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DDR-HÄFTLINGE Am Ende Staatsfeind

Verhörmethoden in ostdeutschen Strafanstalten lassen politische Häftlinge häufig radikalisieren -- nach rechts, Wer sich dem Umgangston widersetzt, riskiert nach der Entlassung im Westen Denunziation.
aus DER SPIEGEL 34/1978

Die Vokabel »Staat« gerät dem Kernphysiker Gabriel Berger, 34, nach eigenem Bekenntnis »allmählich zu etwas sehr Beunruhigendem«. Und diese Staatsbeklommenheit hat gesamtdeutsche Ursache.

Im April 1976 verhafteten ihn zwei Häscher des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit an seinem damaligen Arbeitsplatz, dem ostdeutschen Kernforschungszentrum Rossendorf. Stasi-Verhörer titulierten ihn fortan als »Staatsfeind«. Und wegen »Staatsverleumdung« saß er schließlich ein Jahr lang erst in Dresden, später in der Haftanstalt Cottbus -- bis zu seiner Entlassung nach Westdeutschland.

Kaum war Berger an der Technischen Universität Berlin wieder in seinem Beruf untergekommen, lud ihn der Polizeipräsident der neuen Heimat, korrekt dessen Abteilung »Polizeilicher Staatsschutz«, zur Anhörung: Gegen Berger laufe ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts »geheimdienstl. Tätigkeit gem. Paragraph 99 StGB«.

Der Vorwurf, abermals Staatsfeind zu sein, so wurde Berger vom Staatsschützer (West) eröffnet, gründe auf Aussagen eines ehemaligen Cottbusser Mitgefangenen. Der habe, kaum aus dem Knast heraus und im Westen angekommen, Anzeige erstattet, weil -- so der Physiker später in einem Gedächtnisprotokoll über die ihm verlesenen Beschuldigungen -- »Herr Berger in der Haft häufig Marx, Lenin und andere staatskonforme Literatur las«.

In Zellen-Gesprächen soll er »voll die Position der SED agitiert« und dadurch »heftige Auseinandersetzungen mit anderen Mitgefangenen« provoziert haben. Verdächtige Lektüre und auffälliges Verhalten, so vertraute der unbekannte Kumpel von Zelle 210 abschließend der West-Berliner Behörde an, ließen den Schluß zu, daß Berger »von der Staatssicherheit beeinflußt oder gekauft« war.

Berger, der sich als »unorthodoxer Linker« versteht, war perplex: Schließlich habe er doch nachweislich bei der DDR-Obrigkeit gegen die »Reglementierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens« protestiert, habe im Kernforschungszentrum die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ans Schwarze Brett der Kantine gepinnt und sei gerade deshalb verhaftet und verurteilt worden. Die Betroffenheit der Gabriele Berger gilt indes beinahe Alltäglichem. Solche zumeist denunziatorischen Mitteilungen ehemaliger DDR-Häftlinge über Mitgefangene, bestätigt der leitende Kriminaldirektor Manfred Kittlaus vom West-Berliner Staatsschutz, seien »überhaupt nichts Seltenes«. Und fast jeder wird getreulich nachgegangen. Rechtsanwältin Barbara Gräfin von der Schulenburg aus dem Büro des West-Berliner Austausch-Anwalts Jürgen Stange weiß: »So was kommt immer häufiger vor« -- nach Schätzungen eines Bonner Experten immerhin weit über hundertmal im Jahr.

Bei in der DDR einsitzenden »Ausweisem« (Knast-Jargon für ertappte Flüchtlinge) gilt mitunter schon der »Einweiser«, also jemand, der später wieder in die DDR entlassen werden will, als spitzelverdächtig -- und allemal natürlich der, der am Sozialismus noch einen guten Faden findet.

Durchweg, so erinnert Berger, habe er in Cottbus unter denjenigen, die in den Westen wollten, eine »rechtsradikale Atmosphäre« angetroffen. In seinem »Zellenkollektiv« sei es beispielsweise Pflicht gewesen, die erste Strophe des Deutschland-Liedes zum Gitter hinauszusingen.

Diese Probe auf rechte Gesinnung mochte Berger um keinen Preis ablegen bei seiner Biographie verständlich. Sein Vater hat den Zweiten Weltkrieg und die Nazis bei der französischen Résistance überlebt, fünf seiner Onkel kämpften in Spanien bei den Inter-Brigadisten. 1948 kehrte die Familie nach mehr als 35jähriger Emigration in England, Deutschland, Frankreich und Belgien wieder nach Polen zurück, wo der Vater sich beim Wiederaufbau von Staat und Partei engagierte.

Doch die Juden Berger mußten bald wieder weg. 1956, bei den ersten antisemitischen Ausschreitungen in Polen, schrieb der Vater an SED-Chef Walter Ulbricht, mit Familie in die DDR übersiedeln zu dürfen; und er durfte. Sohn Gabriel erhielt einen der raren Studienplätze für Physik, konnte später in die Forschung nach Rossendorf, genoß Privilegien als »Opfer des Faschismus« -- bis ihm dämmerte, daß ihm die Deutsche Demokratische Republik trotz allem fremd bleiben würde.

So stellte er schließlich einen Ausreiseantrag -- als »Pole jüdischer Herkunft« und schon deshalb nicht gewillt, sich »mit dem Leben unter den besonderen Bedingungen der Spaltung Deutschlands abzufinden«.

Für seine Mithäftlinge in Cottbus. von denen sich zwei gleich nach Entlassung in den Westen der NPD anschließen wollten, war Berger schlicht die »rote Sau«. Als er ihnen seine Situation anhand einer Notiz im »Neuen Deutschland' erklären wollte, wonach der französische Rechtsanwalt Serge Klarsfeld in München von Neonazis verprügelt worden war, lautete der Zellen-Konsens: »Geschieht ihm recht. dem Kommunistenschwein.«

Rotschock« nennt der Psychologe Peter Wiedemann' 29, die Ursachen für dieses auffallend rechtsgewirkte Selbstverständnis von DDR-Häftlingen mit Ausreise-Antrag. Wiedemann. der nach einem mißglückten Fluchtversuch selbst zwei Jahre in Cottbus absaß, hat seine Beobachtungen und Analysen auf eng beschriebenem Zigarettenpapier nach draußen geschmuggelt. Heute arbeitet er in einer Klinik für psychosomatische Erkrankungen im Sauerland und will seine »Rotschock«-These demnächst wissenschaftlich untermauert publizieren.

Vor allem die Stasi-Vernehmer in der Untersuchungshaft bewirken, so Wiedemann, diesen »Rotschock« -- dadurch daß sie während der Verhöre die Biographie des Delinquenten »mit solch einer scheinbaren Folgerichtigkeit und Zwangsläufigkeit uminterpretieren, daß am Ende nur der Staatsfeind herauskommen konnte«.

An diesem nachträglichen Umbau seiner Persönlichkeit sei der Häftling gezwungen mitzuarbeiten. Denn der Wunsch, später »auf Transport« zu kommen, also in den Westen entlassen zu werden, zwinge ihn, sich bei den Vernehmungen permanent als »umerziehungsunfähig« zu beweisen.

Bei einem Teil der Häftlinge mag sich das sogar ganz von selbst ergeben. Denn seit jeher waren unter den »Ausweisem« viele, die aus eher unpolitischen Motiven oder aufgrund schlicht krimineller Delikte mit dem Ost-System überkreuz geraten waren: Unangepaßte und Randalierer.

In seinen Erinnerungen an die Strafanstalt Bautzen berichtet der wegen Spionage verurteilte Physiologie-Professor Adolf-Henning Frucht (SPIEGEL 27/1978) von Schlägern und Zuhältern, die gewerbsmäßig Fluchthilfe betrieben hatten oder bis zu »achtmal zwischen Ost und West hin- und hergewandert« waren.,, Der Anteil derer«, heißt es bei der Zentralen Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter, ·.die aus rein politischen Motiven abgeurteilt worden waren, hielt sich in der ganzen Zeit in Grenzen.«

Bei den anderen aber, bei Häftlingen, die Privilegien verloren haben, vor allem bei Akademikern und ehemaligen Wirtschaftsfunktionären, spielt häufig der Effekt einer »tiefen Kränkung und Demütigung« (Wiedemann) eine Rolle, der von den meisten nur aggressiv verarbeitet werden kann.

Diese »durch Dauerfrustration fehlgeleitete Erlebnisverarbeitung« führt. so Wiedemann, in der Regel zum »Auf bau einer faschistoiden Gegenideologie auf dem Niveau: »Mach kaputt, was dich kaputtmacht«. Und diese Gegenwehr führt oft auch bei jenen zu undifferenzierten Urteilen und zur totalen Verdrängung, die in der DDR-Gesellschaft zu akademischer Ausbildung und mitunter zu Spitzenpositionen gelangt sind.

Beispiele für diese Haßthese hat Wiedemann massenhaft anzubieten: So träumte einer seiner diplomierten Mit Häftlinge davon, sieh nach der Entlassung in Rhodesien anwerben zu lassen, »um dort Kommunisten zu killen«. Ein anderer wünschte sieh zum »Kommunistenvermöbeln« auf das DKP-Pressefest, von dem er im »Neuen Deutschland« gelesen hatte.

Diskussionen über Chile, so erlebte Wiedemann, wurden von der rotgeschockten Mehrheit prinzipiell auf die Formel gebracht: »Wer mit der Kommune mauschelt, muß an die Wand.« Und der lange Zeit in einem chilenischen KZ inhaftierte KP-Generalsekretär Luis Corvalán erheiterte die DDR-Gefangenen allenfalls als »Ludwig Karneval« -- dem geschah es schließlich ganz recht.

Die totale Negativ-Stilisierung der DDR findet ihren Ausdruck auch im »Cottbus-Lied«, in dem eine Zeile heißt: »Das ist das Zuchthaus Cottbus -Symbol des Sozialismus in Aktion.« Daneben tritt, gleichzeitig, die »Überstilisierung dessen, was sein wird: der Bundesrepublik« (Wiedemann).

So hörte der Psychologe von Zahnärzten, wie sie auf langen Listen die notwendigste Garderobe für 15 000 Mark zusammenstellten ("Einen Stresemann muß man schon haben drüben") und die einem mitinhaftierten Kraftfahrer gnädig anboten, er könne bei ihnen ja als Gärtner anfangen. Ein anderer entschied allerdings, sich lieber »gleich einen Kanaker fürs Schmutzige zu halten«.

Auch zukünftige politische Verhaltensweisen werden schon festgelegt. Die CSU, so Wiedemann, »gilt weiterhin als einzige Partei, die den Roten die Stirn bietet, und Franz Josef Strauß als derjenige, der leider noch am richtigen Durchgreifen gehindert wird«.

Wer sich diesem Gruppenzwang nicht anpaßt, riskiert laut Wiedemann »Kommunikationsblockade -- etwas sehr Hafterschwerendes« oder, wie im Fall Berger, die Drohung: »Wir zeigen dich drüben an; dann gehst du im Westen gleich wieder in den Kahn.«

»Rotschock', so fürchtet Wiedemann, »sitzt auf lange Zeit fest und bereitet den Boden für alle Art von Rechtspropaganda.« Eine Erkenntnis, die ein Fachmann des innerdeutschen Ministeriums schon lange gemacht hat -- und so formuliert: »Diese Art von Freikäufen sind politisch wirklich selbstlos, denn Koalitionswähler werden davon die wenigsten.«

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