisters Bhagwan Schri Radschnisch« vorstellt, fuhr dem diesmal so milden Sekten-Schreck gleich ordentlich in die Parade: »Die Reklame, die Pfarrer Haack bisher für uns gemacht hat, ist doch unbezahlbar.«