EINHEIT Alptraum der Wende
Ich weiß genau, von wann an ich mir Sorgen um meinen Freund CvD machte. Der sonst immer so muntere Journalist war ab Ende Juni 1995 nicht mehr gut drauf.
Er vergaß Termine, schaute bei Gesprächen unter vier Augen immer wieder wie gehetzt hinter sich, wechselte seine Wohnungen und wirkte häufig so, als ob er auf der Flucht sei.
Richtige Sorgen machte ich mir aber erst, als CvD eines Tages bei einer unverhofften Begegnung im Foyer des neuen Plenarsaals am Bonner Rheinufer ganz erstaunt zu mir sagte: »Was Rainer, haben sie dich wieder freigelassen?« Auf alle Nachfragen, was er denn mit dieser Bemerkung
* Zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989. ** Christian v. Ditfurth: »Die Mauer steht am Rhein. Deutschland nach dem Sieg des Sozialismus«. Kiepenheuer & Witsch; 256 Seiten; 36 Mark.
gemeint habe, verweigerte er jedoch standhaft jede Antwort.
Da begann ich, genau nachzurechnen, ab wann mein Freund sich so seltsam aufführte. Richtig, es war der 22. Juni 1995. Da hatte der PDS-Abgeordnete Gerhard Zwerenz im Bundestag ehemalige DDR-Dissidenten als »paranoide Revolutionsparodisten« und »Hitlers Kinder« beschimpft und gedroht: »Wir werden die Umtriebe protokollieren für die nächste Wende. Sie kommt gewiss in diesem wendereichen Zeitalter.«
Die Zwerenz-Drohung muss CvD irgendwie aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Er wusste von den Internierungslisten, die die Vorgängerpartei der PDS, Erich Honeckers SED, 1989 für die DDR-Bürgerrechtler vorbereitet hatte.
Und er hatte auch einen Blick auf die Internierungslisten West von 1988 geworfen, nach denen am Tag der Machtübernahme 1400 BRD-Bürger, darunter Richard von Weizsäcker, Ulrich Schwarz vom SPIEGEL und Franz Alt von »Report« sowie linke Kirchenmänner wie Heinrich Albertz und Kurt Scharf zur Verbringung in Lager vorgesehen waren.
CvD ist ein kluger Mensch. Er diagnostizierte seine Angst vor einer »nächsten Wende« als Psychose und folgte dem Rat einer noch klügeren Freundin: »Schreib alles auf, wovor du dich fürchtest!«
CvD hat aus seinen Ängsten gleich ein ganzes Buch gemacht**. Ich habe »Die Mauer steht am Rhein. Deutschland nach dem Sieg des Sozialismus« an einem einzigen Abend in der Stille meiner Friedrichshagener Wohnung gelesen, und es wurde mir ganz anders: CvD hat seinen Alptraum so aufgeschrieben - mit allen Details und allen Namen -, dass ich froh war, als ich in den »Tagesthemen« sah, wie Bundeskanzler Schröder den alten Volvo von »Onkel Herbert« aus der SPD-Baracke herausfuhr und Außenminister Fischer im feinen Zwirn zu diplomatischer Höchstform auflief.
Gott sei Dank nur ein Alptraum. Aber was für einer!
Der Journalist CvD gehört zu den 300 000 Menschen, die seit dem Herbst 1990 als Emigranten in die Schweiz geströmt sind. Am 3. Oktober 1990 wurde die Demokratische Republik Deutschland (DRD) gebildet, nachdem sich die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges darauf verständigt hatten, die deutsche Frage durch eine umfassende Neutralisierung Deutschlands und die Bildung einer Konföderation der Bundesrepublik mit der DDR zu lösen. Zur Absicherung der alliierten Beschlüsse übernahm die Sowjetunion die Kontrolle über Gesamtdeutschland und stationierte ein auf 100 000 Soldaten begrenztes Militärkontingent in Westdeutschland.
Seitdem sind die Isolierungslager in der DRD überfüllt, die gesamtdeutschen Grenzen sind besser geschützt, als es die alten der DDR je waren, die SED ist zur Sozialistischen Einheitspartei der Demokratischen Republik Deutschland (SEdDRD) mutiert, die den DRD-Volkstag beherrscht.
Der Pfarrer Rainer Eppelmann sitzt im Zuchthaus Bautzen, Justizminister Horst Eylmann von der Blockflötenpartei CDU erklärt, er kenne keine politischen Straftäter, sondern nur Kriminelle, IG-Chemie-Chef Hermann Rappe hat längst gestanden, als »Agent des USA-Imperialismus« im Auftrag von Georg Leber die Gewerkschaften indoktriniert zu haben.
Der Städteexpress »Feliks Dsershinski« verkehrt zwischen Warschau und Basel, Wolfgang Mischnicks Memoiren »Vom Liberalismus zum Sozialismus. Ein Leben für Deutschland« sind ein Bestseller, EU-Kommissar Martin Bangemann lebt seit der Einheit von einer fetten EU-Rente in Waterloo, der SPIEGEL hat mit »ausgefeilter Rabulistik« gerade noch die Kurve gekriegt (Ex-SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein sitzt irgendwo im Tessin).
Coop und die DDR-Handelsorganisation (HO) fusionieren, die Club Cola vom VEB Getränkewerk Berlin ist zum Nationalgetränk avanciert, die DRD bekennt sich zum Antifaschismus und leistet deshalb keine weiteren Zahlungen an Nazi-Opfer. Die maximale Dauer der Untersuchungshaft ist auf vier Jahre heraufgesetzt, Innenminister Wolfgang Schäuble legt ein Gesetz über die Wiedereinführung der Todesstrafe vor, in der grünen Partei spricht Andrea Lederer für »die demokratischen Kräfte«, die GEW bildet Schulgewerkschaftsleitungen (SGL).
In fast allen SPD-Landesverbänden haben sich »Sozialistische Arbeitsgemeinschaften« gebildet, auf dem II. SEdDRD-Parteitag, der im Mai dieses Jahres stattfand, bekannte sich die Partei zum Marxismus-Leninismus und zum Aufbau des Sozialismus, Egon Krenz wurde zum Generalsekretär gewählt und Politbüromitglied Karsten D. Voigt mit dem Amt des Ministerpräsidenten und stellvertretenden Staatsratsvorsitzenden betraut.
Der »Polo« heißt nun »Baikal«, Daimler-Benz und BMW fusionierten zum Volkseigenen Betrieb (VEB) Autobau Süd, Siemens gehört wie Bosch zum VEB Elektrotechnik »Ernst Thälmann«.
Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher, Joschka Fischer, Hans-Jochen Vogel, Björn Engholm beschwören im Exil die Werte des Grundgesetzes, Genscher fordert: »Lasst Lambsdorff frei!« Und im »Literarischen Quartett«, das jetzt aus Wien übertragen wird, charakterisiert Marcel Reich-Ranicki Hermann Kants neues Nationalepos »Die Einheit« in gewohnt heftiger Manier: »Ein durch und durch abscheuliches Buch.«
Der Journalist CvD, der sich an der gleichgeschalteten »Rheinischen Post« trotz mancher Anpassungsbemühungen nicht halten konnte und als kleiner Korrektor beim Kirchenblatt »Froher Bote« herausflog, weil er übersehen hatte, dass der Druckfehlerteufel aus der »fruchtbaren Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Kräfte« die »furchtbare Zusammenarbeit« gemacht hatte, beobachtet aus seinem Schweizer Exil genau, wie schnell sich die westdeutsche Gesellschaft den neuen Erfordernissen anpasst.
Der Aufstand im April 1993 mit seinem Zentrum in der Kohlenpott-Stadt Castrop-Rauxel blieb eine Episode, wurde schnell niedergeschlagen, sorgte aber auch dafür, dass bald danach die ersten Intershops eingerichtet wurden.
CvDs Enthüllungen über die deutsche Einheit, ihre Vorgeschichte und ihre Verwirklichung sind ein großes Stück investigativer Journalismus und werden bald auch zu den klassischen Geschichtsbüchern gezählt werden.
Ich bin CvD dankbar für sein Alptraumbuch. Seit ich es gelesen habe, weiß ich noch besser, was wir Ossis an der Bundesrepublik haben - trotz ihrer zahlreichen Macken.
Ich hoffe, dass auch CvD nun wieder ruhig und ohne Alpträume schläft.
* Zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989. ** Christian v.Ditfurth: »Die Mauer steht am Rhein. Deutschland nach dem Sieg desSozialismus«. Kiepenheuer & Witsch; 256 Seiten; 36 Mark.