Zur Ausgabe
Artikel 2 / 87

POLEN / NACHBARN AM ZAHLTAG IN DEN MILCHBOTTICH

aus DER SPIEGEL 47/1970

Früher ein Vielvölkerstaat, bemühte sich das wiedererstandene Polen 1945 um nationale Integrität. In Polen sollten nur noch Polen leben -- ohne Minderheiten anderer Nationalitäten, die den Staat hätten gefährden können: Belorussen und Ukrainer waren an Rußland abgetreten, die Juden von den Deutschen ausgerottet worden, die Deutschen verjagt.

Einige der Deutschen blieben dennoch in Polen. Wie viele es heute noch sind, ist unbekannt; offiziell wurde von 3000 gesprochen. Nach der polnischen Volkszählung vom 14. Februar 1946 lebten zwar in den »wiedergewonnenen West- und Nordgebieten« noch 2 075 957 Deutsche. Doch in der Volkszählung vom 3. Dezember 1950 tauchten keine Deutschen mehr auf. Statt dessen waren 1 104 134 »Autochthone« (Ureinwohner) verzeichnet, die es vorher nicht gegeben hatte. Ein Autochthoner ist amtlich ein Mitglied der ehemaligen polnischen Minderheit in Deutschland, dessen Zugehörigkeit zum polnischen Volkstum durch Verifikation bestätigt wurde.

Die polnische Minderheit betrug 1925 in den ostdeutschen Provinzen (mit neun Millionen Einwohnern) allerdings zwei Prozent, zuzüglich fünf Prozent, die sich »zweisprachig« nannten. So gelten heute als »Autochthone« in der polnischen Statistik neben Masuren, Kaschuben und anderen Minderheiten auch Einwohner deutscher Nationalität, die unter Druck und aus Anpassung für Polen optierten und »verifiziert« wurden: Noch heute scheuen sich viele, auf der Straße deutsch zu sprechen -- unmittelbar nach 1945 war es verboten.

Gelegentlich gaben einzelne polnische Presseorgane durchaus zu, daß Verfolgungen gegen »Autochthone« stattgefunden hatten. »Der Terror«, schrieb 1956 die Zeitschrift »Nowa Kultura«, »wurde begünstigt durch die »ideelle' Abneigung der zugezogenen Bevölkerung gegenüber den »Schwaben' sowie das weniger ideelle Interesse vieler (Neu-)Siedler am rücksichtslosen Hinauswerfen der Einheimischen aus ihren Häusern und Höfen.«

Damals erschien in Breslau noch die (1959 eingestellte) deutschsprachige »Arbeiterstimme«. Am 24. November 1956 zitierte das Blatt einen polnischen Lehrer aus dem ostpreußischen Sensburg: »Ich fühle mich hier wie einer, der Sisyphusarbeit leistet. Es ist doch ein Irrtum, den Leuten einzureden, sie seien Polen.«

Zur selben Zeit veröffentlichte das Oppelner Parteiorgan »Trybuna Opolska« einen Beschluß des örtlichen Parteikomitees, die künstlich geschaffene autochthone Bevölkerung wieder als nationale deutsche Minderheit anzuerkennen und das ihr zugefügte Unrecht wiedergutzumachen. Das Warschauer ZK hob den Beschluß auf und löste das gesamte Oppelner Parteikomitee ab.

Gleichwohl hatte im Dezember 1955 eine Aktion »Familienzuführung« begonnen. Bisher durften 367 000 polnische Staatsbürger deutscher Nationalität ausreisen. Viele der Kinder dieser Spätumsiedler sprechen kein Wort Deutsch mehr.

Für das polnische Parteiorgan »Trybuna Ludu« gibt es denn auch keine deutsche Minderheit (ein »Mythos"), sondern nur die Auswanderungslust polnischer Staatsbürger. Vielleicht fürchtet die Regierung einen Exodus von Gastarbeitern wie vor 100 Jahren ins Ruhrgebiet -- die Bezeichnung der Autochthonen als »deutschstämmig« erscheint dem Juristen-Blatt »Prawo i Zycie« als »Plan, polnisches Blut zu rauben«.

270 000 unerledigte Ausreise-Anträge liegen beim Roten Kreuz -- und mancher Polen-Deutsche hat sich bislang nicht getraut, einen Antrag zu stellen: womöglich aus Furcht, In die DDR abgeschoben zu werden.

Alexander Weit, Ex-Dolmetscher des polnischen Parteichefs Gomulka, berichtete, im Herbst 1963 hätten Verhandlungen über eine Aussiedlung der deutschen Volksgruppe in die DDR stattgefunden. SED-Chef Ulbricht wollte nichts davon wissen: »Meinetwegen sperrt sie ein!« Gomulka resignierte: »Da kann man nichts machen. Wir behalten die Leute eben hier und können nur in besonders harten Einzelfällen die Ausreisegenehmigung erteilen. Lösen aber können wir das Problem nicht.«

1968 gab es nach Inoffiziellen polnischen Schätzungen noch ungefähr eine Million polnischer Staatsbürger deutscher Nationalität, von denen angeblich etwa 850 000 in Oberschlesien lebten -- wo schon früher der Unterschied zwischen Polen und Deutschen verwischt war und beide Nationalitäten meist friedlich und zweisprachig lebten, arbeiteten, In die gemeinsame katholische Kirche gingen und untereinander heirateten. Ihre Pässe galten im deutschen wie Im polnischen Teil Oberschlesiens.

In Oppeln sind heute noch etwa die Hälfte der Einwohner Deutsche, in Beuthen ein Fünftel. In Masuren leben beide Volksgruppen zusammen, so auf einem Staatsgut bei Sensburg, wo sie ihre Konflikte etwa bei den beliebten »Pompea-Bädern« abreagieren: Eine Gruppe polnischer Landarbeiter wirft einen Masuren ("Szkop") in den staatlichen Milchbottich; am nächsten Zahltag, zu dem viel Wodka konsumiert wird, folgt die Revanche. Aber die jungen Leute heiraten sich dennoch ohne nationale Vorbehalte -- auch im Fall eines Krachs im Elternhaus.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 2 / 87
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren