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Alte Wildsau

aus DER SPIEGEL 29/1949

Vor Wiens einzigem Zirkus fahren seit drei Wochen Abend für Abend die elegantesten Wagen der Donaustadt vor. In dem gleich neben der russischen Kommandantur im IV. Bezirk aufgebauten Vier-Mast-Zelt des Zirkus Rebernigg hat Wien, dessen Theater erbitterte Kämpfe um einen Kulturgroschen führen, weil sie seit Wochen gähnend leer sind, eine neue Attraktion für sein kunstsinniges Publikum: Damenringkämpfe im »catch-as-catch-can«-Stil (jeder Griff erlaubt).

Die Damen ringen vor allem gegen die Ebbe in ihrer Kasse. Das haben sie mit ihren deutschen Ringschwestern von der Henrichs-Operettentruppe gemeinsam (vgl. SPIEGEL Nr. 15/49), für die sie vor Jahresfrist das animierende Beispiel abgaben. Damals holte sich Theaterdirektor Trau vierzehn engagementslose Amazonen zwischen 17 und 40. Monatelang probierte er mit den ringlustigen Wiener Madln im Dianabad (Abteilung für Körperpflege).

Dazu engagierte sich Trau noch den Kulturredakteur und Theaterkritiker der Wiener kommunistischen »Volksstimme«, Gura, als Propagandachef und Manager. Heute meint Gura mit breitem Lächeln: »Nix mehr Kultura«. Denn die 28 Mädchenschenkel und ebensoviel im Kampfgetümmel wogende Busen »erringen« ihm ein monatliches Deputat von 10000 bis 20000 Schilling.

Am Anfang trauten Trau und die gewichtigen Mädchen - alle zwischen 68 und 80 Kilo - den Wienern noch nicht recht und gingen erst einmal nach Italien. Um so überraschter sind sie jetzt über den Bombenerfolg in Wien.

»Ein Publikum, das so mitgeht, ham mer in ganz Italien net gefunden«, erklärte Daisy Aufkam, noch vor einem Jahr Tänzerin und Animiermädchen in der Wiener Königin-Bar und somit sachverständig für Publikums-Reaktionen. »In Norditalien san uns die Schwuf (gemeint sind die Verehrer) manchmal drei Tage mit dem Auto nachgefahren. Aber auf Sizilien war es scho ziemlich mau«. Wo Räuber Giuliano sein Unwesen treibt, verlieren auch aus dem Badeanzug springende Busen ihre Reize.

Dafür hatte der Papst um so mehr Verständnis für die etwas formlosen weiblichen Gymnastikübungen. Er erlaubte den ringenden Damen sich für zwei Wochen in der Vatikanstadt zu produzieren und verlängerte die Genehmigung dann sogar noch um 14 Tage.

Die katholischen Jungfrauen-Kongregationen, die jetzt in Wien Protestaktionen loslassen, die gedungenen Halbwüchsigen, die Stinkbomben schmeißen, und die ÖVP-Nationalrätinnen*),

*) ÖVP = Österreichische Volkspartei (christlich-sozial). die sich die Freistilringerei voll Entrüstung zwei Stunden lang anschauten, sind päpstlicher als der Papst.

Dabei sieht die Sache gefährlicher aus, als sie wirklich ist. Wenn die angebliche Bosniakin Ada Murski, ehrbare Mutter zweier Kinder, die 140-Pfünderin Dina Lehner aus einem Doppelnelson unsanft auf die Matte haut, so ist das nur das Ergebnis der beim vormittäglichen Training genau einstudierten Griffe.

Die mitfühlenden Zwischenrufe »Putzile, tu ihr nicht weh« sind unnötig. Für die 110 Schilling pro Abend, die sie nach Abzug der Steuern erhalten, sind die Damen schon selbst darauf bedacht, sich nicht gegenseitig »hinzumachen«, wie die Weaner sagen.

Auch die 38jährige Seniorin Erszi Fekete aus Budapest, Mutter einer fast schon erwachsenen Tochter, tut das nur zum Schein. Die einstige Drahtseilakrobatin mimt jeden Abend die »wilde Frau«, mit Fehlgriffen, Stoßen und Schlagen. Dann johlt und pfeift die Menge, und selbst die Damen der guten Gesellschaft vergessen bei einem geschickten Schulterschwung mit kräftig angedeutetem Nackenschlag völlig ihre gute Erziehung. »Alte Wildsau« ist noch eins der milderen Kosewörter, die Erszi Fekete für ihre gutgespielte Wildheit einstecken muß.

Die ringenden Damen wollen alle einmal wieder in ihre eigentlichen Berufe zurück. Die 23jährige Dina Lehner aus Salzburg beispielsweise ist eine aus dem großen Heer der engagementslosen Schauspielerinnen. Mal spielte sie kleine Rollen am Wiener Volkstheater, dann gastierte sie als »Heilige Johanna« in Graz, bis sie schließlich im vorigen Jahr als Eislutscher-Verkäuferin auf der Wiener Messe und nun auf der Ringermatte landete. »Jetzt ist mir schon alles wurscht«, sagte sie. »Sollen sie sich ruhig das Maul über mich zerreißen«.

Den Bruch mit der Bürgerlichkeit haben sie alle vollzogen. Immerhin gehören die Damen aber zu der ehrbaren Gewerkschaft »Artisten« und nicht zu den mit der anrüchigen blauen Karte ausgerüsteten Geschlechtsgenossinnen der Sparte »Ambulantes Gewerbe«.

Demnächst wollen die 14 Amazonen nach Bern weiterziehen. Der Züricher Frauenverein hat bereits sein Veto eingelegt. Direktor Trau und Propagandachef Gura schätzen, daß die schweizerische Bundesbahn deshalb vielleicht Sonderzüge nach Bern einlegen muß.

Die Wiener brauchen inzwischen nicht auf Ring-Sensationen zu verzichten. Nach dem Zwischenspiel der Damenfreistilistinnen wird ihnen schon wieder eine neue Attraktion auf der Matte geboten: ein unheimlich-unbekannter Maskenmann, der den Berufs-Freistilringern in den Tribünen am Heumarkt das Leben schwer macht.

Vor zwei Wochen tauchte der Kapuzenjüngling erstmalig auf. In wohlgesetzten Worten richtete er an die Zweihundert- und Mehrpfündigen die Frage, ob sie mit ihm, der sich wegen seiner hohen sozialen Stellung ein öffentliches Auftreten nicht erlauben könne, in den Ring steigen wollten. Sein hinter den Buchstaben I. K. und einer eng über den Kopf gezogenen, hermetisch am Hals abschließenden schwarzen Maske verborgenes Inkognito müsse jedoch absolut gewahrt bleiben.

Die schweren Jungen, die sich allabendlich für 400 Schilling auf der Matte herumwälzen, wollten. Ihr nun schon im dritten Jahr am Heumarkt betriebenes Geschäft florierte ohnehin nicht mehr so gut wie einst.

Aber sie wollten erst sehen, ob der Unbekannte sich auch nach den Riten des »catch-as-catch-can« zu benehmen wisse. So erschien I. K. im kleinen Kreis der Ringbullen zur Generalprobe, mit Maske. Der Franzose Maurice Moreau erklärte sich bereit, es mit dem Maskenmann zu versuchen.

Er versuchte nur 1¼ Minuten. Dann lag er mit seinen 180 Pfund wie ein Mehlsack am Boden. Der drahtige Kapuzenkerl hatte ihn wie ein Panther angesprungen und seine kräftigen Hände in die Halsschlagader Moreaus gebohrt, bis der biedere Muskelprotz mit blutleerem Gehirn alle Viere von sich streckte.

Das reizte die anderen erst recht. Vor den menschenbehangenen Tribünen am Heumarkt nahmen sie es nun in voller Oeffentlichkeit mit dem wendigen Fliegengewicht auf. Seitdem leitet der Gladiatorenmarsch, die Standardhymne aller Ringer, Abend für Abend ihr Desaster ein.

Mit einem einzigen Judo-Griff, der beim Freistilringen durchaus erlaubt ist, schickt der schlanke Unbekannte die Fleischkolosse und Muskelpakete zu Boden, Europa- und Weltmeister nicht ausgenommen. Felix Kerschitz, ein 210-Pfünder aus Wien-Ottakring, spuckte zwar verächtlich: »Mit mir kann der kan so Schmäh (wienerisch=Schwindel) machen«. Aber in der zweiten Runde saß ihm der maskierte Würger wie der Leibhaftige angeschmiedet auf dem feisten Rücken und spannte seine Hände wie eine eiserne Klammer um des Ottakringers Halsschlagader. Das Publikum tobte und raste, die Luft gellte von »Pfui«- und »Bravo«-Rufen, aber Kerschitz ging zu Boden, röchelte wie ein röhrender Hirsch und war besiegt.

Als der Schwarze seinen siegbringenden Würgegriff auch an dem Wiener Ringerliebling Bob Martin erfolgreich ausprobierte, kam es zu einer wüsten Attacke des Publikums auf Maskenmann und Ringrichter. Die beiden entkamen zwar mit Mühe und Not der Volkswut, aber dafür wurden Tribünen, umliegende Fensterscheiben und der Ring so gründlich demoliert, daß es dort aussah wie nach einem Bombenangriff. Zwei Polizisten und mehrere Zuschauer mußten auf Bahren vom Platz getragen werden.

Seitdem wird der Maskenmann Abend für Abend von einer Kompanie Wiener Wachmänner in den Ring eskortiert. I. K. ist in dieser Stadt der »Unbekannten« augenblicklich der Prominenteste. Bis der Manager der Ringerei am Heumarkt, Herr Eder, die Katze aus dem Sack oder den Mann aus der Kapuze lassen wird.

Dann wird sich erweisen, ob der große Unbekannte, der sich bisher noch keine Abendgage abgeholt hat, wirklich der Judo- und Jiu-Jitsu-Lehrer der Wiener Polizei ist, wie manche behaupten. Oder gar der hohe Ministerialdirektor aus einem der österreichischen Ministerien, den andere hinter dem I. K. und hinter der Maske vermuten.

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