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Artikel 53 / 88

»Als Kämpfer Klasse, als Politiker Versager«

SPIEGEL-Redakteur Hans Hielscher über Nicaraguas Revolutionäre im Amt *
aus DER SPIEGEL 9/1985

Im Marlon-Brando-Film »Viva Zapata!« fragt der mexikanische Revolutionsheld Emiliano Zapata seine Getreuen nach der Einnahme der Hauptstadt: »Was wollen wir eigentlich hier? Laßt uns dahin zurückkehren, wo wir hingehören.« Zapata galoppierte eben lieber als Rebell durch die Sierra Madre, als daß er auf dem Präsidentenstuhl in Mexiko-Stadt hockte.

70 Jahre nach Zapata und einige hundert Kilometer südlich von Mexiko wiederholt sich die nostalgische Episode.

In Nicaragua fällt dem Comandante Daniel Ortega die Umstellung vom Partisanen zum Präsidenten »sehr schwer«. Wehmütig beschreibt er seine Zeit im Widerstand gegen das Somoza-Regime als »gefährlich«, die gegenwärtige Arbeit hingegen als »mühsam«. Sein Innenminister, Comandante Tomas Borge, behauptet, sich die Zapata-Frage »zweihundertmal« gestellt zu haben; denn es sei »relativ einfach, Krieg zu führen, aber eine ganz andere Sache, nach dem Sieg (erfolgreich) weiterzumachen«.

Nicaraguas Sandinisten machen nun schon seit einem halben Jahrzehnt weiter. Am 19. Juli 1979 hatten sie den Diktator Somoza endgültig aus seinem Bunker in Managua vertrieben. Ihre Partei FSLN (Frente Sandinista de Liberacion Nacional) übernahm den Staatsapparat des Drei-Millionen-Einwohner-Landes - von der Polizei bis zur Fernsehanstalt. Ihre Armee, mit 100 000 Kämpfern die stärkste Mittelamerikas, schützt die Revolution gegen äußere Feinde.

Aber Macht muß nicht Glück bedeuten, der Umzug aus dem Busch in Regierungskanzleien nicht die fröhliche Begeisterung der Kampfzeit bewahren - auch wenn die Guerillakluft von damals in Managuas Amtsstuben inzwischen Dienstkleidung ist. Melancholie und Selbstzweifel plagen die Revolutionsführer. Denn die Zeiten sind vorbei, in denen 90 Prozent der Nicaraguaner den Sandinisten zujubelten und die ganze Welt die jungen Revolutionäre bewunderte.

In Managua herrschte eher bedrückte Stimmung, als der neue Präsident Ortega im vorigen Monat in einer als Jubelfeier geplanten Zeremonie vereidigt wurde. Von den vielen erwarteten hohen Gästen aus dem Ausland war nur Fidel Castro gekommen.

Später flog Iran-Premier Hussein Mussawi ein - Grund für die Amerikaner, wieder einmal Alarm zu schlagen. »Eine neue Gefahr«, so warnte Präsident Reagan, »zieht in Mittelamerika auf, weil Gaddafis Libyen, die PLO und nun auch noch der Iran des Ajatollah Chomeini die Sandinisten unterstützen.«

Die US-Regierung plant, der »sandinistischen Gefahr« mit noch mehr Dollars für die Konterrevolutionäre (Contras) und mit verschärften politischen Sanktionen gegen Nicaragua zu begegnen: Washington will seine Verbündeten zum Abbruch der Handelsbeziehungen mit Managua drängen. Und nachdem die USA die Verhandlungen mit den Sandinisten im mexikanischen Manzanilla abrupt beendeten, begannen am 11. Februar beim Nicaragua-Nachbarn Honduras wieder einmal ominöse Manöver unter amerikanischer Führung. Vor Nicaraguas Küsten kreuzt das Schlachtschiff »Iowa«, das größte der US-Flotte. Die Kriegsspiele werden bis in den Mai dauern.

»Der Haifisch zeigt seine Zähne«, sagen Lateinamerikaner; verglichen mit dem großen Raubfisch im Norden, seien die Kleinstaaten Mittelamerikas nur »Sardinen«. Doch Nicaragua ist kein leichter Happen wie Grenada. Die Contras, Nordamerikas Auftragsguerrilleros, die Reagan »unsere Brüder« nennt, morden ohne Terraingewinne. Allein 1984 kamen 5000 Menschen, vor allem Frauen und Kinder, ums Leben. Wahr aber ist auch, daß die Sandinisten die Kriegerrolle besser beherrschen als jede andere, daß sie heimliche Sehnsucht nach neuen Gefechten verspüren.

Angesichts der Bedrohung durch das mächtige Nordamerika gewinnen die Aufmärsche und Schießübungen ihrer Volksmilizen allerdings auch Sinn. Wenn US-Aufklärungsflugzeuge über Managua kreisen, wirkt die Luftschutzwerbung in den Sandinisten-Zeitungen nicht mehr wie propagandistische Panikmache. Wenn an den Grenzen Gefechte aufflammen, verliert der aus dem spanischen Bürgerkrieg übernommene Sandinisten-Kriegsruf »no pasaran« (Sie werden nicht durchkommen) den Charakter einer leeren Parole.

»Das Vaterland ist in Gefahr«, warnen die Sandinisten. Da sollen die Leute im Lande ihre Gegensätze vergessen und die Welt ihren Streit darüber, ob sich Nicaragua nur von einer Familientyrannei in eine Parteidiktatur wandelt, von

einer Hazienda der Amerikaner in einen Satelliten der Sowjets.

»Die Sandinisten sind Kommunisten«, behauptet Ronald Reagan und wirft ihnen gar vor, »Rauschgift zu exportieren, um unsere Jugend zu vergiften«. Die Bonner Musterverbündeten der USA haben die Entwicklungshilfe für Nicaragua gestoppt.

Aber Willy Brandt, der mehr von Kommunisten versteht als Ronald Reagan oder Helmut Kohl, will »ein Ameisenbär« sein, »wenn die Sandinisten in Totalität Marxisten und Leninisten sind«.

Was sind sie nun wirklich - die jungen Männer und Frauen, die vor einem halben Jahrzehnt die von den USA hergestellte Ordnung in Mittelamerika umstürzten? Sind die Sandinisten romantische Helden oder machtbesessene Weltverbesserer? Glauben sie an Gott, oder suchen sie ihr Heil im Atheismus? Sind westliche Demokraten oder östliche Kommunisten ihre Vorbilder? Erwarten sie Wohlstand für ihr Land von Planwirtschaft oder durch das freie Spiel des Marktes?

Die Sandinisten haben zwar in ihrem Grundsatzprogramm drei Prinzipien verkündet: Pluralismus in ihrer Gesellschaftsordnung, Blockfreiheit in der Außenpolitik, ein - aus Privat- und Staatsunternehmen bestehendes - »gemischtes Wirtschaftssystem«. Aber ihre Maßnahmen verwirren nicht nur ideologische Puristen: *___Die Sandinisten brachten an der Kathedrale von Managua ____Porträts von Marx, Engels und Lenin an - aber sie ____beriefen auch vier Priester als Minister in ihre ____Regierung. Sandinisten schrien den Papst bei seinem ____Besuch in Managua 1983 nieder. Aber am weihnachtlichen ____24. Dezember 1984 traf sich der neue Präsident Daniel ____Ortega zu einem Vier-Stunden-Gespräch mit Managuas ____Erzbischof Obando y Bravo. *___Die Sandinisten verfluchen in ihrer Hymne den Yankee ____als »Feind der Menschheit«; aber sie sind verrückt nach ____Baseball, dem Yankee-Sport par excellence. Sie ____bezeichnen Coca-Cola als Gringo-Gesöff, nennen den ____ehemaligen Getränke-Großhändler und heutigen ____Contra-Führer Adolfo Calero »Comandante Coca-Cola«; ____aber sie mischen sich ihren Nationaldrink »Nica libre« ____aus nicaraguanischem Rum und amerikanischer Coca-Cola. *___Die Sandinisten lassen Schilder mit der Drohung ____aufstellen: »Konterrevolutionär, tausend Augen ____überwachen dich 24 Stunden am Tag.« Aber sie lehnen die ____Todesstrafe als unmenschlich ab, obwohl sie mit ihren ____Gegnern die schlimmsten Erfahrungen machen: Wie vor der ____Revolution die Nationalgardisten Somozas, metzeln heute ____die Contras sandinistische Funktionäre erbarmungslos ____nieder. *___Die Sandinisten führten die Zensur ein und verfügten, ____daß Nachrichten über Polens »Solidarität« nur von den ____Agenturen der UdSSR und Kubas übernommen werden dürfen; ____aber sie errichteten Nicaraguas erstes Kunstmuseum und ____füllten es mit Werken, von denen drei Viertel in Moskau ____als dekadent verbannt wären.

»In Nicaragua«, protzt Comandante Borge mit sandinistischem Selbstbewußtsein, »gibt es eine neue politische Geographie, die hinzunehmen ist, wie unsere Seen und Vulkane.« Allerdings ist die Gesellschaft seit dem Vulkanausbruch der Revolution noch nicht erstarrt, und es ist nicht entschieden, wie sie einmal aussehen wird.

Die herrschenden Sandinisten geben sich bisweilen wie osteuropäische Apparatschiks, anderntags aber wie lateinamerikanische Romantiker; sie wirken manchmal wie grimmige Kommissare, doch treten sie bei nächster Gelegenheit wie phantasievolle Hippies auf - verspätete Pilger aus den wilden sechziger Jahren, die Fidel Castro einmal »Kinder« nannte, »die Revolution machen wollen, aber einen Fehler nach dem anderen begehen«.

Castros gönnerhaftes Wort von den »Kindern« ist so abwegig nicht. Bis auf den Veteranen Borge, 54, Mitbegründer der FSLN 1962, hat keiner der neun Comandantes aus dem mächtigen Nationalen Direktorium der Sandinistenpartei auch nur die Midlife Crisis erreicht. Nicaragua hat - bei einem Wahlalter von 16 - die jüngsten Wähler und eine der jüngsten Regierungsmannschaften der Welt:

Präsident Ortega ist 39, die für die Zensur zuständige Staatssekretärin Nelba Blandon eine 28jährige Schönheit. »Ich hätte mir nie träumen lassen«, klagt Don Pablo Antonio Cuadra, 72, Dichter, Hochschullehrer und nun Herausgeber der Oppositionszeitung »La Prensa«, »daß einmal eine meiner Studentinnen meine Artikel zensieren würde.«

Nicaraguas Machthaber waren Teenager oder Twens, als sie 1979 Somoza stürzten. »Unter diesen jungen Männern und Frauen«, gesteht der prominenteste Anti-Sandinist Arturo Cruz, 60, »gab es einen Überfluß an Helden, die meiner Generation fehlten.« Nur die jugendlichen Sandinisten, sagt er, »waren bereit, ihr Leben für die Befreiung des nicaraguanischen Volkes von der Diktatur zu opfern«.

Diese Opferbereitschaft war um so bemerkenswerter, als die Sandinistenführer fast ausnahmslos Bürgersöhne und -töchter sind - Kinder jener Gesellschaftsschicht, die früher einmal »ein Grüppchen von Zwischenhändlern für die Amerikaner« darstellte, so Tomas Borge, Sandinisten-Senior.

Die Studenten aus dem Anwalts-, Lehrer- und Pflanzer-Milieu stießen sich daran, daß Männer ihr Land regierten, die - wie die Somozas - stolz darauf waren, besser Englisch zu sprechen als Spanisch; die das Porträt eines US-Botschafters auf eine nicaraguanische Banknote drucken ließen; und die einmal ein großes Fest veranstalteten, zu dem sie die Wachen als römische Krieger verkleideten; so sehr hatten die Somozas ihre Rolle als Prokonsuln verinnerlicht.

Während ihre Eltern mit dem Diktator von US-Gnaden kungelten und das Plastikamerika von Miami nachäfften, begannen die Sprößlinge der nicaraguanischen Bourgeoisie gerade das zu lesen, was verpönt und verboten war: Marx, Lenin und Augusto Cesar Sandino, Nicaraguas Revolutionär aus den zwanziger und dreißiger Jahren.

Die jungen Nationalisten nannten ihre Bewegung nach dem 1934 ermordeten _(Bei Ortegas Vereidigung zum Präsidenten ) _(am 10. Januar 1985 in Managua. )

Sandino, erhoben zu ihrem lebenden Idol den Zeitgenossen, der damals den Gringos die Stirn bot, Fidel Castro. Bald bildeten Studenten sandinistische Zellen, sammelten sich Jugendliche zum bewaffneten Kampf in den Bergen.

In den Untergrund abzutauchen, bedeutete »fast so etwas wie revolutionäre Heiligsprechung«, erinnert sich heute Vizepräsident Sergio Ramirez, 42. Seine Eltern gehörten Somozas Partei an, der einzigen von Belang. Ein Verwandter arbeitete bei der Polizei - und konnte deshalb Ramirez'' Bruder Roselio 1978 vor der drohenden Verhaftung warnen. Den rebellierenden Jugendlichen halfen viele, denen das niemand zutraute.

Die heutige Vizeaußenministerin Nora Astorga, 33, lockte 1978 den zweiten Mann von Somozas Nationalgarde, Reynaldo Perez Vega, zu einem Rendezvous in ihr Haus. Dort ermordeten wartende Sandinisten den wegen seiner Brutalität »El Perro« (Der Hund) genannten Offizier. Niemand ahnte, daß die schöne Anwältin Nora »Norita« Astorga unter dem Decknamen »Maria« einer revolutionären Zelle angehörte. Sie hatte als kleines Mädchen auf Somozas Schoß gespielt, ihr Großvater diente dem Diktator als Verteidigungsminister.

Die sandinistische Revolution, so spotten Lateinamerikaner, war vor allem ein Aufstand von Bürgerkindern gegen die Generation ihrer Eltern.

Nach dem Sieg der Sandinisten aber ist die Einheitsfront der jungen Generation zerbrochen. Wie einst die Plantagen-Familien, spalteten sich in den postrevolutionären Monaten die erfolgreichen Rebellen in Pro- und Anti-Sandinisten:

Die Familie Chamorro besitzt die Tageszeitung »La Prensa«, inzwischen das Oppositionsblatt gegen das Sandinisten-Regime. Chamorros leiten aber auch die beiden Sandinisten-Zeitungen »Barricada« und »Nuevo Diaro« - und beide Parteien behaupten, das politische Testament des »Prensa«-Inhabers Pedro Joaquin Chamorro zu vollstrecken, der 1978 als Somoza-Gegner ermordet worden war.

Die großbürgerlichen Cardenals, die mit den Priester-Brüdern Ernesto (Kultur) und Fernando Cardenal (Erziehung) zwei sandinistische Minister stellen, beklagten im Krieg gegen Somoza Opfer auf beiden Seiten. Mitglieder der Robelo-Familie - bekannt vor allem durch den Contra-Führer Alfonso Robelo - kämpfen auch bei den Sandinisten. Die Dichterin Gioconda Belli preist in bewegten Versen die sandinistische Revolution; ihr Bruder Humberto Belli veröffentlicht in den USA Bücher gegen die Sandinisten.

Humberto Belli, ein Soziologe, hatte einst als Untergrund-Sandinist seine Genossen im Marxismus-Leninismus unterwiesen. Dann wandelte er sich zum frommen Christen und trennte sich von der Bewegung.

»Die Sandinistenführer sind verkappte Kommunisten«, sagt Belli im US-Exil. Allein ihre Einstellung zum politischen Pluralismus würde das enthüllen. Sie ließen anderen Parteien keine wirkliche Chance. Weniger radikale Kritiker der Sandinisten erklären deren gestörtes Demokratie-Verständnis anders: Den Spitzen-Companeros fehle jede Übung im praktischen Pluralismus - etwa als Parteifunktionäre oder Gewerkschafter - weil sie alle direkt aus dem Untergrund, aus dem Exil oder dem Gefängnis an die Macht gekommen seien.

Daniel Ortega etwa kennt nicht das Leben in einer offenen Gesellschaft. Er hat, wie er schrieb, »nie Miniröcke in Managua gesehen«, weil er von 1967 bis 1974 als politischer Häftling im Gefängnis saß. Heute leitet Ortega die Sitzungen des Nationalen Direktoriums der FSLN, des Gremiums von neun Comandantes, _(Daniel Ortega, Koordinator des ) _(Direktoriums, seit 10. Januar 1985 zudem ) _(Präsident von Nicaragua; Humberto ) _(Ortega, Daniels Bruder, ) _(Verteidigungsminister; Tomas Borge, ) _(Innenminister; Luis Carrion, ) _(Vizeinnenminister; Henry Ruiz, ) _(Planungsminister bis Januar 1985, ) _(seitdem Minister für internationale ) _(Zusammenarbeit; Bayardo Arce, zuständig ) _(für die Partei; Jaime Wheelock, ) _(Landwirtschaftsminister; Victor Tirado, ) _(verantwortlich für die ) _(Massenorganisationen; Carlos Nunez, ) _(Parlamentspräsident. )

die alle wichtigen Entscheidungen treffen - und oft genug auch weniger bedeutende:

So berieten die mächtigen Neun ausführlich darüber, ob sie dem US-Magazin »Playboy« Interviews gewähren sollten oder nicht (Antwort: Si). Ein Credo der Sandinisten lautet »liderazgo colegiado«, kollektive Führung.

Die kollektive Führung bewährte sich bislang insoweit, als Nicaraguas Revolution - an der Spitze jedenfalls - noch keines ihrer Kinder gefressen hat. Die neun Comandantes halten ihre Positionen als Mitglieder des Nationalen Direktoriums seit dem Tag des Sieges. Willy Brandt bezeichnet das als »das größte Wunder«. Denn natürlich gibt es unter den Sandinisten Meinungsverschiedenheiten. Sie erklären viele Widersprüche in ihrer Politik, in der sich mal Falken durchsetzen und mal Tauben:

Da erhielten zum Beispiel Oppositionspolitiker im November 1984 plötzlich keine Ausreisevisa mehr. Eine öffentliche Erklärung dazu wurde nie abgegeben. Aber Hardliner im Innenministerium setzten ein Signal: »Diese Daddys von gestern sollen spüren, wer heute bestimmt.«

Anfang Dezember wurde die Ausreisesperre stillschweigend zurückgenommen. Gemäßigte aus dem Außenministerium hatten intern gegen die »Radikalinskis« gewettert, die »Nicaraguas Ansehen im Ausland versauen und Volksschichten gegen die Revolution aufbringen«.

Solche Auseinandersetzungen hatte es schon vor der Revolution gegeben. Damals forderte eine Richtung in der FSLN

eine straff organisierte Kaderpartei, während eine andere ein möglichst breites Bündnis mit dem Bürgertum anstrebte. Die Gemäßigten, zu denen Daniel Ortega gehörte, setzten sich durch.

In der Regierung drängten dann vor allem Innenminister Borge, Planungschef Henry Ruiz und der für die Partei zuständige Bayardo Arce auf eine Radikalisierung; sie würde ihren Ressorts mehr Macht bescheren.

Gegen eine schnelle Umgestaltung der Gesellschaft argumentiert auf der anderen Seite Landwirtschaftsminister Jaime Wheelock. Er wollte vor allem hohe Erträge einbringen und brauchte dazu Ruhe im Staat. Ihm stand meist Daniel Ortega bei, der oft mit westlichen Regierungen verhandelt hat und weiß, daß Kredite und Entwicklungshilfe eher dann zu bekommen sind, wenn in Nicaragua pluralistische Harmonie herrscht.

So beeinflussen die politischen Aufgaben offensichtlich das Bewußtsein von Revolutionären, formen Ämter neue Meinungen. »Wir haben viel gelernt«, sagt Daniel Ortegas Bruder Humberto, Nicaraguas Verteidigungsminister, der vor Jahren radikaler eingestuft wurde als heute. Der Lernprozeß war geprägt von Spannungen: *___Als Daniel Ortega Anreize für die Privatwirtschaft ____vorschlug, um die Produktion für den Export zu ____steigern, stellte sich der Staatsplaner Ruiz quer. *___Mit Hinweis auf die Landwirtschaftsgeschichte der UdSSR ____argumentierte der Ideologe Borge gegen die Verteilung ____von Land an Bauern; er bevorzugt Genossenschaften. *___Parteimann Arce brachte die Mehrheit der Comandantes ____gegen sich auf, als durchsickerte, daß er letzten ____Sommer vor linken Gesinnungsfreunden Wahlen als ____"bürgerlichen Quatsch« abgetan hatte.

Die Sandinisten wollten sich ihr Mandat bestätigen lassen und gewannen im November 67 Prozent der Stimmen bei Wahlen, die für lateinamerikanische Verhältnisse fair verliefen. Zwar kann ihr Staat, so urteilten objektive westliche Beobachter, einem Vergleich mit etablierten Demokratien wie den USA und der Bundesrepublik nicht standhalten. Aber Oppositionelle haben in Nicaragua gewiß mehr Freiraum als Dissidenten in der DDR oder in der Tschechoslowakei. Kritiker des Sandinistenstaates leben weitaus sicherer als Regierungsgegner in El Salvador oder Guatemala.

Vom Streit in der Führung aber soll Nicaraguas Volk nichts erfahren. Deshalb schotten die Comandantes ihr Direktorium ab wie die Sowjet-Funktionäre ihr Politbüro. Doch anders als die russischen Führungsgreise mischen sich die sandinistischen Entscheidungsträger oft unter die Bevölkerung.

Da erfahren dann die Vertreter der Staatsmacht - vom kleinen Polizisten bis zum großen Comandante -, daß preußischer Untertanengeist den Nicaraguanern fremd ist.

So schimpfen etwa Bürger lauthals über »kommunistische Zustände, schlimmer als in Kuba«, wenn sie am Flughafen von Managua peinlich genau kontrolliert werden. Die Paßkontrollzellen dort, mit kaum sichtbaren Beamten hinter einem Minifenster und Spiegeln an der Decke, erinnern an den Grenzübergang Berlin-Friedrichstraße - kein Wunder, Stasi-Berater aus der DDR waren in Nicaragua.

An die DDR erinnert auch Managuas »Dollar-Shop«, in dem für Imperialisten-Währung von Marlboro-Zigaretten bis zu japanischen Farbfernsehgeräten alles zu haben ist. Ausländer und Nicaraguaner mit Sonderausweis bekommen in dem Sonderladen auch Milchpulver, Glühbirnen und Toilettenpapier - Bedarfsgüter, die in normalen Geschäften oft wochenlang fehlen. In der Hauptstadt entsteht eine Nomenklatura.

Die Versorgungsmängel verärgern die Nicaraguaner, wie auch die Bevorzugung einer Schicht aus Funktionären und Spezialisten, zusammenbrechende öffentliche Verkehrsmittel und die aufgeblähte sandinistische Bürokratie: Hochschwangere werden von Amt zu Amt geschickt, um sich einen Zustand bescheinigen zu lassen, der ihnen schon von weitem anzusehen ist.

Kritische Artikel und negative Meldungen aber unterdrückt oft genug die Zensur. Die Leute lesen deshalb, wie einst unter Somoza, zwischen den Zeilen und entdecken überall Signale: So wurde einmal ein »Prensa«-Photo von einer Käuferschlange für Speiseöl als Hinweis auf einen kommenden Versorgungsmangel interpretiert. Die Bürger kauften daraufhin Öl auf Vorrat, und es kam tatsächlich zu einem Engpaß.

»So wie Gott Somoza 1972 mit dem Erdbeben bestrafte, straft er nun mit den Fluten die Sandinisten«, tuschelten schon 1982 von der Revolution enttäuschte Nicaraguaner, als der schwerste Regen seit Jahrzehnten das Land heimsuchte. »Die Sandinistenführer waren als Guerrilleros echte Klassiker - waghalsig, geschickt, fehlerfrei«, urteilt der Oppositionspolitiker Cruz. Dagegen seien sie als Politiker »glatte Versager«.

Einer von ihnen, der Postminister Enrique Schmidt, verließ im letzten November seinen Schreibtisch in Managua. Er wollte, wie einst, in den Bergen kämpfen, diesmal gegen aus Honduras eingefallene Konterrevolutionäre.

Schmidt bezahlte den Weg zurück mit seinem Leben. Der 35jährige, dessen Urgroßeltern Deutsche waren, fiel in der Nähe der Stadt Camoapa, 100 Kilometer nördlich von Managua. Auf dem Juso-Kongreß 1983 in Oberhausen hatte er seinen deutschen Genossen zugerufen: »Wir machen eine Revolution auf der Erde und nicht im Himmel.«

Bei Ortegas Vereidigung zum Präsidenten am 10. Januar 1985 inManagua.Daniel Ortega, Koordinator des Direktoriums, seit 10. Januar 1985zudem Präsident von Nicaragua; Humberto Ortega, Daniels Bruder,Verteidigungsminister; Tomas Borge, Innenminister; Luis Carrion,Vizeinnenminister; Henry Ruiz, Planungsminister bis Januar 1985,seitdem Minister für internationale Zusammenarbeit; Bayardo Arce,zuständig für die Partei; Jaime Wheelock, Landwirtschaftsminister;Victor Tirado, verantwortlich für die Massenorganisationen; CarlosNunez, Parlamentspräsident.

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