Zur Ausgabe
Artikel 2 / 90

»Am Wachstum überfressen«

aus DER SPIEGEL 29/1971

Sie haben die schnellsten Expreßzüge der Welt. Sie bauen jedes zweite Schiff. das auf den Weltmeeren kreuzt, sie kochen Stahl in moderneren Hochöfen als die meisten ihrer Konkurrenten.

Mit Ehrgeiz, Fleiß und Loyalität katapultierten sich die Japaner in den letzten 15 Jahren auf den Platz der drittgrößten Industrienation der Welt -- größer und wirtschaftlich mächtiger sind nur noch die Amerikaner und die Sowjets. Den Aufschwung zur Wirtschaftsgroßmacht schafften die Japaner schneller als je eine andere Nation.

Mit phänomenalen wirtschaftlichen Wachstumsraten und einer beispiellosen Exportoffensive schockte »der unterschätzte Gigant« (so der französische Japan-Experte Robert Guillain) über ein Jahrzehnt lang Industriebosse, Wirtschaftstheoretiker und Journalisten der westlichen Welt. Seit 1959 steigerten die Japaner ihre Exporte auf das

Links: Canon. rechts: Toshiba

Fünffache (gegenüber einer Verdreifachung der westdeutschen Ausfuhr). Vom achten Rang im Weltexport schoben sie sich auf den vierten Platz hinter die Vereinigten Staaten, die Bundesrepublik und England.

Künftig, so lautete vielfach die von Furcht und Faszination bestimmte Prognose, werde es nur noch zwei Länder in der Spitzengruppe der Industriestaaten geben: die USA und Japan.

Noch an der Schwelle zu den 70er Jahren waren auch Japans Industrielle und Wirtschaftsplaner davon überzeugt, daß ihr Land weiterhin grandiose wirtschaftliche Erfolge aufweisen werde. Die Vorstellung, schon in 15 Jahren sogar die Amerikaner zu überrunden, war ihnen lieb geworden.

Heute indes wird deutlich, daß der japanische Traum. alle Industrienationen binnen kürzester Zeit zu übertreffen, immer weniger Chancen hat, in Erfüllung zu gehen. Der unaufhaltsam erscheinende Aufstieg Japans wird durch das gebremst, worum westliche Kapitalisten das fernöstliche Land immer beneidet haben: die vom Staat geförderte und von der Gesellschaft akzeptierte Vergötzung der privaten Produktion -- ohne Rücksicht auf menschenwürdige Lebensbedingungen.

Im überbevölkerten Japan rächt sich jetzt, daß die Regierung jahrelang öffentliche Investitionen wie Straßen, Wohnungsbau, Krankenhäuser und Maßnahmen gegen Umweltverschmutzung so sehr vernachlässigt hat wie die anderen vergleichbaren Industriestaaten nur zur Zeit des Frühkapitalismus.

Neben dem Schmutz und der Enge, in denen Japans Industrien zu ersticken drohen, verleiden immer höhere Lohnforderungen den Unternehmern das Investieren und bremsen damit zusätzlich das Wachstumstempo. Auch eine zu feudalistischem Gehorsam erzogene Arbeitnehmerschaft, so müssen jetzt Japans Wirtschaftsplaner erkennen, ist auf die Dauer nicht bereit, allein für die Grandeur der Nation zu schaffen. Japans Arbeiter fordern heute Lohnerhöhungen, die sogar europäische Gewerkschaftler nur selten verlangen.

Selbst Japans bislang stets optimistische Unternehmer glauben nun nicht mehr, daß ihre Wirtschaft ständig auf der Überholspur fahren kann.

Masaya Miyoshi, stellvertretender Direktor im mächtigen Dachverband der japanischen Industrie, Keidanren, etwa bekennt: »Unsere Wirtschaft wird nicht automatisch im gleichen Tempo weiterwachsen wie bisher, denn wir sehen uns jetzt einer ganzen Reihe wachstumshemmender Faktoren gegenüber.« Und der staatliche Wirtschaftsplaner Miyazaki gibt freimütig zu: »Ich glaube nicht mehr, daß die langfristigen Prognosen, nach denen wir 1985 die USA überholen, sinnvoll sind. Das sind nur Zahlenspiele.«

Tatsächlich rühren die zumeist sehr optimistischen Voraussagen über Japans zukünftige Enwicklung daher, daß die japanische Wirtschaftskraft erst unterschätzt worden ist, viele Experten dann aber in das Gegenteil verfielen und die außergewöhnlichen Ergebnisse der letzten 15 Jahre einfach in die Zukunft extrapolierten.

Ende der 60er Jahre verließen siebenmal soviel Waren japanische Werkhallen wie 1955 -- die westlichen Industrieländer konnten ihre Produktion während der gleichen Zeit nur verdoppeln. Zuwachsraten des Bruttosozialprodukts von jährlich weit über zehn Prozent waren in Japan die Regel. In der hochindustrialisierten Bundesrepublik wurden im vergangenen Jahrzehnt nur durchschnittliche Wachstumssteigerungen von 5,2 Prozent im Jahr erreicht. Das reichste Land der Welt, die USA, mußten sich sogar nur mit einer jährlichen Wohlstandsmehrung von vier Prozent begnügen.

Die Japaner verdoppelten allein während des letzten Booms, der Ende 1965 einsetzte und 58 Monate dauerte, ihr Bruttosozialprodukt auf 177,7 Milliarden Dollar. in den beiden Jahren 1967 und 1968 betrug das reale Wachstum jeweils 13,8 Prozent, 1969 waren es immerhin auch noch 12,1 Prozent. »Die Vitalität der Zeit von 1967 bis 1969«, urteilt heute Yoshizane Iwasa, Vorstandsvorsitzender der Fuji-Bank, Japans größtem Geldinstitut, »werden wir nicht noch einmal erleben.

Zwar prophezeite Tokios ehemaliger Finanz- und heutiger Außenminister Takeo Fukada -- ebenso wie das Wirtschaftsplanungsamt der Regierung -- noch vor kurzem eine Steigerungsrate für die nächsten fünf Jahre von jeweils mindestens zehn Prozent. Fuji-Chef Iwasa und mit ihm viele Skeptiker halten es indes für wahrscheinlicher, daß die Wirtschaft -- »mit höchstens acht bis zehn Prozent« -- langsamer expandieren wird als bisher. Kaum ein japanischer Wirtschaftsexperte zweifelt zudem daran, daß sich in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts das Wirtschaftswachstum noch weiter abschwächen wird.

Bereits im Fiskaljahr 1970/71 korrigierte die Wirklichkeit erstmals seit Jahren Tokios Planungsfunktionäre: Das Bruttosozialprodukt stieg -- statt wie vorausberechnet um 10,8 Prozent -- nur um 9,9 Prozent. Das ist zwar immer noch mehr als in allen anderen Industriestaaten, aber weniger als notwendig. wenn sich die Visionen der Futurologen wie Herman Kahn von der »ökonomischen Supermacht Japan, die allen anderen das Rückgrat bricht, bewahrheiten sollen.

»Wie nie zuvor sieht sich Japans Wirtschaft heute ernsten Problemen gegenüber«, sinniert Kenichiro Komai, Boß des Elektrokonzerns Hitachi Ltd., über die unverhofft weniger stürmische Entwicklung.

Nur zehn Prozent werden exportiert.

Denn schon seit dem Sommer letzten Jahres trudelt die japanische Industrie in einer Flaute -- der »längsten und schwersten seit Kriegsende«, so Keidanren-Direktor Rikuzo Koto. Die wichtigsten Gründe hierfür: die Rezession in den USA (über 30 Prozent der Japan-Exporte gehen in die Vereinigten Staaten) und ein deutliches Nachlassen der Nachfrage auf dem japanischen Binnenmarkt.

Bislang jedoch waren es gerade die überschäumende Nachfrage der japanischen Unternehmer nach heimischen Investitionsgütern und die Kauflust der Konsumenten, die Nippons Wachtumsraten hochschnellen ließen -- nicht hingegen die spektakulären Exporterfolge. Mit einem Anteil von rund einem Zehntel am Bruttosozialprodukt ist Japans Exportquote weit niedriger als etwa in der Bundesrepublik (23 Prozent) oder in den Niederlanden (45 Prozent).

Von der Flaute am heimischen Markt besonders hart getroffen wurden beispielsweise die Hersteller von Farbfernsehern. Als bekannt wurde, daß Großkonzerne wie Hitachi und Toshiba Farbfernseher in den USA billiger als in Japan losschlugen, antworteten Japans Konsumenten mit einem Käuferstreik. Heute stapeln sich noch immer über eine Million Farbgeräte bei Herstellern und Händlern, Die Kapazitäten der Produzenten sind nur zu 60 bis 70 Prozent ausgelastet. Bei Hitachi schrumpften im letzten Halbjahr (Stichtag 31. März) die Gewinne um 30 Prozent, bei Toshiba sogar um 40 Prozent.

Wie die beiden Elektrofirmen mußten auch die meisten anderen Unternehmen Gewinneinbußen hinnehmen. Nach den Berechnungen der »Nihon Keizai Shimbun« -- Tokios führender Wirtschaftszeitung -- haben sich zum erstenmal seit fünfeinhalb Jahren die Gewinne in der gesamten Industrie um 5,8 Prozent verringert, die in der verarbeitenden Industrie sogar um 10,9 Prozent.

Typisch für die Entwicklung ganzer Industriezweige, deren Manager die Aufnahmefähigkeit des Marktes erst überschätzt haben und nun mit Überkapazitäten kämpfen, ist die petrochemische Industrie,

Als die ersten petrochemischen Unternehmen in Nippon 1958 ihre Produktion aufnahmen, lag die Kapazität der größten Anlage beispielsweise etwa bei 20 000 Tonnen Äthylen im Jahr. Bei jährlichen Wachstumsraten von über 30 Prozent verfügt dieser Industriezweig inzwischen allein über sechs Äthylen-Anlagen mit einer jeweiligen Jahreskapazität von 300 000 Tonnen.

Als sich der Boom abkühlte, ließ auch die Nachfrage nach Produkten wie Vinylchlorid, Polyäthylen und Polypropylen nach. Jetzt haben die Manager der Erdölchemie beschlossen, daß zusätzliche Produktionsanlagen für 2,1 Millionen Tonnen Äthylen (Gesamtkapazität zur Zeit: 3,91 Millionen Tonnen), die bis 1973 geplant waren, erst nach 1976 die Arbeit aufnehmen sollen.

»Die Unternehmer sind sehr vorsichtig geworden.«

»Die petrochemische Industrie Japans«, folgerte »The Japan Economic Journal«, »sieht sich der schwersten Rezession in ihrer Geschichte gegenüber.«

Die sieben größten Kunstfaser- Produzenten Japans meldeten im vergangenen Geschäftshalbjahr einen durchschnittlichen Gewinnrückgang von fast 19 Prozent. Toray Industries, Japans größter und der Welt drittgrößter Kunstfaser-Hersteller, strich gleich um 34,5 Prozent weniger Gewinn ein als in der Vergleichszeit 1970.

Angesichts dieser Rückschläge schließt Seiichiro Hirota, Präsident der Toray Industries Inc., nicht aus, daß die petrochemische Industrie überhaupt »bald die Grenzen ihrer Expansionsfähigkeit erreicht«.

Auch die Manager anderer Industrien sind skeptisch geworden. Sie haben deshalb ihre Planziele revidiert. So wollen etwa Japans Stahlkocher 1975 start 160 Millionen Tonnen, wie ursprünglich vorgesehen, nur 130 Millionen Tonnen produzieren (derzeit: 93,3 Millionen Tonnen). Gegenwärtig haben sie ihren Ausstoß um 15 bis 20 Prozent gekappt. Und über zehn Prozent der Jahresproduktion, so schätzen Experten, liegen auf Halde. »Wenn man wie wir nach dem Weltkrieg vom Nullpunkt anfängt«, meint Sueyuki Wakusugi, Präsident des Mitsui-Konzerns, »ist es leicht, hohe Zuwachsraten von 15 bis 20 Prozent zu erzielen. Wir können nicht erwarten, daß das so weitergeht.« Die Autobauer sehen die Zukunft trotz zunehmender Exporterfolge ebenfalls weniger rosig als noch vor einem Jahr. »Die Unternehmer«, resümiert Keidanren-Direktor Rikuzo Koto, »sind sehr vorsichtig geworden.«

Diese Vorsicht der für ihren Wagemut berühmten japanischen Bosse führte zu einer zuvor kaum gekannten Investitionsmüdigkeit. Die privaten Ausrüstungsinvestitionen waren im Durchschnitt der Jahre 1955 bis 1969 um 19 Prozent gestiegen. Für das laufende Fiskaljahr das am 31. März 1972 endet, hatten die Funktionäre vom Wirtschaftsplanungsamt ursprünglich einen Zuwachs von über 15 Prozent angesetzt, diese Zahl dann auf etwa 8,6 Prozent korrigiert, ihre jüngste Schätzung lautet rund fünf Prozent. Die Beamten im Ministerium für internationalen Handel und Industrie (Miti) sind noch pessimistischer. Sie rechnen damit, daß Japans Unternehmer im laufenden Finanzjahr insgesamt lediglich 48,1 Milliarden Mark für neue Maschinen und Anlagen ausgeben werden -- nur 1,7 Prozent mehr als im Vorjahr. Damals betrug die Steigerungsrate noch 21,4 Prozent.

Einer der führenden japanischen Nationalökonomen, Professor Miyohei Shinoha, schließt aus diesem Abwärtstrend. daß »die jährliche Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts künftig weit niedriger sein wird als bisher«.

Viele Unternehmer in Japan teilen den Pessimismus. Das Wirtschaftsplanungsamt ermittelte, daß 57 Prozent der führenden Industriellen mit einem weiterhin verlangsamten Wachstum rechnen, 37 Prozent sogar einen weiteren Rückgang erwarten. K. F. Yoshimura, Direktor im Arbeitgeberverband Nickeiren, faßt die Meinung seiner Kollegen so zusammen: »Die gegenwärtigen Wirtschaftsbedingungen sind nicht das Ergebnis kurzfristiger Faktoren, sondern liegen in der Natur einer strukturellen Neuordnung, die jetzt begonnen hat und deren Ziel ein neues, gleichgewichtiges Wachstum ist.«

Allzusehr haben bislang die Großunternehmen Japans industrielle Expansion geprägt. Gegenseitig peitschten sie sich in immer neue Produktionsbereiche, ohne sich um Arbeitsteilung und Spezialisierung zu kümmern. Der Elektrokonzern Matsushita beispielsweise fertigt über 10 000 Artikel. Nahezu die gleiche Produktionspalette gibt es bei Sony und Hitachi. Hunderttausenden von mittleren und kleineren Betrieben hingegen blieb gegen die Konkurrenz der Großen keine Chance. Sie sind unzureichend ausgerüstet, bieten miserable Arbeitsbedingungen, arbeiten mit nur geringer Produktivität und stehen als billige Zulieferer unter dem Diktat der Großkonzerne. 90 Prozent der knapp 600 000 Betriebe des verarbeitenden Gewerbes beispielsweise haben weniger als 30 Beschäftigte. Und über 90 Prozent aller japanischen Firmen haben ein Kapital von weniger als zehn Millionen Yen (100 000 Mark).

Rückständig wie diese Kleinindustrie ist vielfach der Handel. Millionen von Kleinsthändlern verkaufen in oft winzigen Läden Konsumgüter, die auf ihrem Weg vom Erzeuger zum Verbraucher eine Vielzahl von Handelsstufen durchlaufen. Das archaische Verteilungssystem und die unproduktiven Kleinbetriebe verteuern die Waren. Während die Erzeugerpreise der Großindustrie fast stabil blieben, kletterten die Preise für Konsumgüter allein im letzten Jahr um 7,7 Prozent. Denn die kleineren und mittleren Unternehmen, deren Preise das Niveau der Lebenshaltungskosten maßgeblich mitbestimmen, konnten Lohnsteigerungen weit weniger als Großunternehmen durch Produktivitätsfortschritte ausgleichen. »Der Preisstabilität«, so verkündet denn auch Isamu Miyazaki, stellvertretender Direktor des Koordinationsbüros beim Wirtschaftsplanungsamt in Tokio. »muß künftig gegenüber dem Wachstum Vorrang eingeräumt werden.

Immer mehr Wirtschaftler Japans fürchten zudem, daß die Wirtschaft ihres Landes ähnlich wie die der Bundesrepublik bei stark steigenden Löhnen in eine Kosteninflation treiben werde. Jahrelang konnten Nippons Manager aus einem unerschöpflich scheinenden Reservoir billiger Arbeitskräfte schöpfen. Lohnsteigerungen von durchschnittlich 15 Prozent im Jahr fingen sie durch höhere Arbeitsproduktivität auf.

Neben Lohnsteigerungen, so analysierten Japans Wirtschaftsstrategen, bedrohe immer mehr ein wachsender Arbeitskräfte-Mangel die Expansionschancen der Wirtschaft. Unternehmer und Regierungsbeamte beklagen heute sogar schon eine »kritische Arbeitskräfteverknappung«. In der Tat wuchs das Arbeitskräfteangebot im letzten Jahr nur noch um ein Prozent auf 51,9 Millionen Menschen.

Die Löhne steigen schneller als die Produktivität.

Doch die großen Hotels Tokios können es sich immer noch leisten, den Gast zeitweilig gleich von zwei jungen Kimono-Damen im Fahrstuhl willkommen heißen zu lassen. Warenhäuser an Tokios Renommierstraße Ginza beschäftigen noch immer Mädchen, deren einzige Aufgabe darin besteht, sich an den Rolltreppen tief vor den Kunden zu verbeugen und »Domo arigato gozaimasu (Danke sehr) zu sagen. Wer seinen Wagen in die Reparaturwerkstatt bringt, wird sogleich von einem Heer von Monteuren unschwirrt. Fahrkartenknipser und -einsammler sitzen an jeder Bahnsteigsperre.

Trotz der offenbar noch großen Reserve bisher unproduktiv eingesetzter Arbeitskräfte steigen seit Anfang 1969 die Löhne schneller (1970: 17 Prozent) als die Produktivität (1970: 14 Prozent). »Wenn diese Entwicklung anhält«, konstatiert Ichiro Miyamoto, stellvertretender Generalsekretär des Arbeitgeberverbandes, »dann werden wir unsere Wettbewerbsvorteile schnell verlieren.« Japans Bosse rechnen damit,daß Lohnsteigerungen zwischen 15 und 20 Prozent auch in diesem Jahr die Produktivitätszunahme übertreffen werden.

An den Hochöfen der Stahlkonzerne wie Nippon Steel,Nippon Kokan und Kawasaki Steel,an den Fließbändern der Elektrogiganten wie Hitachi und Matsushita oder in den Werkhallen der Automobilriesen Nissan und Toyota ist von der einst gerühmten und gefürchteten Ameisenmentalität des japanischen Arbeiters nicht mehr viel zu spüren. Jene legendären Arbeiter. die fleißig wie die Bienen schaffen und genügsam von einer Schale Reis am Tag. Dörrfisch und grünem Tee leben, sind allenfalls noch in den wenigen Kleinstbetrieben anzutreffen, die ausschließlich ehemalige Bauern beschäftigen,

Zwar arbeitet der Japaner mit durchschnittlich 47 Wochenstunden noch immer erheblich länger als sein Kollege in den westlichen Industrieländern. Aber Japans Jungarbeiter bewerben sich zunehmend bei Firmen, die mehr Freizeit bieten. Die beiden größten gewerkschaftlichen Dachverbände, »Sohyo« und »Domei«, fordern in ihrem Aktionsprogramm 1971 zum erstenmal die Verkürzung der Arbeitswoche auf fünf Tage.

Nur langsam jedoch mehren diese Gewerkschaftsverbände Macht und Einfluß. Denn Japans Arbeitnehmer-Vertretungen sind aufgesplittert in fast 60 000 Betriebsgewerkschaften, die sich den Interessen des Firmenmanagements o. t im gleichen Maße verpflichtet fühlen wie denen ihrer Mitglieder.

»Verhaltensregeln für ganze Kerle.«

»Traditionelle familienorientierte Empfindungen der Japaner«, lobt der Arbeitgeberverband »Nikkeiren« das System der Betriebsgewerkschaften, »und das auf jahrhundertealten Traditionen beruhende familienorientierte Management haben dazu beigetragen, die Spannungen zu mildern, die im Laufe der Industrialisierung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern aufgekommen waren. Und dies wiederum hat Japans Industrialisierung zu einem Erfolg werden lassen -- ohne harte Kämpfe zwischen Arbeit und Kapital.«

Tatsächlich sorgen japanische Unternehmer für ihre Arbeiter nach Art mittelalterlicher Lehnsherren, die dafür auch absolute Treue verlangen konnten. Wer mit 15, 18, 20 oder 22 Jahren -- je nach Bildungsweg neunjährige Pflichtschule, drei Jahre Oberschule, zweijähriges Fachschulstudium oder vier Jahre Universität -- in eine Firma eintritt, wird für die Dauer seines gesamten Berufslebens eingestellt. Auch in einer Rezession kann er -- wie ein Beamter -- nicht entlassen werden.

Der Betrieb bietet Wohnheime für die Unverheirateten, stellt den Kranken Ärzte, verfügt über feste Betten in Krankenhäusern oder über eine eigene Klinik. Der Betrieb unterhält Kindergärten und Sportanlagen, veranstaltet Hobby-Kurse und vermittelt Eheschließungen. Stolz tragen die Arbeiter Betriebs-Uniformen und Anstecknadeln mit dem Firmenemblem.

Vor Arbeitsbeginn stimmen sie häufig eine Firmenhymne an und bekennen gemeinsam mit den Direktoren ihren Glauben an den »Geist der Gerechtigkeit, der gesellschaftlichen Harmonie, der Strebsamkeit, Bescheidenheit, Anpassung, Dankbarkeit« (so bei Matsushita Electric).

Die Matsushita-Belegschaft bekundet auch immer wieder ihren »Willen, daß wir durch unsere industrielle Arbeit zur Entwicklung der Nation beitragen wollen«. Ähnliche Gebote oder »Verhaltensregeln für ganze Kerle« (Werbeagentur Dentsu) gibt es in allen großen Unternehmen.

Die Idylle vom Unternehmen als Großfamilie, in der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich gegenseitig stützen und anspornen, verbirgt eine totale Abhängigkeit des einzelnen, völlig unzureichende Sozialleistungen des Staates sowie Arbeitsbedingungen in den Klein- und Mittelbetrieben, die oft die Grenze des Zumutbaren überschreiten.

So richtet sich die Entlohnung -- in der Reihenfolge der Bedeutung -- nach Firmengröße, Alter, Dauer der Betriebszugehörigkeit, jedoch kaum nach Leistung.

»Wir haben gerade das Lohnniveau Italiens erreicht.«

Ein 30 Jahre alter Schlosser etwa in der verarbeitenden Industrie verdiente im letzten Jahr durchschnittlich 616 Mark im Monat -- einschließlich Überstundengeld. Ohne Überstunden betrug der Durchschnittslohn 1970 nur 490 Mark. Jedoch ist es in Japan üblich, daß die Unternehmen zweimal im Jahr einen Bonus zahlen, der allerdings häufig vom Betriebsergebnis abhängig ist. Im letzten Jahr zahlten die Firmen der verarbeitenden Industrie dem 30jährigen Facharbeiter durchschnittlich einen Gesamtbonus von 1468 Mark.

Mehr als die Hälfte aller Arbeiter lagen indes unter der 616-Mark-Grenze, weil sie in schlecht zahlenden Kleinbetrieben beschäftigt waren. Jeder vierte Arbeiter mußte sich -- Bonuszahlungen nicht mitgerechnet -- mit einem Monatslohn zwischen 350 und 390 Mark begnügen.

Ein Ingenieur mit zwölf Dienstjahren und acht bis zehn Untergebenen kam auf ein Grundgehalt von 922 Mark, mit Überstunden 1219 Mark. Dazu erhielt er fünf bis sechs Grundgehälter als Bonus.

»Wir haben«, meint Lohnexperte Magota von der Waseda-Universität, »gerade das Lohnniveau von Italien erreicht.« Wird Japans Lohnniveau gleich 100 gesetzt, so liegt die Bundesrepublik bei 180.

Wer den Arbeitsplatz wechselt, verliert jeden Anspruch auf eine Altersversorgung und zuweilen auch seine Wohnung. Die Arbeitnehmer können es sich deshalb kaum leisten, sich von einer anderen -- womöglich besser zahlenden -- Firma einstellen zu lassen.

Die Entscheidung über den Berufsweg innerhalb eines Unternehmens trifft allein die Firmenleitung. Einem Mediziner kann es passieren, daß er in die Verwaltung gesteckt wird. Ein Ingenieur muß darauf gefaßt sein, in der Buchhaltung eingesetzt zu werden. Denn nach der Philosophie des japanischen Systems hat sich jeder unter das gemeinsame Ziel seiner Gruppe -- also des Unternehmens -- unterzuordnen. Alten und Kranken, die für den Produktionsverband nichts mehr leisten können und von ihrem ehemaligen Patron nicht mehr versorgt werden, wird kaum das Überleben garantiert.

Während sich die Löhne langsam dem Niveau europäischer Staaten nähern, bleiben die staatlichen Sozialleistungen archaisch. So lag 1970 die durchschnittliche Altersrente beispielsweise erst bei 137 Mark. Die fast drei Millionen Fürsorgeempfänger müssen sich mit 23 Mark Monatsrente begnügen -- nach einer 15prozentigen Aufbesserung im letzten Finanzhaushalt. Der Anteil der Sozialleistungen am Volkseinkommen beträgt in Japan weniger als sieben Prozent gegenüber rund 20 Prozent in Frankreich und der Bundesrepublik.

Die paternalistische Fürsorge der Unternehmer, die Staatsschutz im Alter ersetzen soll, ist kümmerlich. So zahlen selbst Großbetriebe ihren Beschäftigten nach Erreichen des Pensionsalters von 55, in manchen Firmen 60 Jahren eine Altersabfindung von durchschnittlich einem Monatsgehalt pro Dienstjahr.

Nach einer Umfrage der Tokioter Industrie- und Handelskammer bei 3000 Industriefirmen erhält ein Arbeitnehmer, der mit Pflichtschulabschluß eingestellt worden war, nach 30 Jahren einen Altersbonus von 22 720 Mark. Ein Arbeitnehmer mit Oberschulabschluß bekommt 31140 Mark, ein Hochschulabsolvent kassiert bei Ausscheiden 42 540 Mark. Die kleineren und mittleren Zulieferfirmen zahlen hingegen bestenfalls nur ein paar tausend Mark.

Doch selbst bei einer hohen Altersabfindung stehen dem Japaner nur etwa 2000 Mark im Jahr zur Verfügung. Denn die durchschnittliche Lebenserwartung liegt in Japan gegenwärtig bei 69 Jahren für Männer, 74 Jahren für Frauen. Kaum ein Japaner kann es sich daher leisten, nicht mehr zuarbeiten. Zu neuen, schlechteren Bedingungen beschäftigen die Unternehmen ihre alten Stammarbeiter weiter. Der Lohn wird bis zu 40 Prozent gekürzt, der Anspruch auf Sozialleistungen wie Krankenversorgung erheblich vermindert.

Gleichwohl dürfen soziale Rückständigkeiten und die totale Unterwerfung des Arbeitnehmers nicht allein mit europäischen Maßstäben gemessen werden. Denn die streng hierarchisch gegliederte Großfamilie des alten Japan, die Grundlage der gesamten Gesellschaftsstruktur war, hat im Denken der modernen Japaner ihre Spuren hinterlassen. »Ein japanisches Unternehmen«, schreibt der französische Japan-Kenner Robert Guillain, »betrachtet die Beziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht unter dem Aspekt des Arbeitsvertrages, sondern unter dem Aspekt gemeinsamer Zugehörigkeit zur gleichen Familie, Der Arbeiter will in diese zweite Familie aufgenommen werden. Ohne sie fühlt er sich wie eine Waise, wie ein schwacher einzelner in einer Welt, die nur Gruppen kennt. Der Lohn ist ihm nicht das wichtigste.«

Tatsächlich spielt im oft undurchsichtigen System wechselseitiger Loyalitäten und Verpflichtungen Geld nur eine nachgeordnete Rolle. So werden auch Japans Wirtschaftsbosse relativ mager entlohnt. Die finanzielle Kluft, die sie von ihren Arbeitern und Angestellten trennt, ist weit geringer als etwa in Westdeutschland und anderen Industriestaaten. Professor M. Y. Yoshino fand heraus, daß von den Top-Managern der Großfirmen nur 512 über 100 000 Mark im Jahr verdienen, die meisten hingegen nur zwischen 50 000 und 100 000 Mark. Zwar bewilligen Japans Firmen ihren führenden Angestellten Milliarden Yen an Geschäftsspesen -- und fesseln sie so zusätzlich an das Unternehmen. Aber die etwa in der Bundesrepublik übliche Geldprotzerei, die Zurschaustellung von Luxusvillen, Motorjachten, Reitpferden und privaten Renommier-Karossen, ist in Japan unbekannt.

Japans Industrie wird heute von einer dünnen Schicht oft über 70 Jahre alter Manager geleitet, die sich -- ausgerüstet mit Diplomen der besten Universitäten -- in den Firmen hochgedient haben. aber häufig über keinen nennenswerten finanziellen Rückhalt verfügen. Zur neuen Manager-Elite Japans gehören freilich auch Selfmademänner wie Soichiro Honda, der bis 1948 einfacher Mechaniker war und heute Boß der größten Motorradfabrik der Welt ist, der Elektroindustrielle Konosuke Matsushita (Warenzeichen: National"), der früher Fahrräder reparierte, oder Taizo Ishida, der ohne Fachausbildung Chef des Autoriesen Toyota wurde.

Höchste Sparquote der Welt.

In den meisten Unternehmen haben die Manager ohne Kapital -- Betriebsangehörigen ist es gesetzlich verboten, mehr als 15 Prozent Firmenaktien zu besitzen -- die alten Familien-Finanzdynastien beispielsweise der Mitsui oder Iwasaki (Mitsubishi) abgelöst, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs die Wirtschaft des Landes beherrschten.

Die US-Besatzer sperrten die Familienclans von den Geschäften aus. Ihre Vermögen zogen sie ein.

Zwar gibt es längst wieder die mit den Namen der großen Familien verbundenen Konzerne. Aber sie gehören nicht mehr ihren früheren Herren.

Wenngleich japanische Statistiken die Besitzverhältnisse vielfach im dunkeln lassen, so sind es doch erkennbar sechs große Bankengruppen -- Fuji, Mitsui, Mitsubishi, Sumitomo, Sanwa, Dai-Ichi -, die heute ähnlich wie einst der Geldadel die Macht ausüben. Sie waren es, die -- gestützt auf eine großzügige Geldpolitik der Zentralbank und eine beispiellose Sparfreudigkeit der Japaner -- den Aufschwung der Großunternehmen finanzierten.

So betrug der Anteil der jährlichen Ersparnisse an den persönlichen Einkommen (die Sparquote) fast immer 18 Prozent. Das ist die höchste Sparquote der Welt (Bundesrepublik: 12,4 Prozent). Japans Banken sammelten die kleinen Sparbeträge -- durchschnittliche Sparsumme je Konto 1970: 1407 Mark -- und gaben sie als Darlehen an die Industrie weiter.

Umgekehrt sind die Konzern-Unternehmen an ihren Hausbanken beteiligt. Die Mitsui-Gruppe etwa besitzt 32,2 Prozent des Aktienkapitals der Mitsui-Bank, die Mitsubishi-Firmen halten ein knappes Drittel der Mitsubishi-Bank-Aktien, ein Viertel der Fuji-Bank-Aktien gehören den Fuji-Konzernunternehmen.

Obwohl die Banken ihrerseits laut Antimonopolgesetz nicht mehr als zehn Prozent des Aktienkapitals eines Unternehmens besitzen dürfen, sicherten sie sich durch Kreditvergabe ein hohes Maß an Einfluß und Lenkung.

Die Banken pumpten bis zu vier Fünftel der für neue Maschinen und Anlagen benötigten Gelder in die Großbetriebe, deren Eigenkapital-Anteil heute bei durchschnittlich nur 20 Prozent liegt -- ein Prozentsatz, bei dem westliche Unternehmen jede Kreditwürdigkeit verlieren würden. Da Japans Unternehmen sich zumeist mit niedrigen Profiten zufriedengaben und auf Selbstfinanzierung ihrer Investitionen verzichteten, ist der häufig weitgestreute Aktienbesitz für die Kontrolle der hochverschuldeten Unternehmen ziemlich unbedeutend (Mitsubishi Heavy Industries etwa hat über 350 000 Aktionäre).

Im letzten Jahr besaßen in Japan Privatleute knapp 39 Prozent aller Aktien, die Geldinstitute hielten etwas mehr als ein Drittel, den Unternehmen gehörten 21 Prozent.

Waren Japans Nachkriegs-Bosse -- anders als die alten Familienclans -- kaum darauf aus, ihren privaten Reichtum zu mehren, so vermochten sie um so leichter das Volk auf ein einziges, gemeinsames »Familien« -Ziel einzuschwören -- das Wachstum der Volkswirtschaft. Erst jetzt wird immer mehr Japanern bewußt, mit welchen Opfern der Wachstumsfanatismus erkauft wurde. »Bislang haben wir all unsere Energien einseitig darauf fixiert«, meint Hitachi-Präsident Kenichiro Komai, »unser Wirtschaftswachstum auf Höchsttempo zu bringen. Das hat zu einer ganzen Reihe ernster Krankheiten in unserer Gesellschaft geführt.

Toray-Boß Hirota ist überzeugt, »daß, wenn es so weitergeht, ein menschenwürdiges Leben unmöglich wird.«

In der Tat: Mit einem Übermaß an Investitionen in der Privatindustrie hat Japan beispiellose Wachstumseffekte erzielt, die öffentlichen Ausgaben für

* Smog über Tokio.

Straßen, Wohnungen, Kanalisation, Schulen, Krankenhäuser und zum Schutz gegen die Umweltgefährdung blieben weit dahinter zurück.

Nur 35 Prozent aller Investitionsgelder wurden in den vergangenen 15 Jahren für diese Gemeinschaftsaufgaben ausgegeben. Wie kaum ein anderes Land hat Japan damit gegen die Erkenntnis verstoßen, daß eine Industriegesellschaft erstickt, wenn sie nicht für ein Gleichgewicht zwischen produktionsorientierten Privatinvestitionen und am Gemeinwohl orientierten Staatsausgaben sorgt.

In riesigen industriellen Ballungsräumen entlang den Küsten leben die rund 104 Millionen Japaner zusammengepfercht auf einer bewohnbaren Fläche von der Größe Niedersachsens. Der Superexpreßzug »Hikari« rast in 20-Minuten-Folge von Tokio nach Osaka (Entfernung: 515 Kilometer; Fahrzeit: drei Stunden, zehn Minuten) durch ununterbrochene Industrieansiedlungen und planlos wuchernde Städte mit winzigen Bretterbuden, die als menschliche Behausungen dienen.

In der Hauptstadt und an der Bucht von Tokio ist die Luft stärker verpestet als irgendwo sonst in der Welt. Die Norm für das erträgliche Maß an Schwefeldioxid in der Luft wird täglich überschritten. Jeder fünfte Einwohner Tokios leidet deshalb an chronischer Bronchitis. Aufgrund einer Untersuchung der Gesundheitsbehörden über die Verschmutzung von Flüssen und Meeresstränden stellte das MassenMatt »Asahi Shimbun« fest: »Wir schwimmen in Jauche.« Die Bucht von Tokio ist, so »Asahi«, eine »Kloake«. Ob in der Megalopolis Tokio-Osaka, ob in Kobe, Nagasaki oder Hiroshima: Polizisten erleiden akute Bleivergiftungen an den Verkehrsknotenpunkten der Großstädte. Menschen wohnen in stinkenden und giftigen Dünsten von Werksanlagen. Sie vergiften sich an Fischen aus den Flüssen oder Küstengewässern. Industrie-Smog hüllt bei feuchtem Wetter ganze Landstriche in grüngelben Dunst und brennt in den Augen. »Die Großunternehmen werden noch zittern.«

Die Giftwolken haben die Bevölkerung nun aufgeschreckt. Gemeinden in industriellen Entwicklungsgebieten etwa im östlichen Teil der Insel Kiuschu und auf Schikoku, die bis vor kurzem noch mit Investitionsanreizen für die Stahl- und Chemieindustrie lockten, wollen nur noch saubere Industrien. Konsumentenverbände rufen dazu auf, Produkte umweltverschmutzender Firmen zu boykottieren. »Die Großunternehmen« » schließt Ökonomie-Professor Yujiro Shinoda von der Sophia-Universität, »werden vor dieser neuen Bewegung noch zittern.«

Neben Schmutz und Gift schnüren zu enge und verstopfte Straßen den Expansionsdrang der Japaner ein. Zwar durchschneiden Schnellstraßen -- oft in mehreren Etagen übereinander -- die Großstädte, verbinden Autobahnen die Industriezentren von Tokio, Jokohama und Osaka. Sie aber bilden nur einen Bruchteil des japanischen Straßennetzes. Weniger als ein Drittel aller Straßen sind gepflastert, die meisten hoffnungslos überlastet.

Ein Honda-Angestellter beispielsweise. der nach einer Konferenz in seiner Zentrale im Zentrum Tokios wieder in sein etwa 40 Kilometer entferntes Werk in Sayama fahren muß, braucht dafür zweieinhalb Stunden. Vorortzuge« die mit 250 bis 300 Prozent ihrer Fahrgastkapazität überfüllt sind, gehören zum alltäglichen Bild.

Ebenso unzumutbar wie Umweltverseuchung und Verkehrschaos erscheinen die Wohnverhältnisse. Eine Umfrage des Amts des Ministerpräsidenten ergab schon vor drei Jahren, daß etwa die Hälfte der rund 28 Millionen Haushalte Japans mit ihrer Wohnungssituation unzufrieden waren. Diese Zahl ist inzwischen wahrscheinlich noch gestiegen. In Großstädten wie Tokio, Osaka und Nagoya kommen auf eine Neubauwohnung von durchschnittlich 40 Quadratmetern über 30 Bewerber. Bis 1985 werden in Tokio etwa sieben Millionen, in Osaka vier Millionen neue Wohnungen benötigt, so ermittelten die Stadtverwaltungen. Und die Regierung rechnet damit, daß in den nächsten 20 Jahren 30 Millionen Wohnungen gebaut werden müssen.

Die Bevölkerung, im Banne der stolzen ökonomischen Expansion, nahm geduldig Lebensverhältnisse hin, die -- zusammen mit dem Streß am Arbeitsplatz -- zunehmend zum Krankheitserreger wurden. In den Büros und Fabriken steigt die Zahl der Gemüts- und Geisteskranken ständig. Dr. Masakatsu Shiosaki, Chefpsychiater am Tokioter Aisei-Krankenhaus: »Ich kann definitiv sagen, daß sich ein Drittel aller japanischen Gehaltsempfänger im Vorstadium von Neurosen befindet,« Potenzstörungen, vornehmlich im Alter zwischen 30 und 40 Jahren, und Alkoholismus gehören laut Shiosaki zu den alltäglichen Symptomen.

»Es war eine Fehlkalkulation«, bekennt Chefberater Miyazaki vom Wirtschaftsplanungsamt der Regierung, »den Wohlstand nur am Bruttosozialprodukt und dessen Wachstum zu messen und ihn nicht auch im menschlich-gesellschaftlichen Sinne zu erfassen. Miyazaki steht mit seiner Meinung nicht allein, Industrieverbands-Direktor Rikuzo Koto: »Wir haben uns am Wachstum überfressen.«

Künftig wollen die Japaner deshalb das Schwergewicht der Investitionen von der Industrie auf den Staat verlagern. Für sogenannte Infrastrukturmaßnahmen -- zum Beispiel Straßenbau, Kanalisation. Müllbeseitigung, Umweltschutz -- muß Japan, so fand kürzlich eine Studienkommission im Auftrag der Regierung heraus, in diesem Jahrzehnt 1800 Milliarden Mark ausgeben (in Preisen von 1965), wenn es den heutigen Stand der USA erreichen will.

Erstmals werden nach den offiziellen Planungen in den nächsten fünf Jahren die Ausgaben der Regierung für die Infrastruktur. Bildung, Wissenschaft und Forschung mit jährlich 13,5 Prozent schneller steigen als die Privatinvestitionen (12,5 Prozent). Die Gesamtsumme der öffentlichen Investitionen soll sieh gegenüber den letzten fünf Jahren mehr als verdoppeln -- auf 550 Milliarden Mark.

Da somit Japans Regierung künftig einen größeren Teil des Sozialproduktes für eigene Ausgaben beansprucht, wird das beklagte Ungleichgewicht allmählich abgebaut. Zwar erkaufen sich die Japaner dadurch auf lange Sicht eine Chance, ihre Inseln bewohnbar und ihre Industrie leistungsfähig zu erhalten. Gleichzeitig werden sie aber hinnehmen müssen, daß vorerst das Wachstumstempo langsamer wird.

»Wir werden alle an sozialen Übeln sterben.«

Gebremst wird die industrielle Expansion möglicherweise obendrein durch den schärferen Wettbewerb, dem sich Japans Unternehmen künftig ausgesetzt sehen. Bisher hatten sich die Japaner mit Zollschranken und Einfuhrquoten gegen unbequeme Konkurrenz aus dem Ausland geschützt. Nun will Tokio noch in diesem Jahr die Handelsbarrieren weitgehend abbauen.

Zudem steht Japans Regierung seit Monaten unter dem Druck der USA, den Yen aufzuwerten. Denn nach Ansicht der Amerikaner subventioniert »Tokio mit der gegenwärtigen Yen-Dollar-Parität (1 Dollar = 360 Yen) ungerechtfertigterweise den Export japanischer Automobile, Fernseher und Kunstfasern nach Amerika.

Schwerer wiegen freilich die künftigen Kosten, die Tokios Regierung den Unternehmern aufbürden will, um die Umweltverschmutzung einzudämmen. Ein Gesetzentwurf sieht vor, daß Industriebetriebe beispielsweise drei Viertel der Kosten für die Sauberhaltung der Gewässer und zwei Drittel der Kosten für Abwasserreinigung aufbringen sollen.

Außerdem sollen luftverpestende Industrien wie die Petrochemie gezwungen werden, Entgiftungsanlagen zu bauen. Zwar ist fraglich, ob Umweltverseuchung tatsächlich -- wie ursprünglich von Regierungschef Sato beabsichtigt -- als »krimineller Akt« gesetzlich gebrandmarkt wird. Doch Japans Manager kalkulieren. daß sie fortan mindestens sechs bis neun Prozent ihrer Investitionsausgaben für Maßnahmen zum Umweltschutz verwenden müssen. Bislang lag der Betrag hierfür zwischen drei und fünf Prozent, häufig sogar noch niedriger.

»Einige stark exportorientierte Wirtschaftszweige wie etwa die Stahl- und * Überfüllte U-Bahn in Tokio.

petrochemische Industrie«, befürchtet »The Japan Economie Journal«, »könnten infolge dieser steigenden Ausgaben in ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt werden. Gleichwohl setzt sich bei den Unternehmern offenbar immer mehr die Erkenntnis durch, daß die »Industrie an ihrer ungezügelten Produktivität erstickt« (Industrieverbands-Direktor Masaya Miyoshi), falls sie nicht selbst die Umweltbedingungen verbessert. So haben sich beispielsweise drei große Stahlwerke verpflichtet, noch in diesem Jahr den Gehalt an giftigem Schwefeldioxid in ihren Abgasen auf ein Zehntel des gegenwärtigen Grades zu reduzieren. Die Kosten hierfür: etwa 160 Millionen Dollar.

So wie die Japaner bewußt jahrelang gegen die »Theorie des gesellschaftlichen Gleichgewichts« des US-Ökonomen John Kenneth Galbraith verstoßen haben, wonach eine Gesellschaft am eigenen privaten Überfluß verfault, wenn sie ihr Augenmerk einzig darauf richtet, daß die Zuwachsraten des Bruttosozialprodukts so groß wie möglich werden, so deutlich sehen sie heute neue Prioritäten.

Schon hat das Wirtschaftsplanungsamt verkündet, seine Beamten entwickelten ein neues Verfahren der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung« das sich nicht mehr allein auf Zuwachsraten stützt. Vielmehr soll auch der Grad des Wohlstands im menschlich-gesellschaftlichen Sinn wissenschaftlich erfaßt werden.

»Denn wenn wir das nicht tun«, resümierte Wirtschaftsplaner Miyazaki, »und wenn unsere Industrie weiter ungehemmt wächst, werden wir alle an sozialen Übeln sterben.«

Zur Ausgabe
Artikel 2 / 90
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten