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Lehrer Alte Gesichter

Politisch schwer belastete Pädagogen aus alter SED-Zeit haben alle Säuberungen unbeschadet überstanden.
aus DER SPIEGEL 35/1992

Die Leipziger Russischlehrerin Johanna Hustig, 51, ist eine hochdekorierte Pädagogin. Sie kann die Ehrennadel der Nationalen Front in Silber vorweisen und die Medaille »Für hervorragende Leistungen bei der sozialistischen Erziehung in der Pionierorganisation Ernst Thälmann«.

Sie darf sich sogar »Verdienter Lehrer des Volkes« nennen. Dieser »Ehrentitel« wurde ihr noch kurz vor der Wende als Auszeichnung für ihren »parteilichen Unterricht« verliehen. Genossin Hustig habe immer darauf geachtet, so die Begründung, »sich als sozialistische Lehrerpersönlichkeit ständig zu vervollkommnen«. Kein Wunder: Die Pädagogin war jahrelang stellvertretende Schulleiterin und seit 1974 Mitglied der örtlichen SED-Kreisleitung.

Auf Johanna Hustig wollen die sächsischen Schulbehörden auch heute nicht verzichten. Zwar mußte sie sich wegen ihrer bewegten Zeit als SED-Aktivistin vor einer Anhörungskommission im Leipziger Oberschulamt verantworten; das Gremium hat nach Erlaß des Kultusministeriums über die Entlassung politisch oder fachlich ungeeigneter Lehrer zu befinden.

Aber die politische Vergangenheit der Pädagogin irritierte die Prüfer kaum. Sie beeindruckte das Gelöbnis der wendepünktlich Geläuterten, »mit meinen Schülern zu lernen und zu leben, immer für sie dazusein, in fröhlichen und ernsten Stunden, sie zu fordern und alle zu achten«.

Der Name Hustig steht auf einer umfangreichen Liste, die ein Mitglied der Leipziger Kommission heimlich zusammengetragen und Anfang des Monats ans Dresdner Ministerium gesandt hat. Allein im Regierungsbezirk Leipzig sind danach über 30 politisch schwer belastete Lehrer unbeschadet durch die Anhörung gekommen, darunter eine Reihe ehemaliger Parteisekretäre, zwei stellvertretende Kreisschulräte des alten Systems und sogar einige Pädagogen, die eine Stasi-Mitarbeit zugegeben hatten.

In allen fünf neuen Bundesländern haben die Kultusminister Weisung erteilt, Lehrkräfte mit tiefroter Vergangenheit auf die Straße zu setzen. In Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg ist die Überprüfung bereits abgeschlossen, einige tausend Lehrer wurden für politisch bedenklich erklärt und entlassen; in Sachsen und Brandenburg soll die Kündigungswelle zum Jahresende auslaufen. Doch überall im Osten, so zeigt sich jetzt, haben Belastete die Säuberung wohlbehalten überstanden.

Viele konnten sich auf die Unterstützung alter Freunde verlassen. Der sächsische Kultusstaatssekretär Wolfgang Nowak hat »deutliche Hinweise«, daß bereits bei der Sichtung der Personalakten in den Schulämtern »erheblich manipuliert« wurde. Unterlagen, die eine Überprüfung herausgefordert hätten, seien einfach unterschlagen worden, besonders verfängliches Material habe man rechtzeitig zur Seite geschafft.

Das Dresdner Ministerium geht mittlerweile davon aus, daß sich Seilschaften bis in die Spitzen der Behörden ziehen. Eine ganze Reihe Altkader hat sich kurz vor der Vereinigung mit Hilfe ehemaliger Genossen auf Posten der Schulverwaltung in Sicherheit gebracht, wo sie bislang einer Überprüfung entgangen sind und nun ihrerseits nach Belieben Schutz gewähren. Selbst in den Anhörungskommissionen sitzen offensichtlich Gewährsleute, die sich bei guten Bekannten nachsichtig zeigten. Nowak: »In einigen Ämtern hat sich eine Art mafiotische Struktur entwickelt, die wir erst langsam entwirren.«

Dabei sind die Behörden in Sachsen bei der Durchleuchtung ihres Lehrpersonals noch außergewöhnlich rigoros verfahren. Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise verzichtete darauf, überhaupt Anhörungskomitees einzurichten. Das Kultusministerium beauftragte die Kreisschulräte, die zu DDR-Zeiten eingesetzt und nach der Vereinigung unbesehen übernommen worden waren, Kündigungslisten zusammenzustellen. Zwei dieser Schulräte mußten ihren Stuhl inzwischen räumen, wegen erwiesener Stasi-Mitarbeit.

Andere Ostländer wie Sachsen-Anhalt oder Brandenburg bildeten zwar unabhängige Überprüfungsgremien, nannten aber keine klaren Kriterien, wer denn als politisch belastet zu gelten habe. »Wir gehen davon aus, daß die Leute vor Ort wußten, was sie taten«, sagt Ulrich Poch, Sprecher im Magdeburger Kultusministerium. »Die Kommissionsmitglieder haben ja ein langes Gedächtnis, und wo das nicht reicht, vertrauen wir auf das Prinzip der Selbstauskunft.«

Eine Kontrolle der Überprüfungspraxis gab es in Sachsen-Anhalt nicht, die Kreiskomitees verfuhren nach Gutdünken. So spielten etwa in Merseburg politische Verfehlungen bei der Entscheidung über eine Weiterbeschäftigung keine Rolle. In Zeitz wiederum konnte schon die enge Anbindung an die SED zur Kündigung führen, Parteisekretäre wurden »generell als nicht geeignet« befunden.

Die Unregelmäßigkeiten soll nun ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß klären. Als »auffallend« wertet der Ausschuß in einem jüngst vorgelegten Zwischenbericht die große Zahl entlassener Lehrer, die nach eigenen Angaben in der DDR parteilos waren. Gleichzeitig gebe es Hinweise, daß eine »Vielzahl anderer Berufskollegen«, die Funktionäre der SED gewesen seien, »heute wieder an den Schulen des Landes unterrichten«.

Auch in Thüringen haben Kumpanei und Ämterpatronage die konsequente Entsorgung politischer Altlasten verhindert. »Wer an den richtigen Stellen die richtigen Leute kannte, kam ungeschoren davon«, urteilt Roberto Napierski, Landesvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.

Diese Beobachtung kann der Mathematiklehrer Jürgen Töpfer, 51, aus dem thüringischen Ilmenau nur bestätigen. Dem Kollegium an seiner Schule gehören drei ehemalige Direktoren sowie vier ehemalige Parteisekretäre an. Der Personalrat besteht aus drei ehemaligen stellvertretenden Schulleitern. Auch im örtlichen Schulamt hat sich nach Aussage von Töpfer wenig geändert: »Die Amtsleiterin ist neu, sonst sind's meist die alten Gesichter.«

Der Mathematiker hingegen, der in der DDR nicht einmal Parteimitglied war, mußte sich mit Beginn des Schuljahres einen neuen Job suchen. Er ist Opfer eines speziellen Punktesystems, das an den Schulen eingeführt wurde, um den Stellenabbau voranzutreiben. Je mehr Dienstjahre ein Lehrer vorweisen kann, desto besser stehen seine Chancen für eine Weiterbeschäftigung. Wer jung ist und in seinem Fach ältere Konkurrenten hat, muß gehen.

Pech für Töpfer: Der letzte Vorwendedirektor, der als besonders linientreu galt und ebenfalls Mathematik unterrichtet, bekommt ein paar Punkte mehr zusammen. »Ich werde jetzt von Lehrern verdrängt«, empört sich der unbescholtene Pädagoge, »die noch die Stalin-Zeit genossen und immer zu jedem und allem genickt haben.«

Protest aus der Bevölkerung gegen ihre Weiterbeschäftigung müssen die alten Genossen kaum fürchten. Die meisten Eltern halten still, weil sie Angst vor Stundenausfall haben; die Schüler denken vor allem an das nächste Zeugnis und den Schulabschluß. Geschlossen protestierte die zehnte Klasse der Leipziger Thomas-Mann-Schule gegen die drohende Kündigung ihrer Lehrerin Johanna Hustig. Wichtig sei doch allein die »fachliche Kompetenz« und das »Verständnis«, das ein Pädagoge aufbringe, schrieben die Gymnasiasten ans zuständige Oberschulamt: »Uns, als Schüler, ist die Vergangenheit eines Lehrers unwichtig.«

Mitunter verhindert auch die Protektion durch neue politische Freunde eine konsequente Vergangenheitsbewältigung, wie der Fall Dieter Borth zeigt. Der Geschichtslehrer hatte sich Anfang letzten Jahres auf eine Stelle als Schulrat in Halberstadt beworben, obwohl ihm kurz vor der Wende noch attestiert worden war, er habe stets einen »gefestigten Klassenstandpunkt« erkennen lassen und »vorbildliche Arbeit« im Wehrkundeunterricht geliefert, in jenem Fach, in dem die DDR-Kinder zu gediegenem Haß auf den Klassenfeind im Westen gebimst wurden.

Der zuständige Landrat verweigerte in einem Schreiben ans Ministerium seine Zustimmung zur Ernennung. Doch zwei Wochen später nahm er alle Bedenken schriftlich wieder zurück. Vertreter des CDU-Kreisverbandes hätten ihn überzeugt, daß die »demokratische Grundhaltung von Herrn Borth auch für die Vergangenheit nicht ernsthaft in Zweifel« gezogen werden könne. »Dieser Einschätzung von seiten der verantwortlichen Repräsentanten einer der demokratischen Parteien unseres Landes«, teilte der Kommunalpolitiker mit, »kann von hier aus nicht widersprochen werden.«

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