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Medizin Allgemeines Rätsel

Alleingang von Rudolf Scharping: Der SPD-Kanzlerkandidat erlebt mit seinem Transplantationsgesetz einen Reinfall.
aus DER SPIEGEL 29/1994

Die Hunderttausende von Touristen, die an der Mosel bechern oder in Mainz zur Fassenacht schunkeln, müssen beileibe nicht wissen, wer das weinselige Rheinland-Pfalz regiert. Wissen sollten sie aber, daß der dortige Ministerpräsident vorige Woche ein Gesetz unterschrieben hat, nach dem der Durchreisende flugs zum Organspender werden kann - ob er will oder nicht.

Nur wer zu Lebzeiten nachweislich seinen Widerspruch erklärt, kann künftig in Rheinland-Pfalz verhindern, daß ihm nach seinem Tod Leber, Nieren oder Herz zur Rettung von Kranken entnommen werden. So steht es im Mainzer Transplantationsgesetz, das Rudolf Scharping, Ministerpräsident und SPD-Kanzlerkandidat, kurz vor der Sommerpause unterzeichnet hat.

Zwar haben die Rheinland-Pfälzer damit bundesweit das erste Organspendergesetz. Doch statt Anerkennung geht nun kübelweise Kritik über ihnen nieder.

Einen »Verstoß gegen die Menschenwürde« erkannte die oppositionelle CDU-Fraktion, die vergangenen Freitag erst einmal verhinderte, daß Scharpings Organgesetz diese Woche reibungslos in Kraft tritt. Nach der Landesverfassung reicht ein Drittel der Parlamentsstimmen aus, um ein Gesetz vorläufig anzuhalten. Seine Partei, so CDU-Fraktionschef Christoph Böhr, prüfe nun sowohl eine Verfassungsklage wie einen Volksentscheid gegen das Gesetz.

Rückenstärkung bekam die Mainzer Union aus Bonn und den Bundesländern. Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) sprach von einem »Rückschritt«, der dem Selbstbestimmungsrecht der Bürger nicht gerecht werde. Auch Scharpings Genossen sind von ihrem Parteichef abgerückt.

Die anderen Bundesländer haben sich auf eine sogenannte Informationslösung geeinigt. Danach können Angehörige eine Leichenöffnung des toten Anverwandten verhindern, wenn der nicht zu Lebzeiten sein Einverständnis erklärt hat. Einen entsprechenden Gesetzentwurf haben Hessen und Bremen inzwischen in den Bundesrat eingebracht. Auch Seehofer strebt dieses Modell an.

Die SPD-Bundestagsfraktion geht noch weiter. In einem bereits im Juni eingebrachten Antrag verlangen die Sozialdemokraten eine »erweiterte Zustimmungslösung«. Danach soll schon dann eine Organentnahme nicht möglich sein, wenn der Wille des Verstorbenen »nicht zweifelsfrei« geklärt werden kann. Das Widerspruchsmodell, heißt es in der Begründung, wäre ebenso wie die Informationslösung »verfassungsrechtlich und ethisch bedenklich« - ein Tritt für Scharping.

Heftiger Einspruch kam auch von der Kirche. Der »sterbende Mensch«, wandte sich der Mainzer Katholiken-Bischof Karl Lehmann empört an Scharping, müsse nun »nachweisen, daß seine Organe im Körper verbleiben sollen«.

Nicht einmal die Ärzte, die seit Jahrzehnten über fehlende rechtliche Klarheit zur Organtransplantation klagen, begrüßen die neue Regelung. Sie befürchten vielmehr, daß der Mainzer Alleingang die Bereitschaft in der Bevölkerung, die Lunge oder Knochenmark zu spendieren, noch weiter dämpft. Die »Nacht-und-Nebel-Aktion«, so eine Sprecherin der Deutschen Stiftung Organtransplantation, »stellt den Grundkonsens in Frage«.

Das Mainzer Gesetz sieht vor, daß jeder Bürger, der nicht spenden will, sich seine Weigerung in einem Ausweis des Gesundheitsamtes bescheinigen läßt; das Dokument habe jeder »stets mit sich zu führen«.

Zwar muß der Arzt die Angehörigen einschalten, wenn bei einem Unfallopfer kein schriftliches Nein gefunden wird. Doch er soll die Verwandten einzig nach dem »Willen des Verstorbenen« befragen. Hat der sich jedoch in der Familie nie dazu geäußert, gilt das als Einverständnis. Im Gesetz heißt es: »Ist ein Widerspruch des Verstorbenen gegen eine Entnahme nicht feststellbar, darf sie erfolgen.« Angehörige, die eine Organentnahme ablehnen, so Rudolf Henke vom Ärzteverband Marburger Bund, würden damit »aufs tiefste verletzt oder verführt zu lügen«.

Das Widerspruchsmodell, das auch in der DDR galt, sei, kritisiert Claudia Weisbart vom hessischen Gesundheitsministerium, »das Schärfste, was man einem Toten antun kann«. Schon 1980 war die Bundesregierung mit einer solchen Lösung gescheitert.

Scharping kann die Kritik an dem »Organbeschaffungsgesetz« (Grüne) nicht verstehen. Die Regelung sei nicht nur »verfassungsrechtlich tragbar und nachvollziehbar«, sondern auch »sorgfältig abgewogen«, argumentiert er.

Der SPD-Chef könnte solches Lob noch bereuen. Anstatt der gewünschten Klarheit schafft das Gesetz auch noch auf allen Seiten Verwirrung. Über die praktische Anwendung, heißt es sogar im Mainzer Justizministerium, herrsche »allgemeines Rätselraten«.

So fragen sich Ärzte in Rheinland-Pfalz etwa, wie lange sie bei einem Toten nach dem Nachweis eines Widerspruchs suchen müssen. Unklar ist obendrein, ob sie die Sektion verantworten können, wenn der Tote gar keine Angehörigen mehr hat oder aus einem anderen Bundesland stammt.

Ärzte kündigten schon an, im Zweifel würden sie die Angehörigen um Einwilligung bitten - wie bisher. »In den meisten Fällen«, sagt Oberärztin Ulla Schmidt am Transplantationszentrum Kaiserslautern, »wenden wir das Gesetz vorerst lieber gar nicht an.«

Schafft die CDU es nicht, das Gesetz endgültig zu kippen, wird Rheinland-Pfalz auf absehbare Zeit das Transplantationssonderland bleiben. Kritikern bleibt ein schlechter Trost: Die Pietät wird in jedem Fall gewahrt. Nach der Organentnahme müsse der Leichnam, so regelt es Paragraph 4 des Gesetzes, »in würdigem Zustand zur Bestattung übergeben werden«. Y

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