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CDU Alte Ungeduld

Der frühere CDU-Generalsekretär Geißler, von Kohl entmachtet, kehrt in die politische Arena zurück.
aus DER SPIEGEL 6/1991

Helmut Kohl besaß mal wieder den richtigen Riecher. Wenige Tage vor der Wahl der stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion rief er einige der einflußreichen Vorsitzenden der CDU-Landesgruppen an, um eine Botschaft loszuwerden: Wer dem Kandidaten Heiner Geißler die Stimme verweigere, der dürfe sich anschließend nicht darauf berufen, im Auftrage des Kanzlers gehandelt zu haben. Er wolle mit dieser Entscheidung nichts zu tun haben, trage aber jedes Wahlergebnis mit.

Rechtzeitig erkannte der Regierungschef, daß er sich nicht erlauben konnte, das Comeback des einstigen CDU-Hoffnungsträgers zu verhindern, kurz nachdem die Union durch die Demission des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth und die Resignation des hessischen Wahlverlierers Walter Wallmann geschwächt worden war.

Kohls Gespür für die Stimmung in der Christen-Fraktion trog nicht. Als am vorigen Dienstag ausgezählt wurde, hatte Heiner Geißler mit 155 Stimmen einen 65-Stimmen-Vorsprung vor seinem Konkurrenten Bernhard Jagoda, zuvor Staatssekretär im Arbeitsministerium des Norbert Blüm. Geholfen hat, daß Jagoda aus Hessen kommt, jenem CDU-Landesverband, der zwar gerade von der Regierung abgewählt wurde, aber im Bonner Postenroulett gewann: drei Minister (Riesenhuber, Schwarz-Schilling, Rönsch) stellen die Hessen und den Fraktionsvorsitzenden, Alfred Dregger.

Seit seinem Rauswurf aus dem Konrad-Adenauer-Haus hatte Geißler, der sich als Generalsekretär gern »geschäftsführender Vorsitzender« nannte und damit seinen Parteichef provozierte, auffallende Abstinenz geübt. Der 60jährige Bergsteiger und fanatische Jogger vergrub sich monatelang im heimischen Gleisweiler (Pfalz) und schrieb sich in einem Buch den Frust aus der Seele: »Zugluft - Politik in stürmischer Zeit«. Angebote aus Brandenburg und Sachsen, für das Ministerpräsidentenamt zu kandidieren, lehnte er ab. Fragen nach seiner politischen Zukunft beantwortete er schroff ("Das geht niemand was an") oder gar nicht.

Nach der Bundestagswahl eröffnete Geißler dem Vorsitzenden der CDU/ CSU-Arbeitnehmergruppe im Bundestag, Heribert Scharrenbroich, er interessiere sich für den Posten, der in der Fraktionsspitze durch das Ausscheiden des langjährigen Arbeitnehmergruppenchefs Otto Zink frei werde.

Scharrenbroich schluckte - auf diesen Sessel war er selbst aus. Aber er verzichtete zugunsten Geißlers. Für den früheren Kohl-Widersacher bedeutet die neue Aufgabe Chance und Risiko zugleich.

Die Chance: Alfred Dreggers Amtszeit als Fraktionsvorsitzender läuft in einem Jahr aus, »unwiderruflich«, wie es im Kanzleramt heißt. Die erste Option auf die Nachfolge hat Innenminister Wolfgang Schäuble. Doch die Zweifel wachsen, ob Schäuble, an den Rollstuhl gefesselt, dieses strapaziöse Amt übernehmen kann. Der lange Zeit favorisierte Kanzleramtschef Rudolf Seiters hat nun soviel Gefallen an seinem administrativen Job gefunden, daß er - so sehen es Insider der Kohl-Behörde - für die Fraktionsspitze kaum noch in Frage komme.

Unter den übrigen sieben Dregger-Stellvertretern findet sich keiner von der politischen Statur Geißlers. Bei einem Verzicht Schäubles könnte er daher in einem Jahr Anwärter auf die Dregger-Nachfolge sein, falls er bis dahin in der Fraktion das Vertrauen zurückgewinnt, das er wegen seines Putschversuchs an der Seite Lothar Späths 1989 verspielt hat.

Geißlers Risiko: Der gesamtdeutsche Kanzler ist bis auf weiteres stark genug, Kritiker jeder Couleur kleinzukriegen, wenn die zur Unzeit neue Konflikte anzetteln.

Rechtzeitig hat Kohl auf seine Weise - dank diskreter Telefonate mit einflußreichen Basispolitikern - verhindert, daß Geißlers Gefolgsmann, der Vorsitzende der CDU-Sozialausschüsse und stellvertretende DGB-Chef Ulf Fink, ein Bundestagsmandat bekam. Der Kanzler, der dem früheren CDU-Bundesgeschäftsführer kritische Worte über seinen Führungsstil nie verziehen hat, sähe es mit Wohlgefallen, wenn Fink im April auch als Vorsitzender der CDU-Sozialausschüsse abgewählt würde. Ein Kanzler-Berater: »Kohl hat nicht vergessen, daß es da mal eine Truppe gab, die ihn umbringen wollte.«

Daß sich der Kanzler jetzt mit dem Vize Geißler abgefunden, ihn sogar in seiner Regierungserklärung am Mittwoch erwähnt hat, deuten seine Vertrauten nicht als Rehabilitationsmaßnahme, sondern als Beweis für den Mangel an Führungspersonal in der CDU. Hinter, vor und unter Kohl ist nicht mehr viel: Ernst Albrecht, Späth, Wallmann sind unfreiwillig abgetreten, Schäuble ist nur begrenzt einsatzfähig.

Für die Dregger-Nachfolge hält sich allerdings auch CDU-Generalsekretär Volker Rühe bereit. Für ihn spricht der Erfolg, den die Union bei der Bundestagswahl und zuvor in der DDR errungen hat. Er hält sich zugute, daß Kohl mit ihm als Generalsekretär von jeglichem Ärger mit der Zentrale befreit war und die Partei nach Wunsch regieren konnte.

Geißler selbst bestreitet erst mal weitere Ambitionen: »Ich verbinde meine neue Aufgabe nicht mit dem Anspruch auf den Fraktionsvorsitz.«

Doch die alte Ungeduld hat ihn wieder gepackt: Ohne ein politisches Gesamtkonzept komme die Fraktion nicht aus. Und dazu will er einiges beitragen - auch Ideen wie die »multikulturelle Gesellschaft«, mit der er sich viel Widerspruch in der Union eingehandelt hat. Geißler: »Ich schwöre doch nicht ab, wir sind nicht auf dem Reichstag zu Worms.« o

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