Alternativer Nobelpreis Warum diese Frau sich festnehmen lässt

Die Umweltschützerin Freda Huson, 57, kämpft gegen Pipeline-Projekte in Kanada
Foto: Michael Toledano
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Seit rund zehn Jahren lebt Freda Huson in einer kleinen Blockhütte in Talbeetskwa im kanadischen Bundesstaat Britisch-Kolumbien. Dort betet sie morgens für den Schutz der Wälder und Flüsse .
Doch es ist kein stiller Rückzug in die Natur: Huson ist eine Anführerin (Dzeke ze') aus dem Volk der Wet'suwet'en. Sie ist zurück in das Gebiet ihrer Vorfahren gezogen, um das indigene Land für die nächsten Generationen zu erhalten – und kämpft hier gegen Pipeline-Projekte.

Der Widerstand der Wet'suwet'en gegen den Bau einer Pipeline hat in ganz Kanada Unterstützer mobilisiert
Foto: ANDREJ IVANOV / REUTERSJetzt wird Huson für ihr Engagement mit dem Right Livelihood Award ausgezeichnet, was übersetzt so viel bedeutet wie »Preis für die richtige Lebensweise«. Hierzulande ist die Auszeichnung, die an diesem Mittwoch zum 42. Mal verliehen wird, auch als Alternativer Nobelpreis bekannt: Er ist eine Art kleiner, rebellischer Bruder des renommierteren Nobelpreises – und steht zu diesem in kritischer Distanz .
Beim Alternativen Nobelpreis geht es weniger um Ruhm und Ehre als vielmehr um die Verbesserung der Welt. Er würdigt die Leistungen von Menschen, die sich für Umweltschutz, Menschenrechte und Frieden einsetzen – und belohnt auch kleinere oder ungewöhnliche Ansätze und Ideen. In den vergangenen Jahren wurden etwa die Klimaaktivistin Greta Thunberg, der US-Whistleblower Edward Snowden und die iranische Anwältin Nasrin Sotoudeh ausgezeichnet.

Freda Huson ist eine der wichtigsten Stimmen der indigenen Bewegung in Kanada
Foto: Right LivelihoodDie indigene Landverteidigerin
Das von Freda Huson geleitete indigene Zentrum Uni’stot’en hat sich seit 2018 in eine Widerstandszentrale verwandelt: Die Gemeinschaft der Wet'suwet'en setzt sich gegen ein Großprojekt der Firma Coastal GasLink zur Wehr, die eine Pipeline durch das indigene Territorium in Britisch-Kolumbien bauen will.
Um die Bauarbeiten zu verhindern, errichteten die Landverteidiger eine Straßensperre; 2020 führten kanadische Sicherheitskräfte dort eine Räumung durch – Huson und rund zwei Dutzend andere Menschen wurden festgenommen und erst nach Stunden wieder freigelassen. Interne Dokumente enthüllten später, dass die Beamten zuvor von ihren Vorgesetzten angewiesen worden waren »so viel Gewalt anzuwenden, wie sie wollen«, um die Barrikade zu entfernen – und notfalls sogar auf Menschen zu schießen. Das brutale Vorgehen löste landesweite Proteste aus.

Februar 2020: Staatliche Sicherheitskräfte gehen brutal gegen die Blockaden der Wet'suwet'en vor
Foto: CHRIS HELGREN / REUTERSFür Huson ist die Polizeigewalt Ausdruck einer Kolonialherrschaft, die indigene Menschen bis heute unterdrückt. Auch die grausigen Funde von Überresten Hunderter indigener Kinder auf dem Gelände eines früheren Internats offenbaren die institutionelle Gewalt im Land – Experten zufolge starben insgesamt mehrere Tausend Kinder in kanadischen Heimen. Die Kinder wurden ihren Eltern vom Staat entrissen und sollten umerzogen werden – oft waren sie dabei sexuellen Übergriffen und tödlichen Misshandlungen ausgesetzt. Kanada beginnt gerade erst, die Vorfälle aufzuarbeiten.
Tausende indigene Mädchen und Frauen sind zudem spurlos verschwunden oder wurden ermordet – dem Bericht »Reclaiming Power and Place « zufolge seien auch staatliche »Untätigkeiten, die im Kolonialismus und in kolonialen Ideologien verwurzelt sind« die treibenden Kräfte hinter der strukturellen Gewalt.
Huson will in ihrem Gemeinschaftszentrum Menschen von ihren kolonialen Traumata heilen – auch indem sie zur Natur zurückfinden. »Die Arbeit, für die ich ausgezeichnet wurde, besteht darin, den Menschen beizubringen, was uns von klein auf beigebracht wird: sich um das Land zu kümmern, das uns ernährt«, sagt sie. »Denn wenn wir das Land zerstören, zerstören wir uns selbst.« Husons Aktionen haben das Pipeline-Projekt bereits um Jahre zurückgeworfen – und der Kampf um das Land und ihr indigenes Erbe geht weiter.

Vladimir Slivyak: Der Aktivist fordert den Atomausstieg Russlands
Foto: Alexey Milovanov / Right LivelihoodDer russische Umweltaktivist
Als Vorsitzender und Mitbegründer von Ecodefense, einer der führenden russischen Umweltorganisationen, setzt sich Vladimir Slivyak für eine Energiewende in Russland ein – und kämpft gegen Kohle- und Atomkraftwerke.
In manchen Regionen sind die Umweltschäden durch Kohleabbau auf den ersten Blick sichtbar: Im Kohlebecken Kusbass in Sibirien färbt sich im Winter sogar der Schnee schwarz – Wladimir Slivyak machte mit einer Studie auf die Luftverschmutzung und gesundheitliche Probleme aufmerksam. Ecodefense startete zudem als erste Umweltgruppe in Russland 2013 eine Anti-Kohle-Kampagne. Die Aktivisten mobilisierten und vernetzten lokale Gemeinden, die unter den Auswirkungen des Abbaus leiden – Proteste gegen die Kohleförderung breiteten sich daraufhin in vielen Regionen aus.
Slivyak fordert auch den Atomausstieg Russlands. »Es gibt viele Fälle radioaktiver Unfälle, von denen nicht in den Medien berichtet wird«, warnt er. Die russische Regierung wolle trotzdem weiterhin neue Atomkraftwerke bauen – nicht nur in Russland, sondern auch in afrikanischen Ländern. Er kritisiert zudem, dass Länder wie Deutschland Atommüll nach Russland transportierten und das Land sich in eine Deponie für radioaktive Abfälle aus dem Ausland verwandele.
Russlands Regierung hat den Umweltaktivisten im Visier: In den vergangenen Jahren wurden Slivyak und Ecodefense von den russischen Behörden immer wieder wegen ihrer Arbeit attackiert. Russische Behörden, aber auch Konzerne gehen einem Bericht von Amnesty International zufolge selbst gegen friedliche Umweltaktivisten brutal vor. Im August 2020 griffen 30 private Sicherheitsleute und etwa hundert maskierte Männer ein kleines Umweltschützer-Camp an, in dem Menschen gegen ein Bergbauvorhaben protestiert hatten.
Trotz der Gefahren setzt sich Slivyak weiter für die Umwelt ein – auch angespornt durch den wachsenden Einfluss einer jungen Generation von Klimaaktivistinnen und -Aktivisten. Auch in Russland ist eine Fridays-for-Future -Bewegung entstanden, wenn auch eine vergleichsweise kleine.

Die Gründer von LIFE (im Bild: Rahul Choudhary, M.) eröffnen von Großprojekten betroffenen Gemeinschaften den Zugang zu rechtlichen Mitteln
Foto: Ankit Kumar / Right LivelihoodDie Anwälte der Communitys
LIFE verteidigt die Umwelt vor Gericht: Die beiden indischen Rechtsanwälte Ritwick Dutta und Rahul Choudhary gründeten 2005 die Legal Initiative for Forest and Environment (Juristische Initiative für Wald und Umwelt), um benachteiligte Gemeinden dabei zu unterstützen, sich rechtlich gegen Großprojekte und Umweltverbrechen in ihren Regionen zu wehren.
Bekannt wurde die Arbeit von LIFE in Indien auch durch das Verfahren gegen das britische Bergbauunternehmen Vedanta, das ein Minenprojekt im Bundesstaat Odisha geplant hatte. Der Oberste Gerichtshof Indiens erkannte an, dass für den Beginn eines solchen Projekts die Zustimmung der örtlichen Gemeinde erforderlich ist – ein Präzedenzfall, der auch Auswirkungen auf andere Regionen hatte.
Ausgezeichnet werden die Rechtsexperten »für ihre innovative juristische Arbeit«, die benachteiligte Bevölkerungsgruppen dazu befähige, Entscheidungen über Projekte in ihrem Umfeld mitzubeeinflussen. Das LIFE-Team treibt zudem Umwelt-Gesetzesreformen voran – und kontrolliert gemeinsam mit Anwohnern, dass sie auch umgesetzt werden. »Der Preis wird uns helfen, die Wirkung unserer Arbeit zu erhöhen und mehr Menschen zu befähigen, die Natur und ihre Lebensgrundlagen zu schützen«, hofft Dutta.

Marthe Wandou: Die Frauenrechtlerin will Gewalt gegen Mädchen und Frauen eindämmen
Foto: Right LivelihoodDie Frauenrechtlerin aus Kamerun
Nach und nach verschwand ein Mädchen nach dem anderen aus der Schule – Marthe Wandou hatte jedes Mal Angst, sie könnte die Nächste sein. In ihrer Kindheit in Kaélé, einem Dorf in Kamerun, erlebte sie, wie Klassenkameradinnen von ihren Eltern aus der Schule genommen und zwangsverheiratet wurden, wie ihre Möglichkeiten zerstoben, ihr Leben selbst zu bestimmen.
Wandou schaffte es mit Unterstützung ihrer Eltern jedoch, als eines der ersten Mädchen aus ihrem Dorf eine Universität zu besuchen – heute will sie auch für andere Mädchen und Frauen solche Wege ebnen. Mit ihrer Organisation ALDEPA setzt sie sich für die Rechte von Mädchen und Frauen ein und kämpft gegen Diskriminierung und genderspezifische Gewalt in Kamerun.
ALDEPA setzt sich dafür ein, dass Mädchen zur Schule gehen können und unterstützt sie bei ihrer schulischen und beruflichen Ausbildung. Wandous Team betreut aber auch Frauen, die sexuelle Gewalt durch Boko-Haram-Terroristen oder gewalttätige Ehemänner erlebt haben.
Die Initiative hat ein Modell entwickelt, das die gesamte Gemeinschaft in den Schutz von Kindern einbezieht: Sie versucht, Polizisten, Richter, Lehrer und Eltern für Probleme wie sexuelle Übergriffe oder die rechtliche Benachteiligung von Mädchen und Frauen zu sensibilisieren und klärt über bestehende Gesetze auf. Das Team hat mehrere Hundert Mädchen vor Kinderhochzeiten und Zwangsehen bewahrt.
»Armut hat ein weibliches Gesicht«, warnt Wandou . Ohne Schulabschluss und Berufsausbildung seien Frauen von ihren Partnern abhängig und in einer Spirale der Armut gefangen. Mit ihrer Organisation will sie dazu beitragen, dass sie sich aus diesem Kreislauf befreien können.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.