KRIMINALITÄT Als hätte sie nie gelebt
Dieser verdammte Fall lässt mich nicht los«, gesteht der Kriminalist Reinhard Chedor aus Hamburg. »Er quält mich, er verfolgt mich, er macht mich wütend.«
Niederlagen musste Chedor, 51, in seinem Berufsleben nur selten einstecken. Vom einfachen Schupo, der Strafzettel verteilte und Wirtshausschlägereien schlichtete, brachte er es bis zum Chef des Hamburger Landeskriminalamts (LKA). Auf dem Weg dorthin musste der als zäh und hartnäckig geltende Kripo-Mann viele komplizierte Fälle lösen: als Drogenfahnder, als Sonderermittler, als Einsatzleiter bei Geiselnahmen und Entführungen.
Den Fall jedoch, der ihn mehr als alle anderen beschäftigt hat, den konnte er bis heute nicht lösen.
Am 27. Januar 1999, einem Mittwoch, verschwand mitten in Hamburg ein kleines türkisches Mädchen: Hilal Ercan. Die zehnjährige Schülerin, 1,45 Meter groß, mit langen schwarzen Haaren, tauchte nicht wieder auf, blieb verschollen, als hätte sie nie gelebt.
Zuletzt gesehen wurde sie im Stadtteil Lurup, nur 100 Meter von der Wohnung der Eltern entfernt. Um 13.22 Uhr, so viel steht fest, kaufte sie in einem Laden im Elbgau-Einkaufszentrum ein Päckchen Kaugummi, Marke Hubba Bubba. Ihre Spur verlor sich auf dem Parkplatz.
Was danach mit ihr geschehen ist, bleibt ungewiss bis heute - ein beunruhigendes, bestürzendes Geheimnis, das an die Schicksale anderer Kinder gemahnt, deren Namen traurige Berühmtheit erlangt haben: Julia aus Biebertal, deren verkohlte Leiche in einem brennenden Holzstoß gefunden wurde. Vanessa aus Gersthofen, die ein als Tod verkleideter Mann erstach. Tom und Sonja aus Eschweiler, die beim Spielen auf einem alten Zechengelände von zwei Männern abgefangen und später erwürgt wurden.
Und Hilal?
Kaum ein Kriminalfall nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Hamburger so bewegt wie der des kleinen Mädchens.
Fiel das Kind einem Verbrechen zum Opfer? Dafür spricht vieles. Dass die Zehnjährige - anhänglich, folgsam, eher schüchtern - einfach von zu Hause weglief, scheint ausgeschlossen. Auch dass sie entführt wurde, irgendwo unerkannt lebt, und sei es als Opfer eines Kinderpornorings, gilt als extrem unwahrscheinlich. Was fehlt, ist Gewissheit - trotz der größten Fahndungsaktion in der Hamburger Kriminalgeschichte.
Bereitschaftspolizisten mit Hunden durchkämmten wochenlang Felder und Wälder, Taucher suchten Seen in der Umgebung ab. Die Kriminalpolizei gründete die Sonderkommission »Morgenland«. Unter der Leitung von Fahnder Chedor verfolgten 25 Beamte über Jahre hinweg Tausende Spuren.
Geblieben sind von alledem 32 Aktenordner, prall gefüllt mit Vernehmungsprotokollen, mit Zeugenaussagen, mit Gutachten. Geblieben sind die Trauer und, vor allem, die Wut von Hilals Angehörigen. Geblieben ist auch die trotzige Hartnäckigkeit von Kripo-Mann Chedor, der sich nicht damit abfinden will, dass dieser Fall rätselhaft bleibt für immer.
Geblieben ist ein Verdacht.
Rund zwei Kilometer Luftlinie vom Polizeipräsidium entfernt lebt seit ein paar Jahren ein großer, kräftiger Mann: Hans-Joachim Q., Computerspezialist, geschieden, Vater zweier minderjähriger Töchter. Wenn der 35-Jährige aus dem Fenster schaut, guckt er auf Mauern, auf Stacheldraht, auf elektronisch gesteuerte Sicherheitsschleusen, auf rote Klinkerbauten.
Hans-Joachim Q. ist in der Hamburger Strafanstalt Fuhlsbüttel eingesperrt. Am 7. Mai 1999, knapp vier Monate nach Hilals Verschwinden, fing er im Stadtteil Lohbrügge die elfjährige Schülerin Dania S., 1,48 Meter groß, lange blonde Haare, auf ihrem Nachhauseweg ab.
Vor einem Einkaufszentrum zerrte er das schreiende, sich wehrende Kind in sein Auto, bedrohte es mit einem spitzen Werkzeug, fuhr mit ihm zu einem einsamen Feldweg.
»Muss ich jetzt sterben?«, fragte das tief verängstigte Mädchen. »Nein.« »Wann darf ich wieder nach Hause?« »Heute noch, wenn du alles tust, was ich dir sage.«
Dania hielt still, als der Entführer sie auszog, sie betrachtete, sie anfasste. Danach verband er dem Mädchen die Augen, fesselte ihm mit einer Mullbinde die Hände auf den Rücken - und ließ es frei.
Dingfest gemacht wurde der Mann nur, weil ein Autofahrer, der die Szene vor dem Einkaufszentrum beobachtet hatte, misstrauisch wurde, das Kennzeichen von Q.s Wagen notierte und die Polizei benachrichtigte. Als Kripo-Beamte vor seiner Haustür standen, gab er alles zu: »Da haben Sie ja den Richtigen.«
Ein Satz mit Symbolcharakter? Bis heute glauben die Fahnder um Chedor, dies könnte der Mann sein, den sie suchen. Der Richtige.
Ist Hilal nicht wie die kleine Dania vor einem Hamburger Supermarkt verschwunden, am hellen Tag? Sind die Opfer nicht Mädchen ähnlichen Typs, beide hübsch, beide langhaarig, beide an der Grenze zur Pubertät? Und wäre die Entführung Danias nicht genauso unaufgeklärt geblieben wie das Verschwinden Hilals, wenn der Autofahrer nicht aufgepasst hätte?
Eine Polizeipsychologin, die Hans-Joachim Q. kurz nach seiner Festnahme erlebte, lange mit ihm redete, seine Aufregung spürte, ist zu dem Schluss gekommen: »Möglich, dass er für weitere Sexualstraftaten und für das Verschwinden Hilals verantwortlich ist.«
Bis jetzt ist es jedoch nicht gelungen, Hans-Joachim Q. zu überführen. Bis heute sind die Ermittler aber auch nicht von seiner Unschuld überzeugt. »Es bleiben Fragen«, sagt Chedor.
Auf die Frage eines Vernehmungsbeamten, wie er denn den 27. Januar verbracht habe, den Tag, als Hilal verschwand, antwortete Q. seinerzeit mit einer Gegenfrage: »Können Sie sich an irgendeinen Tag vor vier Monaten erinnern?«
Warum er nicht wenigstens versuchte, diesen Tag zu rekonstruieren, etwa unter Zuhilfenahme eines Kalenders oder durch Befragung von Bekannten und Verwandten, sich stattdessen auf Erinnerungslücken berief, macht die Fahnder misstrauisch.
Fest steht: Der Datenverarbeiter war am fraglichen Tag krankgeschrieben, wegen Bluthochdrucks. Er hatte Streitereien in seiner Firma und Beziehungsprobleme. Zufall oder nicht: Mit beruflichem Stress und einer desolaten seelischen Verfassung hat er vor Gericht auch die Entführung der kleinen Dania entschuldigt.
Fest steht auch: Zwei Zeugen beobachteten am Tag von Hilals Verschwinden einen großen, kräftigen Mann, der vor dem Elbgau-Einkaufszentrum ein kleines, dunkelhaariges Mädchen mit sich zerrte. Bei einer Gegenüberstellung konnten die Zeugen Q. zwar nicht eindeutig identifizieren. Beide glaubten aber, ihn an seinem »Watschelgang« wiederzuerkennen.
Sieben Jahre Haft hat Q. wegen des Übergriffs auf Dania bekommen, wegen Geiselnahme, sexueller Nötigung und sexuellen Missbrauchs eines Kindes. Ein strenges Urteil für einen, der geständig war und nicht vorbestraft. Ein hartes Urteil, gemessen an vergleichbaren Fällen.
Ein ungerechtes Urteil, glaubt der Mann im Gefängnis. »Andere haben Schlimmeres getan, aber viel weniger bekommen.« Ein Vergewaltiger etwa, der nachts über Balkone gestiegen sei, mehreren Opfern ein Messer an die Kehle gesetzt habe, sei mit dreieinhalb Jahren davongekommen. »Wo bleibt da die Relation?«
Bei seinem Prozess wurde Q. von einer Zuschauerin ganz genau beobachtet: Hilals Mutter. Die dunkelhaarige Frau verfolgte jede Bewegung, jedes Wort des Angeklagten, versuchte, den Mann zu fixieren, dem sie das Schicksal ihrer Tochter anlastet.
Familie Ercan gehört zu jener Gruppe Einwanderer, die zwar schon lange in Deutschland leben, aber noch immer nicht ganz angekommen sind. Hilals Großvater väterlicherseits, inzwischen längst Rentner, der 1969 den Sprung vom westtürkischen Balikesir nach Hamburg wagte und jahrelang in einer Fischfabrik malochte, spricht nur wenige Brocken Deutsch. Er ist in seiner neuen Heimat ein Fremder geblieben.
Hilals Eltern, beide ohne Schulabschluss, beide oft arbeitslos, schlagen sich mit gelegentlichen Putzjobs durch. Obwohl überwiegend hier aufgewachsen, fällt auch ihnen die deutsche Sprache noch immer schwer.
Hilal dagegen überbrückte spielend die Sprachbarriere. Das Mädchen, das die Türkei nur aus Erzählungen kannte, fühlte sich in Hamburg zu Hause. »Du konntest erfreuliche Fortschritte erzielen«, schrieb ihm die Klassenlehrerin ins Halbjahreszeugnis des vierten Grundschuljahres. Das Zeugnis bekam Hilal an dem Tag, an dem sie verschwand.
Ihr Fernbleiben scheint auch den Willen der Ercans zur Integration gebrochen zu haben. Die Familie kapselt sich ab. Kontakte zu deutschen Nachbarn und Kollegen gibt es kaum, Freundschaften erst recht nicht.
Schutz und Halt suchen die Ercans beim Familienclan, Hunderten Verwandten, die teils noch in der Türkei, teils jedoch schon lange in Deutschland leben.
Ausgerechnet bei Angehörigen dieses Clans suchten die Fahnder monatelang nach Spuren für Hilals Verschwinden, ein Umstand, den die Familie bis heute weder versteht noch akzeptiert.
Ins Visier geriet ein Onkel Hilals, der mehrfach im Hamburger Rotlichtmilieu aufgefallen war und wegen eines Sexualdelikts angezeigt und festgenommen wurde - Anlass genug, ihn auch wegen Hilal zu verhören. Ergebnis: Fehlanzeige.
Hilals Oma mütterlicherseits, eine resolute Mittfünfzigerin, fiel auf durch ein falsches Alibi, verstrickte sich bei Nachfragen in immer neue Lügen und löste damit eine riesige Fahndungsaktion in der Türkei aus: Rund hundert türkische Polizisten, assistiert von Kripo-Beamten der Sonderkommission »Morgenland«, durchsuchten in Izmir, Samsun, Gaziantep und Nizip Dutzende Häuser nach einem vermuteten Versteck von Hilal.
Hinter dem falschen Alibi steckte jedoch etwas ganz anderes: Die Frau hatte unrichtige Angaben zu ihrem Tagesablauf gemacht, um eine heikle Männerbeziehung vor ihrer Familie geheim zu halten.
»Wir mussten jeder Spur nachgehen, ohne Rücksicht auf Tabus«, verteidigt Kripo-Mann Chedor die Tätersuche im Familienclan, die der Polizei den Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit eintrug. Nur mühsam ist es Chedor gelungen, den Zorn der Familie zu dämpfen.
Der Fahnder hält bis heute Kontakt, versucht Hilals Angehörigen stets neu zu vermitteln, dass für ihn der Fall längst nicht abgeschlossen ist. Bei seinen regelmäßigen Besuchen spürt er jedoch, dass die Ercans die Ungewissheit immer schwerer aushalten. Sie suchen jemanden, der schuldig ist an ihrem Unglück, jemanden, den sie anklagen können, verfluchen können, konfrontieren können mit ihrem Zorn, ihrer Ohnmacht.
Sie kennen den Verdacht gegen Hans-Joachim Q. Und sie klammern sich an diesen Verdacht.
Vor allem Hilals älterer Bruder, inzwischen 17, malt sich immer wieder aus, wie er den vermeintlichen Täter malträtieren würde, wenn er ihn nur hätte. Der Junge, früher ein guter Schüler, ist nach dem Verlust der Schwester abgedriftet. Den Hauptschulabschluss hat er nicht gepackt, stattdessen fällt er durch Schlägereien auf, ist nur knapp einem Schulverweis entgangen. »Der Junge steckt voller Hass«, sagt eine Verwandte.
Der Mann im Gefängnis weiß, dass ihn die Ercans für schuldig halten, auch ohne Urteil: »Irgendwann habe ich ein Messer im Rücken.« Dabei sei der Verdacht gegen ihn absurd und beweise nur die Hilflosigkeit der Polizei. Die habe gegen ihn nichts in der Hand: Eine Blutspur in seinem Auto habe sich als harmlos herausgestellt. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung sei nichts Belastendes gefunden worden. Und schließlich: Er habe sein Opfer, die kleine Dania, wieder unversehrt in Freiheit gesetzt.
Hans-Joachim Q. fühlt sich nicht zum ersten Mal in seinem Leben ungerecht behandelt. Der Mann hadert mit vielem: mit dem Stiefvater, der ihn brutal geschlagen und missbraucht habe; mit der Mutter, die ihm Pflaster über den Mund geklebt habe,
damit er still sei; mit Chefs, die ihn schlecht bezahlt, mit Partnerinnen, die ihn hintergangen hätten.
Die Entführung von Dania, derentwegen er sitzt, versucht der Gefangene mit
Selbsthass zu erklären, mit einem ausgeprägten Hang zur Selbstbeschädigung. Er habe sich, aus einem unterbewussten Reflex heraus, vernichten wollen. Auf keinen Fall habe der Übergriff etwas mit Pädophilie zu tun, mit einer Neigung zu Mädchen, die noch Kinder sind - womöglich eine Lebenslüge. Eine Darstellung jedenfalls, die ihm vor Gericht nicht geglaubt wurde. »Er hatte sexuelle Motive«, stellte die Vorsitzende Richterin fest.
Dafür spricht auch eine Aussage seiner geschiedenen Ehefrau. Die erinnert sich an Rollenspiele, bei denen sie ein kleines Mädchen mimen musste und von ihrem Mann gefragt wurde: »Na, meine Kleine, wie alt bist du denn? Zehn oder elf?«
Q.s Weigerung, sich diesem Teil seiner Persönlichkeit zu stellen, hat Konsequenzen: Weil er eine Sexual-Gruppentherapie ablehnt, bei der er sehr direkt mit seiner Tat konfrontiert würde, muss er seine siebenjährige Haftstrafe womöglich bis zum Schluss absitzen und kommt nicht, wie eigentlich möglich, nach zwei Dritteln aus dem Knast.
Der Hintergrund: Täter, die sich bestimmte, von der Gesellschaft meist heftig missbilligte sexuelle Neigungen nicht eingestehen, sondern als fremd und nicht zu ihnen gehörend von sich weisen, gelten Psychologen als besonders unberechenbar und gefährlich. Ihnen mangele es an der Fähigkeit, in kritischen Situationen verantwortungsvoll zu reagieren: Die Tat begehe ja ein anderer, einer, mit dem sie nichts zu schaffen haben.
Gehört Q. zu dieser Kategorie? Dass er offenbar lieber mehr als zwei Jahre länger im Gefängnis bleibt, als über seine Sexualität zu reden, gibt Rätsel auf. Fürchtet er, zu viel preiszugeben? Sich zu verraten? Und wie wird er sich in Zukunft verhalten?
Im Frühjahr 2006, wenn die sieben Jahre verbüßt sind, wird Hans-Joachim Q. spätestens entlassen. Er muss, in der Datenverarbeitung besonders schwer, beruflich wieder Anschluss finden. Er muss, noch schwerer, persönliche Beziehungen reparieren, unter anderem zu seinen Töchtern. Und er muss, wenn der Fall bis dahin nicht anderweitig geklärt wird, mit dem Verdacht leben, Hilals Schicksal zu kennen.
Hilals Angehörige warten bereits ungeduldig auf seine Freilassung. Sie haben geschworen, sich Hans-Joachim Q. vorzuknöpfen, erlaubt oder nicht.
»Wir werden ihn nach unserer Tochter fragen«, prophezeit der Vater. Und ihm notfalls, wenn er nicht rede, »ein bisschen Schmerzen zufügen«.
Hilals Bruder geht noch weiter. »Wir werden ihn bestrafen«, versichert er. »Auch dann, wenn er es nicht war.«
Rund 35 000 Kinder und Jugendliche werden jährlich in Deutschland vermisst gemeldet. Die meisten dieser Fälle sind allerdings harmlos: Die Kinder haben bei Freunden übernachtet oder sich herumgetrieben und tauchen am nächsten Tag wieder auf. Immerhin 900 Minderjährige unter 14 gelten jedoch zurzeit als dauerhaft verschwunden. Dazu zählen auch Kinder, die vermutlich von einem Elternteil ins Ausland entführt wurden oder von zu Hause abgehauen sind. Nur zwei Dutzend sind, wie Hilal Ercan (Foto) aus Hamburg, mit großer Wahrscheinlichkeit einem Verbrechen zum Opfer gefallen.
* Am 18. Mai 1999 in Hamburg.