»Als sei es des Teufels eigenes Werk«
Wenn es in diesen Tagen an der Haustür klingelt, muß es nicht der Postbote sein. Der Volkszähler will ins Haus .
Hier und da hat er schon vorgesprochen: Der Besucher zückt ein Kärtchen mit amtlichem Stempel und zeigt seinen Personalausweis. Erst fragt er, wie in seiner »Zähleranleitung« vorgegeben, nach dem »Namen des Haushalts oder der angetroffenen auskunftspflichtigen Person«, nach der »Zahl der Haushalte in der Wohnung » und wie viele Personen zum Haushalt gehören, also »gemeinsam wohnen und wirtschaften«. Mündliche Auskunft ist Pflicht, die Antworten notiert der Zähler in seiner »Adressenliste« .
Dann greift er in seinen »Zählerkoffer«, einen Pappkarton, und händigt Formulare aus: ein »Haushaltsheft«-. bestehend aus einem »Wohnungsbogen« und »Personenbögen«, sowie einen »Haushaltsmantelbogen''- .
Es sind maschinenlesbare Vordrucke in freundlich hellem Blau und Grün. Oben ist eine »Heft-Nr.« eingedruckt, die der Zähler in seiner Adressenliste vermerkt. Eine »Lesemarke« und eine Ziffer im Feld »Belegart« sorgen dafür, daß der Computer die richtigen Zeilen findet und die Bögen nicht verwechselt.
Einige Fragen sollen mit Worten oder Zahlen beantwortet werden: das Geburtsjahr etwa, »Name und Anschrift Ihrer Arbeitsstätte oder Schule/Hochschule«, der ausgeübte Beruf und der »Wirtschaftszweig« des Betriebes, die Fläche der Wohnung und die Höhe der Miete .
Andere Auskünfte sollen durch waagerechte Bleistiftstriche markiert werden. Neben Geschlecht, Familienstand, Religion und Staatsangehörigkeit wird im Personenbogen beispielsweise erfragt, ob »die hiesige Wohnung die vorwiegend benutzte Wohnung« ist und ob jemand »überwiegend« von Erwerbstätigkeit, Arbeitslosengeld, Rente oder Sozialhilfe lebt. Angegeben werden sollen Schul- und Hochschulabschluß, das hauptsächlich benutzte Verkehrsmittel »auf dem Hinweg zur Arbeit« und der dafür benötigte Zeitaufwand.
Alles in allem sind es maximal 33 Fragen, die nicht einmal von jedem beantwortet werden müssen. Manche richten sich nur an Erwerbstätige und Hauptmieter, andere nur an Eigentümer. Unklar ist, wer die Frage 11 markieren
soll: »Seit wie vielen Monaten steht die Wohnung leer?«
Warum der Staat das alles wissen will, erschließt sich aus dem Text der Fragen nicht. Sie wirken trivial, zielen offenbar weder auf die Intimsphäre noch auf das persönliche Steuergeheimnis. Und doch bergen sie so viel Brisanz, daß sich für Millionen Bürger in dieser Woche eine deutsche Dreifaltigkeit auftut: mitmachen, mogeln, boykottieren?
Denn an den so unscheinbaren Fragen der Volkszählung 1987 scheiden sich die Geister. Die einen halten sie für eine »große Volksaushorchung« und wähnen sich dem »Überwachungsstaat« wieder ein Stück näher. Die anderen behaupten, die Daten seien »unverzichtbar«, damit der Staat »verläßlich planen, richtig entscheiden und vernünftig wirtschaften« könne.
Die Argumente sind längst vorgebracht, hundert- und tausendfach wiederholt - und erreichen die jeweils andere Seite nicht. Statt dessen werden Parolen bevorzugt, »Vertrauen zählt« heißt die dafür, »Vernunft boykottiert« heißt die dagegen. In großen Lettern versichern die Befürworter: »Datenschutz verpflichtet« - darunter haben Boykotteure ergänzt: »zu nichts«.
Die Fronten verlaufen fast so wie 1983, als die Volkszählung eigentlich schon stattfinden sollte. Damals scheiterte sie am Bundesverfassungsgericht (BVG), das den Zensus kurz vor dem Stichtag aussetzte. Das wird sich, mit dem zwischenzeitlich nach BVG-Maßstäben verfaßten neuen Volkszählungsgesetz, nicht wiederholen, aber die Stimmung im Lande ist deswegen nicht besser geworden, die Ratlosigkeit hingegen größer.
Tag für Tag werden Behörden, Polizei und Presse mit Anfragen überschüttet. Das für die Zählung zuständige Statistische Bundesamt in Wiesbaden erteilt Auskünfte für die ganze Republik zum Ortstarif (Telephon 0130/4460), bis zu 2000mal am Tag. Bei den Grünen sind es die »Zählsorge-Telephone«, die nicht stillstehen, wie Ulrich Heide vom NRW-Landesverband berichtet: »Die Anrufer kommen aus allen Bevölkerungsschichten. »
Rat wird gesucht von Gesetzestreuen wie von Boykotteuren. Nirgendwo, so der Hamburger Informatik-Professor Klaus Brunnstein, der als Vortragsreisender durch die Lande zieht, »besteht das Auditorium aus weniger als 400, 500 Leuten«. In die Freiburger Stadthalle kamen 5000 zahlende Zuhörer.
Broschierte Ratgeber sind in Millionen-Auflage verbreitet; allein der Spitzenreiter aus dem »2001-Versand« ("Was Sie gegen Mikrozensus und Volkszählung tun können") wurde bislang 270000mal verkauft. Ganze Sonderseiten räumen Tageszeitungen der Beantwortung einschlägiger Leserfragen durch Experten aus Datenschutz- und Statistikämtern ein. Typische Beispiele aus den »Kieler Nachrichten« vom Mittwoch vergangener Woche: _____« Frage: Wo werden die Studenten gezählt - am » _____« Studienort oder in der Heimatgemeinde? » _____« Antwort: Sie werden sowohl am Studienort als auch in » _____« der Heimatgemeinde gezählt, das heißt, sie müssen in » _____« beiden Gemeinden Erhebungsbögen ausfüllen. » _____« Frage: Ich wohne mit meinem Freund zusammen. Wie » _____« viele Fragebögen müssen wir ausfüllen? » _____« Antwort: Wenn Sie mit Ihrem Freund zusammen einen » _____« Haushalt bilden, das heißt, es ist eine Wohn- und » _____« Wirtschaftsgemeinschaft, dann ist das als ein Haushalt » _____« anzusehen, und es ist ein Haushaltsmantelbogen mit zwei » _____« Personenbogen auszufüllen. Wenn aber beide getrennt » _____« wirtschaften, muß für jeden Haushalt ein Personenbogen » _____« und ein Haushaltsmantelbogen ausgefüllt werden. » _____« Frage: Ich bin über 70 Jahre alt. Warum soll ich denn » _____« jetzt noch meinen Schulabschluß angeben? » _____« Antwort: Diese Fragen werden nur gestellt an Personen » _____« im Alter von 15 bis 65. » _____« Frage: Wenn ich einzelne Fragen auf den Formularen » _____« nicht beantworte, etwa die nach der » _____« Religionszugehörigkeit, mache ich mich dann strafbar? » _____« Antwort: Im Prinzip ja. Es könnte aber sein, daß das » _____« Fehlen einer Antwort gar nicht entdeckt wird. »
Wenn die Demoskopen recht haben, ist noch immer etwa die Hälfte der Westdeutschen vom Nutzen der Volkszählung nicht überzeugt. Allensbach ermittelte, daß lediglich 41 Prozent den Zensus für notwendig halten. Auch nach einer Infas-Umfrage sind es nur 57 Prozent, doch 29 Prozent halten sie für überflüssig, elf Prozent für gefährlich.
Rundum willkommen ist der Zensus also auch diesmal nicht. Aber die meisten werden mitmachen, sei es aus Staatsräson oder aus Angst vor Zwangs- und Bußgeldern, die bis zu 10000 Mark betragen können. Die erbitterte Auseinandersetzung um die Zählung, die von Woche zu Woche zugenommen hat, ist ohne befreiende Wirkung geblieben.
Egon Hölder, der Präsident des Statistischen Bundesamts, kann die ganze Aufregung überhaupt nicht begreifen. Eigentlich, meint er, sei eine Volkszählung doch »die normalste Sache der Welt«, und nun werde darum gestritten, »als sei es des Teufels eigenes Werk«.
Die Verweigerer wiederum glauben den Beteuerungen nicht, daß die ausgefüllten Fragebögen bei den Statistikämtern so sicher lägen wie in Abrahams Schoß. Sie argwöhnen, daß die auf Magnetbändern gespeicherten Informationen auch anderen Behörden und Institutionen zugespielt werden.
Die Konfrontation, die sich da in den letzten Monaten aufgebaut hat, ist mit rationalen Erklärungsmustern kaum noch zu fassen. Der Frankfurter Rechtsanwalt Sebastian Cobler, ein Volkszählungskritiker, vermutet, »daß hier zwei fixe Ideen aufeinandergetroffen sind«.
Dem Dogma, Sozialplanung sei nur mit einer umfassenden Kenntnis von Bevölkerungsdaten möglich, hängt so
ziemlich alles an, was staatstragend ist: Regierungskoalition und, wenn auch nicht ganz geschlossen, die oppositionelle SPD, der Deutsche Gewerkschaftsbund wie der Zentralverband der Deutschen Haus-, Wohnungs- und Grundeigentümer, der Arbeitskreis Deutscher Marktforschungsinstitute ebenso wie die Mehrheit der Datenschutzbeauftragten. Der Bundespräsident ist dafür, »ohne Wenn und Aber«, wie er vergangene Woche sagte, Bayerns Innenstaatssekretär Peter Gauweiler ebenfalls und Fernsehfahnder Eduard Zimmermann sowieso.
Der anderen fixen Idee, daß hinter der staatlichen Erhebung der Große Bruder lauere, frönt eine recht gemischte Gesellschaft. Ihr gehören die Grünen an, die den Boykott zum Parteitagsbeschluß erhoben haben, eingefleischte Liberale, die nicht in ihrem Privatleben herumschnüffeln lassen wollen, ebenso Jusos, die es wieder einmal nicht so halten wie ihre Altgenossen an der Parteispitze, ferner die Humanistische Union, der Deutsche Strafverteidiger-Verein, Prominente wie der Wissenschaftspublizist Hoimar v. Ditfurth (siehe Seite 34) und der Schimanski-Darsteller Götz George ("Volkszählung ist Blödsinn").
Dabei sind auch Linksversprengte jeglicher Couleur, Autonome, Krawallos und Chaoten, aber auch renommierte Juristinnen wie die Hamburger Anwältinnen Gisela Wild und Maja Stadler-Euler, die gar keinen Boykott im Sinn hatten, sondern es mit einer vorbeugenden Unterlassungsklage gegen den Zählerbesuch versuchen (SPIEGEL 20/ 1987).
Der harte Kern der Verweigerer hat sich in »Boykott-Initiativen« formiert, von denen es nach Angaben eines Koordinationsbüros« in Bonn mehr als tausend gibt, so viele, »daß auf der Landkarte kein weißer Fleck mehr ist«.
An ihnen könnte der Zensus scheitern. Denn nach dem Willen ihrer Erfinder soll die Zählung eine »Totalerhebung« sein, was nichts anderes heißt, als daß ausnahmslos jedermann zu erfassen wäre. Aber obwohl das Gesetz Sanktionen vorsieht, rechnet die Mannheimer »Forschungsgruppe Wahlen«, Hausinstitut des ZDF, mit sieben Prozent festentschlossenen Verweigerern. »Infas« für die ARD kam sogar auf neun Prozent. Das käme einer Sperrminorität gleich; sie würde genügen, die Ergebnisse der Volkszählung unbrauchbar zu machen.
Die abträgliche Wirkung hängt weniger mit der Zahl der Verweigerer zusammen als damit, daß sie sich höchst ungleichmäßig auf die Republik verteilen. Während auf dem Land und in Kleinstädten, wo jeder jeden kennt, wohl fast alle brav ihre Fragebögen ausfüllen, erwarten Statistiker in einigen Großstädten Ausfälle bis zu 20 Prozent. Das läßt sich statistisch nicht mehr zurechtrücken.
Um das Milliarden-Projekt zu retten, hat das Kabinett Kohl denn auch die »größte Öffentlichkeitsaktion der Bundesregierung seit Bestehen der Republik« in Gang gesetzt, einen beispiellosen Reklamerummel: Bunte Prospekte in den Briefkästen, Neonreklame auf Bahnsteigen und Abziehbilder an S-Bahn-Fenstern, Kleinanzeigen in Zeitungen und Großplakate an Litfaßsäulen sollen Unkundige und Unschlüssige zu guter Letzt doch noch ködern.
Auch der Anfang des Jahres erteilte Rat des niedersächsischen Verfassungsschutz-Chefs Peter Frisch, mittlerweile Vize im Bundesamt, ist erhört worden: »griffige, leicht verständliche Darstellungen zur Notwendigkeit der Volkszählung«, vor allem »Fernsehspots« und »Anzeigenwerbung, ruhig auch in Comic-Form«. Das Ergebnis ist seit Wochen jeweils nach der »Tagesschau« zu besichtigen: kichernde Kugelmännchen, die vornehmlich alberne Begründungen für die Volkszählung von sich geben .
Wo solcher Schnickschnack schon gar keinen Erfolg verspricht, in der Boykott-Szene nämlich, setzt die Staatsgewalt sich selber ein. Flugblätter, Anschläge und Zeitungen der Volkszählungsboykott-Initiativen, die sich »VoBo« abkürzen, werden kassiert, sobald Polizei und Justiz ihrer ansichtig werden.
Am Maifeiertag, morgens um 4.45 Uhr, rückten zehn Mannschaftstransporter und ein Gerätewagen der Berliner Polizei aus, um das »Volkszählungsboykott-Info-Büro« (VIB) im Kreuzberger Alternativen-Zentrum »Mehringhof« zu filzen. Mit Brecheisen stemmten die Beamten eine Stahltür auf, knackten eine Eisenkette und durchbohrten das Zylinderschloß am Eingang zu den VIB-Räumen.
Dort konfiszierten sie, laut Beschlagnahme-Protokoll, unter anderem »div. Stapel« einer Boykott-Broschüre ("7. Auflage"), schleppten paketweise Flugblätter, einen Haufen Plakate und »1 Leitz-Ordner« ab. Einen richterlichen Durchsuchungsbefehl für die Nacht-und-Nebel-Aktion gab es nicht, der Staatsanwalt hatte Gefahr im Verzuge gesehen; abends stand Kreuzberg in Flammen.
Die Bonner Staatsanwaltschaft erwirkte wenigstens noch beim Bereitschaftsdienst des örtlichen Amtsgerichts einen richterlichen Durchsuchungsbeschluß, als die Bundesgeschäftsstelle der Grünen dran war. Zwei Dutzend Beamte fahndeten, nachdem sie die Türen von einem Schlüsseldienst hatten öffnen lassen, nach einem Flugblatt, das seit etlichen Wochen in Umlauf war und von dem damals bereits 800000 Stück ausgeliefert waren. Die Polizisten konnten gerade noch 978 Restexemplare sicherstellen. Titel: »Nur Schafe werden gezählt.«
Landauf, landab suchten Polizisten und Staatsanwälte in Büros und Wohnungen nach Flugblättern mit Boykott-Ratschlägen, mitunter wurden Flugblattverteiler festgenommen und erkennungsdienstlich behandelt - Photos und Fingerabdrücke in den Polizeiakten, als ob es um Hochverrat ginge.
Kassiert wurde ein Spruch von Kanzler Kohl, der den bohrenden Fragen im Bonner Flick-Untersuchungsausschuß mit der Bemerkung ausgewichen war: »Entschuldigung, aber was ich beantworte, überlassen Sie freundlicherweise mir« - goldene Worte für Boykott-Aufkleber, -Flugblätter und -Broschüren.
Daß nahezu tausend Lehrer am Freitag vergangener Woche in der »Hamburger Morgenpost« einen Boykott-Aufruf veröffentlichten, wäre in Bayern ein klarer Fall für »strafrechtliche Konsequenzen« gewesen, wie sie erst am Tag zuvor Ministerpräsident Franz Josef Strauß für alle VoBo-Aktiven gefordert hatte. In Hamburg sah man''s gelassener. Außerdienstliche Äußerungen von Beamten auf »diesem sensiblen Gebiet«, so heißt es in der Schulbehörde, würden »jedenfalls disziplinarisch nicht geahndet«.
Die Kripo im fränkischen Schwabach hingegen leitete gegen eine Journalistin ein Ordnungswidrigkeitenverfahren ein, die in der Lokalzeitung und einem Gemeindemitteilungsblatt über eine Veranstaltung mit einem Grünen-Fraktionsmitarbeiter berichtet hatte. Durch den Artikel, so der Vorwurf, »fordern bzw. zeigen Sie Möglichkeiten des Volkszählungsboykotts auf .
In Nürnberg wurde am vorletzten Wochenende ein »Volkszählungs-Fest« im städtischen »Komm« auf Anweisung der Bezirksregierung von Mittelfranken verboten. Das Motto »Verzähl nix«, befand auch das von den Veranstaltern angerufene Verwaltungsgericht Ansbach, sei gleichbedeutend mit einem Boykott-Aufruf: »Das Mundartliche als Stilmittel«, so die juristischen Sprachforscher, könne zwar »dem Gesagten zuweilen auch einen fröhlichen, heiteren Charakter geben'', sei aber ..auch geeignet, dem Gesagten besonderen Nachdruck zu verleihen« .
In Darmstadt genehmigte die Stadtverwaltung Info-Stände von Zählungsgegnern nur unter der Auflage, daß mißliebiges Schrifttum nicht feilgeboten werde. Anstoß nahm die Behorde auch an einem Buch über die Verkabelungspläne der Bundespost ("Mikropolis« ). in dem das Wort Volkszählung nicht einmal vorkommt.
Weit mehr als hundert Diskussionsveranstaltungen und Info-Stände wurden in den letzten Wochen von Stadtverwaltungen vorsorglich verboten, damit unbotmäßige Gedanken gar nicht erst unters Volk kamen. Das Feindbild umriß Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU). Letzte Woche schlug er den Bogen von den »Aktionen, die wir zur Zeit unter dem Stichwort Volkszählungsboykott erleben«, zu den »Pamphleten. die uns bei terroristischen Verbrechen frei Haus geliefert werden«. Hier wie dort sei »der freiheitliche Rechtsstaat zunehmend zum Angriffsobjekt geworden«, sollten »der Staat und die Staatsautorität vorgeführt werden«.
Bei allem Unfug des Terrorismus-Vergleichs hat Zimmermann in einem Punkt recht: Es kann kein Zweifel daran bestehen. daß die Boykotteure den Staat vorführen wollen. Sie wollen die Volkszählung platzen lassen, und manchen ist dabei jeder Trick recht.
Wozu Boykotteure fähig sind, entdeckten Freitag morgen letzter Woche die Aufseher im Dortmunder Westfalenstadion. Da stand mit weißem Sprühlack auf grünem Rasen zwischen Mittelkreis und Strafraum des Fußballfeldes: »Boykottiert und sabotiert die Volkszählung . Eile war geboten: Am Abend war die Begegnung Borussia gegen HSV angesetzt. Doch alle gärtnerischen Bemühungen scheiterten, die Schrift auf dem Rasen war nicht rechtzeitig zu beseitigen.
Da griffen auch die Stadionhüter zur Sprühdose und fälschten in eine staatstragende Version: »Der Bundespräsident: Boykottiert und sabotiert die Volkszählung nicht« - so lasen es die Fußballfans am Abend.
Verwirrung bei Zählern und Gezählten stifteten raffinierte Fälschungen, die in mehreren Städten auftauchten. In Kassel steckten Unbekannte letzte Woche falsche Fragebögen in Hausbriefkästen - mit scheinbar amtlichen Fragen wie: »Sind Sie zur Zeit tätig als ''Schwarzarbeiter''?« Oder: »Wie erledigen Sie Ihren Zahlungsverkehr?«
Mit falschen Behördenbriefen mußte sich auch die Stadtverwaltung im rheinischen Langenfeld herumschlagen, wo auf Behördenpapier angekündigt wurde, _(Landesdelegiertenkonferenz ) _(Nordrhein-Westfalen, Mai 1987. )
die Volkszählung sei abgesagt, oder der Magistrat in Fulda, unter dessen Briefkopf da ein »amtlicher« Boykott-Aufruf wegen »Verschwendung von Steuergeldern« zirkuliert.
Manchen Verantwortlichen dämmerte letzte Woche, daß Saboteure möglicherweise auch in den Erhebungsstellen sitzen. »Vobopiraten« nennen sich die Absender eines ganzen Stapels ausgefüllter Gebäude- und Arbeitsstättenbögen, der dem SPIEGEL zugeschickt wurde - zum Beweis dafür, »was mit Bögen für Unfug getrieben werden kann«.
Weitere Zählungsbögen, so kündigt die Gruppe an, »gibt''s kartonweise«. Die Formulare mit heiklen Daten, die zum Beispiel Lohnsummen einer Arztpraxis oder eines Blumenladens enthalten, stammen fast alle von Gezählten in Augsburg und Umgebung. Nur Amtspersonen - oder Einbrecher - konnten sich die Unterlagen greifen.
So viel Chuzpe muß der gewöhnliche Verweigerer nicht aufwenden. Er braucht sich nur an den Rat der Boykott-Initiativen zu halten, seinen Fragebogen bei der örtlichen Initiative abzuliefern«, nachdem dieser »durch Abschneiden der Kennummer anonymisiert« worden ist. Wenn die Heft-Nummer« am oberen rechten Rand des Formulars fehlt, sind die Absender nicht zu ermitteln, falls die Sammelstellen der Boykotteure, wie sie erwarten, von der Polizei heimgesucht werden.
Der VoBo-Ratschlag, die Formulare zwar vom Zähler entgegenzunehmen, sie aber nicht, wie versprochen, per Post an die zuständige »Erhebungsstelle« zurückzuschicken, sondern von den Initiativen zählen zu lassen, birgt für die Zensus-Veranstalter besondere Brisanz. Denn mit dieser Masche, die Ende April bei einem Initiativen-Treffen in Köln verabredet wurde, gehen Verweigerer zumindest in den ersten Wochen nach dem Zähltag noch kein Risiko ein.
Erst wenn die Zähler, etwa Mitte Juni, ihre Adressenlisten bei den Erhebungsstellen abgegeben haben werden, können die feststellen, wessen Fragebögen noch fehlen. Erinnerungs- und Mahnschreiben werden häufig die Adressaten nicht erreichen - Sommerferien.
Sobald allerdings formelle »Heranziehungsbescheide« mit Postzustellungsurkunde und Rechtsmittelbelehrung versandt werden, müssen sich Boykott-Willige entscheiden, ob sie ein neues Formular anfordern und ausfüllen, ob sie Widerspruch und Verwaltungsklage einreichen oder ob sie es darauf ankommen lassen, daß gegen sie Zwangsgelder verhängt werden. Dieses Beugemittel kann beliebig oft angewandt werden; nach behördeninternen Anweisungen soll es mit 100 oder 200 Mark losgehen.
Unionsabgeordnete sind schon auf die Idee verfallen, Verstöße gegen die Auskunftspflicht und Boykott-Aufrufe nicht nur als Ordnungswidrigkeit mit saftigen Bußgeldern zu ahnden; sie regen vielmehr an, »alle denkbaren Vorschriften des Strafrechts heranzuziehen«.
Einige Staatsanwälte handeln bereits. Wie in Berlin und Bonn wurden auch Durchsuchungen in München, Augsburg und Mainz damit begründet, daß das Herausschnipseln der Heft-Nummer eine Sachbeschädigung oder gar, so das Amtsgericht in Trier, eine »gemeinschädliche Sachbeschädigung« sei, der Flugblatt-Tip mithin als »Aufforderung zu Straftaten« zu werten sei. Auch der Tatbestand der Urkundenunterdrückung wird in Erwägung gezogen.
Für den Grünen-Bundesgeschäftsführer Eberhard Walde sind solche juristischen Konstruktionen »ziemlich albern«. SPD-Fraktionschef Hans-Jochen Vogel, ein Befürworter der Volkszählung, bezweifelt, daß die Staatsaktionen »dem rechtlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit entsprechen«. Es müsse bedacht werden, ob »überzogene Aktivitäten« nicht sogar ein »gesteigertes Mißtrauen gegenüber der Volkszählung hervorrufen« .
Die Befürchtung liegt nahe, zumal Mißtrauen auch bei biederen Bürgern aufkommt, die gar nicht boykottieren sondern nur ihre kleinen Sünden verbergen möchten. »Es ist doch die Frage«, so ein Datenschützer, »wie nun Leute reagieren werden, die eigentlich ihre schwarz ausgebaute Mansarde oder die dem Finanzamt gegenüber verschwiegene Mieteinnahme angeben müßten.«
Sie werden vermutlich mogeln, das eine oder andere Detail falsch angeben und darauf hoffen, daß das nicht entdeckt wird. Es muß auch nicht entdeckt werden.
Die »Plausibilitätskontrollen«, die teils durch Sichtung der Fragebögen in den Zählstellen, teils durch elektronischen Check bei den Statistik-Ämtern erfolgen, können nur die gröbsten Unstimmigkeiten aufdecken. Wer sich als katholische Pastorin, zwölfjähriger Witwer oder Akademiker mit Hauptschulabschluß ausgibt, fliegt auf.
Mit anderen Falschangaben hingegen sind die Volkszähler leicht zu täuschen. Sich wahrheitswidrig Abitur oder Hochschulexamen zuzulegen ist praktisch nicht nachprüfbar, und auch Schummeleien bei der Miethöhe oder der Wohnungsfläche von Eigenheimen sind schwerlich aufzuspüren. Den größten Kummer bereitet den Statistikern deshalb dieser »weiche Boykott«, weil überhaupt nicht abzuschätzen ist, in welchen Dimensionen die Ergebnisse verfälscht und verzerrt werden.
Die Motive für Mogeleien sind unterschiedlicher Natur. Eine Gruppe von Schummlern hält die Zählung einfach für teuren Nonsens und meint, daß es da auf ein paar Absurditäten, die aus Daffke eingetragen werden, auch nicht mehr ankommt. Vor allem aber werden jene Bürger zu kleinen Notlügen greifen, die dem Amtsgeheimnis nicht so recht trauen: Sie füllen die Formulare eben passend zu den Angaben aus, die sie anderswo schon gemacht haben.
Beispiel 1: Ein Mitglied einer Wohngemeinschaft, das beim Einwohneramt nicht gemeldet ist, mithin auch nicht auf der »Namenliste« des Zählers auftaucht, braucht seine Existenz nun nicht ausgerechnet beim Zensus anzugeben. Umgekehrt können Eltern, deren studierender Sohn noch bei ihnen gemeldet ist, aber _(Am 9. Mai auf dem Berliner ) _(Kurfürstendamm: Polizei löscht ) _(Werbebroschüren, die von ) _(Volkszählungsgegnern angezündet wurden. )
nicht mehr dort wohnt, den Filius wahrheitsgemäß von der Liste streichen lassen - und wenn er anderswo nicht amtlich registriert ist, wo ihn der Zähler finden kann, hat die Bundesrepublik wieder einen Bürger weniger.
Beispiel 2: Wer in seiner Steuererklärung behauptet, täglich mit dem Auto ins Büro zu fahren, tatsächlich aber an einer Fahrgemeinschaft beteiligt ist oder die billigere S-Bahn benutzt, streicht auf dem Fragebogen halt auch die Rubrik »Pkw« an - die statistische Verkehrsdichte auf den Straßen dürfte sich beträchtlich erhöhen.
Ein beliebtes Argument der Zensus-Befürworter lautet, daß jeder seinen Fragebogen getrost ausfüllen könne, der »nichts zu verbergen« habe. Doch es gerät leicht zum Bumerang. Im Umkehrschluß gibt es jenen recht, die einen illegalen Dateienverbund unterstellen.
Ein banales Beispiel solcher Selbstentlarvung lieferte ausgerechnet der frühere Berliner CDU-Innensenator Heinrich Lummer, der vor dem Abgeordnetenhaus die Harmlosigkeit der Volkszählung demonstrieren wollte. Am Rednerpult verkündete Lummer, wie er die Fragen beantworten wolle. Doch schon bei der Rubrik »Familienstand« stutzten die Kollegen: Lummer gab, wahrheitsgemäß, »geschieden« an - im Parlamentshandbuch ist er seit Jahr und Tag als »verwitwet verzeichnet, was dem Katholiken Lummer wohl angenehmer war.
Da mag das Statistische Bundesamt in Anzeigen noch so oft beteuern, daß das Privatleben »vollkommen Ihr Bier« sei. Der allzu sorglose Umgang staatlicher Stellen mit persönlichen Daten - Minderjährige in Polizeicomputern, Steuerakten auf dem Müllplatz, unzulässiger Informationsaustausch auf dem kurzen Dienstweg zwischen Behörden - wirft Schatten auch auf die amtliche Statistik.
Vertrauen der Bürger, konstatierten die Karlsruher Richter im Volkszählungsurteil 1983, sei eine wesentliche Voraussetzung für die Bereitschaft zur korrekten Auskunft. Die Entstehungsgeschichte des neuen Volkszählungsgesetzes wie auch die organisatorische Vorbereitung des Zensus und die undurchschaubare künftige Verwertung der Daten lassen aber Zweifel aufkommen.
Die Auflagen des BVG, behauptet das Statistische Bundesamt, seien in dem neuen Gesetz »peinlich genau und in vollem Umfang« befolgt worden. Und selbst kritische Datenschützer wie Hessens Spiros Simitis ("eindeutig verfassungskonform") bestreiten nicht, daß sich der Bonner Gesetzgeber viel Mühe gegeben hat, im zweiten Anlauf eine stabile rechtliche Grundlage zu schaffen.
Gleichwohl hat auch das neue Gesetz Schwachpunkte. Es schließt nicht aus, daß im Extremfall aus dem Wust anonymen Materials auf den Datenlieferanten geschlossen werden kann. Zwar gibt es einen Paragraphen, der diese Reidentifizierung bei Strafe verbietet (Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe). Aber untersagt ist lediglich, die Volkszählungsdaten »mit Daten aus anderen statistischen Erhebungen« zu kombinieren, um einen Personenbezug herzustellen - die Verknüpfung mit Daten aus anderen Quellen ist von dieser Vorschrift nicht erfaßt.
Daß sich da eine Lücke im Gesetz auftut, haben die Bonner Abgeordneten offenbar selbst erkannt: Im neuen Bundesstatistikgesetz, das im Januar verabschiedet wurde, versperrten sie das übersehene Hintertürchen für neugierige Datenfledderer, die Verquickung »mit anderen Daten« ist danach generell verboten. Doch beim Zensus gilt nicht das allgemeine Statistik-, sondern das spezielle Volkszählungsgesetz.
Wie einfach es gelingt, schon mit wenigen Erhebungsmerkmalen aus der Volkszählung eine bestimmte Person aus einer großen Bevölkerungsgruppe herauszufiltern, haben zur Jahreswende der Hamburger EDV-Spezialist Brunnstein und die Informatik-Studentin Simone Fischer-Hübner in einem Simulationsmodell auf dem Computer nachgewiesen (SPIEGEL 3/1987).
Aus Unterlagen des Statistischen Bundesamtes und des Statistischen Landesamtes Hamburg erzeugte die Studentin in einem IBM-Personalcomputer eine Modellbevölkerung von 100000 Einwohnern. Der Informatikerin gelang es, mit Hilfe von Informationen, wie sie bei der Volkszählung anfallen, fast alle Personen der Datenanonymität wieder zu entreißen.
Als »irreale Planspiele« bezeichnet der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats für die Volkszählung, der Kölner Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik Karl-August Schäffer, solche Rasterfahndungsmethoden. Um die auf Magnetbändern gespeicherten Daten bestimmten Personen zuordnen zu können, sei geradezu »eine Verschwörung« nötig, an der sich mindestens vier Mitarbeiter in Statistik-Ämtern beteiligen müßten.
Daß die Reidentifikation technisch machbar ist, bestreitet aber niemand. Und sie erfordere, so behauptet beispielsweise die »Gesellschaft für Informatik«, auch keinen unverhältnismäßig hohen Aufwand, die vom Verfassungsgericht geforderte »faktische Anonymität« sei mithin »nicht gewährleistet«.
Ob solche und andere Einwände gegen das Gesetz von den Karlsruher Richtern geteilt würden, könnte nur ein neues Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht klären. Das kann schnell zustande kommen: dann nämlich, wenn ein Verwaltungsgericht eine strittige Volkszählungssache als sogenannten Vorlagebeschluß nach Karlsruhe reicht.
Und daß westdeutsche Verwaltungsgerichte sich mit einschlägigen Klagen befassen müssen, serienweise, steht jetzt schon fest. Tausende von Boykotteuren warten nur darauf, daß ihnen die Volkszählungsformulare zugestellt werden - ein Verwaltungsakt, gegen den mit Widerspruch und Anfechtungsklage angegangen werden kann.
Weil über diese beiden Rechtsmittel in der Regel nicht rasch entschieden wird, _(Durchsuchung der Bundesgeschäftsstelle ) _(der Grünen am 25. April. )
muß der Zählungsunwillige zusätzlich noch per »Stopp-Antrag«- sicherstellen, daß er die Formular-Fragen fürs erste nicht beantworten muß.
Welcher Konfliktstoff sich sonst schon für die Gerichte angesammelt hat, zeigt eine Fülle fragwürdiger Vorgänge während der Vorbereitung der Volkszählung. Beispiele: *___Im niederrheinischen Viersen übermittelte das Sozialamt ____dem Städtischen Amt für Statistik und Wahlen Namen wie ____Adressen von Sozialhilfeempfängern und empfahl die ____Ahnungslosen als Zähler - was nach dem ____Datenschutzgesetz verboten ist. *___In Wuppertal trug die Erhebungsstelle fehlende Angaben ____in die (bereits vorab ausgegebenen) Gebäudebögen ein; ____statt Rücksprache mit den Betroffenen zu halten ließen ____sich die Bediensteten die nötigen Informationen einfach ____vom Amt für Bauförderung und Wohnungswesen geben - was ____der Datenabschottung widerspricht, die gerade das ____Volkszählungsgesetz postuliert. *___Das Ulmer Volkszählungsbüro verglich zurückgegebene ____Gebäudebögen mit dem städtischen Adreßbuch und ____verschickte bei Unstimmigkeiten nochmals Fragebögen an ____die Hauseigentümer, um die Inhaber nicht gemeldeter ____Arbeitsstätten zu ermitteln - die vom Gesetz nicht ____gedeckten Extra-Formulare mußten auf Intervention der ____baden-württembergischen Datenschützerin Ruth Leuze in ____den Reißwolf befördert werden. *___In vielen Fällen wurden Angehörige solcher Berufe zu ____Zählern bestellt, die wegen möglicher ____Interessenkonflikte vom Zähldienst ausdrücklich ____ausgenommen sind, beispielsweise Polizisten (in ____München) oder Finanzbeamte (in Nordrhein-Westfalen) . *___Häufig wurden Beamte zu Zählstellen-Leitern berufen, ____die nicht einmal als Zähler fungieren dürfen, zum ____Beispiel die Chefs von Melde-, Ausländer- oder ____Sozialämtern - das Verwaltungsgericht in Sigmaringen ____befreite eine Hausbesitzerin von der Auskunftspflicht ____für den Gebäudebogen, weil der Dorfbürgermeister ____zugleich der Erhebungsstelle vorsteht.
Mit den Zählern wird es noch mehr Probleme geben. Mit Ach und Krach haben die Erhebungsstellen das Heer der ehrenamtlichen Helfer zusammenbekommen, bundesweit mehr als eine halbe Million. Die meisten fügten sich unter dem Druck des Gesetzes oder der Vorgesetzten, die bisweilen mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen drohten, wenn Staatsdiener die Bürgerpflicht zum Zählen nicht befolgen wollten.
»Zähler verdienen Ihr Vertrauen«, wirbt das Statistische Bundesamt, denn sie seien »sorgfältig ausgewählt'' und müßten laut Gesetz »Gewähr für Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit bieten«. In Wahrheit mußten die Statistiker nehmen, wen sie kriegen konnten - Schusselige eingeschlossen. In Stuttgart ließ ein Zähler vergangene Woche seine »Begehungsliste« mit den Daten seiner Zählbürger auf einer Gartenmauer liegen - seitdem ist die Liste verschwunden. Dafür tauchte der ausgefüllte Bogen einer Anwaltsgehilfin aus Hameln bei einem anderen Zählbürger wieder auf; die Erhebungsstelle hatte ihn versehentlich statt eines Blankobogens herausgegeben. Ein Z ählungsbeamter: »Im Massengeschäft kann das schon mal vorkommen.«
An vielen Zwangsrekrutierten und Freiwilligen dürften die Erhebungsstellen wenig Freude haben. Einerseits schmuggelten sich Boykotteure als »trojanische Zähler« ein, die den Zensus sabotieren, zumindest aber bei den Gezählten Stimmung gegen die Fragebogen-Aktion machen wollen.
Hamburger Lehrer, die trotz Widerspruch verpflichtet wurden, hielten es beispielsweise für ihre »staatsbürgerliche Pflicht«, die Einwohner ihrer Zählbezirke über ihre »politischen und rechtlichen Bedenken zu informieren«.
Andererseits rühmt sich die rechtsextreme »Hamburger Liste für Ausländerstopp«, ihre Mitglieder und Sympathisanten hätten sich »in großer Zahl zum Klinkenputzen gemeldet, um »den rotgrünen Boykott zu unterwandern«, vor allem aber, um »hier illegal lebende Nicht-EG-Ausländer herauszufinden«.
Auch andere Helfer, die sich anboten, verstärken eher das Mißtrauen. Vielerorts wurden minderjährige Schüler, die das Taschengeld lockte, als letztes Aufgebot eingesetzt. Verteidigungsminister Manfred Wörner offerierte Soldaten, um dem Mangel an Zivilisten abzuhelfen .
In die Bresche springen auch Politiker, die, so der Berliner Innensenator Wilhelm Kewenig (CDU), »ein Beispiel geben« wollen, deren Tour durch die Wohnungen indes eine neue Streitfrage aufwirft: Dürfen Polizeiminister wie Kewenig oder sein nordrhein-westfälischer SPD-Kollege Herbert Schnoor, was das Gesetz einfachen Polizisten verbietet?
Denn ebenso wie Finanzbeamte, Staatsanwälte oder Mitarbeiter von Meldebehörden sollen Polizisten nicht zählen, wenn sie »aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit« womöglich zufällig gewonnene Einblicke hinterher nutzen könnten, um den Besuchten ein Verfahren wegen Steuerbetrugs oder eines Verstoßes gegen die Meldepflicht anzuhängen .
Schnoor, der im Düsseldorfer Stadtteil Grafenberg als Zähler losmarschierte, wurde überall »freundlich aufgenommen«. Immerhin hatte er auch seinen Begleitschutz dabei, der freilich vor der Tür bleiben mußte. Viele Zähler fürchten jedoch, daß sie den aufgestauten Unmut ausbaden müssen. Sie rechnen, wie einer aus Berlin sagt, mit »starken Aggressionen«, wenn sie engagierten Boykotteuren gegenüberstehen. Nicht auszuschließen sei auch, daß militante Verweigerer Gegenbesuche bei den Zählern machen.
»Damit die persönlichen Daten des Zählers geschützt bleiben«-, empfiehlt Dankwart Breithaupt vom Frankfurter Rechtsamt, nur die dritte Seite des Personalausweises aufzuschlagen.
Name und Adresse stehen indes auch auf den blau-weißen Zählerausweisen, damit sich die Gezählten vergewissern können, daß sie nicht von einem aus der Nachbarschaft ausgekundschaftet werden. Die Kehrseite: Zähler, die etwa in Kreuzberg eingesetzt werden, haben Angst vor Repressalien, zumal nach der Krawallnacht Anfang Mai. Problemdistrikte
sind durchaus bekannt. Was in Hamburg die Hafenstraße, ist in Düsseldorf die Kiefernstraße - ein Quartier von Hausbesetzern und Autonomen, wo sich kein Zähler hintraut. Eine Abiturientin, die zunächst für die Kiefernstraße zugeteilt war, hat einen anderen Bezirk bekommen.
Düsseldorfs Zählstellenleiter Gerd Kark geht davon aus, »daß dort den Zählern sowieso nicht geöffnet würde«. Deshalb kommen dort die Bögen gleich mit der Post, aber »eine andere Sache«, weiß Kark, »ist es, ob sie auch ausgefüllt werden« .
Auf Diskussionen mit Boykotteuren, so ist den Zählern eingeschärft worden, sollen sie sich nicht einlassen. »Wir können«, sagt der Stuttgarter Schulungsleiter Klaus Kaiser, »keinen Unterricht in Psychologie abhalten.« Die Zähler hätten »nicht die Aufgabe, an der Wohnungstür noch jede Menge Überzeugungskraft zu leisten« .
Mit harten Boykotteuren, beruhigt ein Berliner Einweiser seine Leute, sei das ganz einfach: »Wenn jemand die Annahme des Bogens verweigert oder Ihnen unmißverständlich die Tür vor der Nase zuknallt, notieren Sie das auf dem Vordruck. »
Manche Verweigerer, ahnen die Zähler, werden sich jedoch einen Jux daraus machen, die Bögen anzunehmen, zu den Boykott-Sammelstellen zu bringen und immer wieder neue Formulare anzufordern - unter Vorwänden, daß Kleinkinder darauf herumgemalt hätten oder daß versehentlich Kaffee darübergeschüttet worden sei. Solches Katz-und-Maus-Spiel, klärt der Schulungsleiter auf, sollten die Zähler dreimal mitmachen, »den Rest erledigen wir«.
Drei Versuche sollen Zähler auch unternehmen, wenn niemand aufmacht. Doch dann, kritisiert der Wiesbadener Rechtsanwalt Gerhard Strauch, »beginnt die Schnüffelei in der Nachbarschaft«.
Die Zähler werden wochenlang versuchen, die Formulare loszuwerden, und über Monate werden die Erhebungsstellen alles daransetzen, sie wieder einzutreiben. Am Ende, wenn alles nichts nutzt, dürfen die Zensusbehörden die Bögen selber ausfüllen. Als »Ersatzvornahme«, wie es im Gesetz heißt, tragen sie sechs Grunddaten aus den Melderegistern ein.
Das kann zwar nicht einmal richtige Bevölkerungszahlen ergeben, wenn die Klagen von Kommunalpolitikern stimmen, daß die Register so hoffnungslos verlottert sind, weil sich viele Leute beim Wegzug aus einer Gemeinde einfach nicht ordnungsgemäß ab- und anmelden. Und von Vollständigkeit der Strukturdaten kann schon gar keine Rede sein.
Aber die Statistiker werden ein Ergebnis vorweisen, das Vollständigkeit vorspiegelt - Lücken gefüllt, hochgerechnet und stimmig gemacht. Das kann die Einsicht in die Notwendigkeit einer Vollerhebung nicht steigern, deren Nutzwert von den meisten Westdeutschen ohnehin angezweifelt wird.
Warum soll gerade eine Volkszählung darüber Aufschluß geben, »mit wieviel Schulanfängern« zu rechnen sei, wie eine der Begründungen lautet - wurden die Kinder nicht bei der Geburt registriert?
Läßt sich die künftige Zahl der Rentenempfänger nicht schon an den Beitragszahlungen ablesen? Welchen Sinn hat es, nach jahrelangen Arbeiten an Tabellen und Schautafeln »Feststellungen zur Arbeitslosigkeit bzw. Arbeitssuche« treffen zu können - geht das nicht aktueller durch die Arbeitsämter?
Die Verfechter der Volkszählung berufen sich gern darauf, daß das Verfassungsgericht eine Art Bestandsgarantie für die Totalerhebung gegeben habe. Die Richter hätten den Zensus als »unentbehrliche Handlungsgrundlage« gebilligt, »wenn die ökonomische und soziale Entwicklung nicht als unabänderliches Schicksal hingenommen« werden solle.
Tatsächlich ist im entscheidenden Urteilspassus nicht von Volkszählung, sondern nur allgemein von »Statistik« die Rede. An anderer Stelle wird hingegen in Zweifel gezogen, ob Totalerhebungen methodisch nicht überholt seien: »Vor künftigen Entscheidungen«, forderte das BVG, müsse sich der Gesetzgeber »erneut mit dem dann erreichten Stand der Methodendiskussion auseinandersetzen«.
Ebendies, wenden Kritiker ein, sei ernsthaft nicht getan worden. Das Parlament, bemängelt die Stuttgarter Datenschützerin Leuze, habe das Problem »mit dem Hinweis vom Tisch gewischt«, zur Befragung der gesamten Bevölkerung gebe es keine Alternative.
Daß die Volkszählung weder durch freiwillige Auskünfte noch durch Stichprobenerhebungen ersetzt werden könne, versichert auch der Wissenschaftliche Beirat, den die Regierung berufen hat. Das Gremium bekräftigte vorige Woche, daß der Zensus ein unverzichtbares »Skelett« für das gesamte statistische Berichtssystem sei, »ohne das sich Zustand und Entwicklung der Gesellschaft weder beurteilen noch rational gestalten'' ließen.
Das Votum verwundert nicht: Die vier Mitglieder des Beirats sind als Sozialforscher und Statistiker allesamt Konsumenten der Volkszählungsdaten. Ihre Aussage ist daher subjektiv - es ist, als würde die Polizei ein Gutachten über den sie angeblich lähmenden Datenschutz erstatten.
Das Verfassungsgericht, insistiert der hessische Datenschützer Simitis, habe dem Gesetzgeber aufgetragen, »nach Alternativen zu fragen, die den Bürger weniger belasten«. Eine könnte das in den USA und Kanada praktizierte Modell sein: Auskunftspflicht für alle besteht nur bei den Fragen nach Alter, Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe und Familienstand. Die weiteren Fragen - nach Einkommen, Wohnverhältnissen, Ausbildung und Beruf - werden nur jedem fünften Haushalt gestellt.
Ob Amerika als Vorbild taugt, hat der Bundestag nicht näher untersucht. Doch als sicher kann gelten, daß der deutsche Zensus nach Karlsruher Maßstäben keine Zukunft hat. »Es ist meine feste Überzeugung«, sagt Simitis, »daß die Volkszählung in dieser Form die letzte sein wird.«
Landesdelegiertenkonferenz Nordrhein-Westfalen, Mai 1987.Am 9. Mai auf dem Berliner Kurfürstendamm: Polizei löschtWerbebroschüren, die von Volkszählungsgegnern angezündet wurden.Durchsuchung der Bundesgeschäftsstelle der Grünen am 25. April.