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Artikel 35 / 66

»AMERIKA WILL DEN VÖLKERMORD«

aus DER SPIEGEL 32/1968

SPIEGEL: Es haben bislang nur wenige Deutsche die Möglichkeit bekommen, nach Nordvietnam zu reisen. Wie ist Ihr Besuch in Hanoi zustande gekommen?

WEISS: Wir sind aus eigener Initiative nach Vietnam gefahren. Als Mitglied des Russell-Tribunais bin ich von vietnamesischen Regierungsstellen schon öfter eingeladen worden. Ich habe die Einladungen damals nicht angenommen, weil ich mein Vietnam-Stück erst fertigstellen wollte. Die jetzige Reise haben wir selber arrangiert. In Vietnam waren wir allerdings Gast von vietnamesischen Institutionen. Aber die Reise ist von uns allein getragen worden.

FRAU WEISS: Wir sind beide praktisch für Vietnam tätig, Peter im Tribunal, ich im schwedischen Vietnam-Komitee.

SPIEGEL: Sie haben von der Reise einen Rapport mitgebracht, der aus nichts anderem besteht als aus statistischem Material, das Ihnen, wie es im Text heißt, »übergeben« wurde.

WEISS: Dieser Rapport stellt das realistische Bild, die Basis für einen größeren Bericht dar, der im Herbst erscheinen wird. Die Basis ist heute der Zerstörungskrieg, der gegen Nordvietnam geführt wird. Diese Basis muß vor allen Dingen beachtet werden, wenn man sich mit den heutigen kulturellen und sozialen Zuständen befassen will

SPIEGEL: Was haben Sie in Hanoi von den Zerstörungen des Krieges gesehen?

WEISS: Über Vietnam ist zu sagen: Es gibt keinen Ort, keinen Quadratmeter, an dem man nicht die Resultate des Krieges sieht. Hanoi und Haiphong sind die beiden einzigen Städte, die nicht total zerstört sind. In Hanoi sind große zentrale Teile der Stadt vernichtet, um das Elektrizitätswerk herum und einige Brücken und einige größere Wohnviertel, während der eigentliche Stadtkern unversehrt geblieben ist. Sobald man aber das eigentliche Stadtgebiet Hanois verläßt, beginnen die Zeichen der Vernichtung. Wir sind sehr weit in Nordvietnam herumgereist. Wir haben nicht eine Ortschaft, nicht eine Stadt, nicht ein freistehendes Gebäude gefunden, das nicht sehr heftigen Bombenangriffen ausgesetzt worden war. Man kann zusammenfassend über Nordvietnam sagen, daß alle festen Bauwerke vernichtet sind. Es ist eine Kriegslandschaft, wie wir sie nur noch vom Zweiten Weltkrieg her kennen. Worauf unser Rapport abzielt, ist: zu zeigen, daß die heutige Bombardierung -- also die Bombardierung nach dem 31. März dieses Jahres -- an Intensität und Stärke noch zugenommen hat. Früher haben sich die Bombenangriffe auf viele Ziele verteilt. Zwar wurde das ganze Land gleichzeitig angegriffen, aber es handelte sich um verstreute Zielpunkte, die einzeln bombardiert wurden. Dagegen wird das kleinere Areal, das jetzt noch bombardiert wird, mit Flächenbombardierungen belegt. Es kommt uns in dem Rapport darauf an zu zeigen, daß die sogenannte begrenzte Bombardierung nach dem 31. März keine De-Eskalierung darstellt, sondern eine Verdoppelung und Verdreifachung der Luftangriffe.

SPIEGEL: Haben Sie Gelegenheit gehabt, sich ein eigenes Bild vom Zustand der vier südlichen Provinzen zu machen, die jetzt noch bombardiert werden?

FRAU WEISS: Wir haben verschiedene Reisen unternommen. Nicht nur Tagestouren, einmal eine Woche lang.

* Mit SPIEGEL-Redakteuren Winfried Scharlau (l.) und Georg Wolff (r.).

einmal vier Tage, einmal zehn Tage. Es ist sehr kompliziert, solche Reisen zu machen. Oben, im Norden, fährt man tagsüber, südlich nur nachts.

SPIEGEL: Wie weit sind Sie ungefähr nach Süden vorgedrungen? Bis Vinh oder noch weiter südlich?

FRAU WEISS: Wir waren in Thanh Hoa, das im April noch bis zum 20. Breitengrad bombardiert wurde. Wir fuhren durch Nghe An, bis Ha Tinh. Viel weiter konnten wir in diesen sechs Wochen nicht kommen.

SPIEGEL: Könnten Sie uns auf der Karte zeigen, wie weit Sie in die noch bombardierten Gebiete hineingekommen sind?

WEISS: Aus Sicherheitsgründen können wir die Wege nicht angeben. Wir sind meistens auf Nebenwegen gereist. Häufig sind es völlig neue Wege.

SPIEGEL: Wie weit sind Sie denn in die von der Bombardierung jetzt noch betroffenen Gebiete vorgedrungen?

WEISS: Wir kamen bis zur Mitte der Provinz Ha Tinh. Die Hauptstadt haben wir nicht gesehen, aber alles, was an der Nationalstraße Nr. 1 liegt. Weiter südlich sind wir nicht gewesen, weil dort ständige, sehr heftige Dombardierungen waren, auch von der See her.

SPIEGEL: Haben Sie Bombenangriffe beobachtet oder mitgemacht?

WEISS: Ständig. Es vergeht keine Stunde, zu der man nicht Flugzeuge am Himmel sieht oder die Detonierung von Bomben hört.

SPIEGEL: Sie haben aber von der eigentlichen Bombardierung nichts gesehen?

WEISS: Wir selbst sind von einem Direktangriff nicht betroffen worden. Das heißt: Wir haben keine Bombe auf den Kopf bekommen.

SPIEGEL: Sie legen in Ihrem Rapport besonderen Wert auf die Feststellung. daß die Bombardierungen systematisch gegen zivile Objekte gerichtet sind, gegen Schulen, Krankenhäuser und Erholungsheime. Ist es nicht merkwürdig, daß sich die Amerikaner ausgerechnet Kirchen und Pagoden als Bombenziele aussuchen, wenn sie die militärische Infiltration des Südens verhindern wollen?

WEISS: So merkwürdig ist des nicht, weil es eine ganz bestimmte Taktik der amerikanischen Angriffe gibt. Natürlich versuchen sie, auch das zu bombardieren, was sie militärische Ziele nennen: große Brücken, Elektrizitätswerke, Industrien, Flugplätze. Aber außer diesen militärischen Zielen, die für die Amerikaner oftmals weniger wichtig sind als die zivilen Ziele, richten sie ihre Angriffe gegen solche Plätze, die den Menschen als Versammlungsstätten dienen. Die Absicht dieser Angriffe ist unserer Meinung nach, die Grundlagen der menschlichen Existenz in Vietnam zu zerstören. Und aus diesem Grunde greifen die Amerikaner Kirchen, Schulen, Versammlungshäuser und große Wohnkomplexe der Arbeiter an. Sie haben die historischen Denkmäler zerstört, Pagoden, Tempel und so weiter. Das ist sehr konsequent ausgeführt worden, und sie haben diese Ziele exakt herausgesucht.

FRAU WEISS: Dabei muß man hinzufügen, daß die Bombardierung der Krankenhäuser auch noch einen anderen Zweck verfolgt: Man kann die Verwundeten nicht mehr behandeln; man muß die Menschen aus Tbc- und Leprakrankenhäusern ausquartieren und an anderen Stellen unterbringen. Dabei wird leicht die Infektion ins Land getragen.

SPIEGEL: Kann die Intensivierung des Bombenkrieges gegen die vier Provinzen südlich des 19. Breitengrades nicht damit zusammenhängen, daß die nordvietnamesische Armee ihre Depots nicht mehr im ganzen Land verteilt, sondern möglichst nahe an die Demarkationslinie verlagert hat? Könnte das nicht eine Erklärung sein, bei der man ohne den Hauptvorwurf Ihres Rapports auskommt, daß die Vereinigten Staaten in Nordvietnam Völkermord, also Genozid, verüben? Oder halten Sie es wirklich für die Absicht der Vereinigten Staaten. das nordvietnamesische Volk auszurotten?

WEISS: Wenn man Genozid so analysiert, wie Sartre es bei der Schlußerklärung des Russell-Tribunals tat, so ist Genozid eine Aktion, die sich gegen die Existenzgrundlagen einer Nation richtet. Nach dem, was wir in Vietnam gesehen haben, ist es die Absicht der Bombardierungen, die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu vernichten, also Genozid zu begehen.

SPIEGEL: Sie können sich aber vorstellen, daß jemand mit der politischen Position der Vereinigten Staaten in Vietnam nicht einverstanden ist, sie nicht billigt und entschuldigt, dennoch aber daran zweifelt, daß die Amerikaner einen Krieg führen, dessen Ab. sicht der Völkermord ist?

WEISS: Ein solcher Standpunkt ist nur aus Unkenntnis des Sachverhalts heraus möglich. Sie kennen den Sachverhalt nicht. Ich finde, es ist selbstverständlich, daß ein Land, das in dem Maße angegriffen wird wie Vietnam, überall und weitgehend Verteidigungsmöglichkeiten aufbaut, daß es Luftabwehrgeschütze aufstellt, daß es seine Straßen verteidigt. Das ist eine Voraussetzung für die Existenz des Landes, das ist das Recht des Landes. Es ist in keiner Weise zu akzeptieren, daß die Vereinigten Staaten als Grund ihrer Angriffe angeben, sie bombardierten militärische Ziele.

SPIEGEL: Das führt zu einem Glaubensbekenntnis: zur Frage nämlich, ob die Amerikaner überhaupt ein Recht haben, in Vietnam Krieg zu führen.

WEISS: Das ist wirklich die Grundfrage, die man immer wieder beachten muß. Wenn man auf irgendeine Weise verteidigen will, daß die Amerikaner ein Recht haben, Nordvietnam zu bombardieren, dann wird jede Diskussion absurd. Sie haben nicht das geringste Recht dazu.

SPIEGEL: Sie sprachen davon, daß Krankenhäuser, Kirchen und so weiter vernichtet worden sind. Haben Sie in der Nähe dieser Objekte militärische Installationen beobachten können?

WEISS: Nein. Diese Objekte -- vor allem, wenn es sich um große Komplexe handelt, wie Krankenhäuser oder die sehr großen Erholungsheime für Arbeiter, Pagoden und Kirchen -- machen im allgemeinen Zielpunkte aus, die isoliert stehen. Sie befinden sich meistens außerhalb der Ortschaften und sind sehr deutlich zu erkennen.

SPIEGEL: Das Pentagon hat ein paar Luftaufnahmen veröffentlicht, aus denen zu entnehmen ist, daß die nordvietnamesische Armee ihr Kriegsgerät bewußt in der Nähe ziviler Wohnbezirke lagert (siehe Bild Seite 71). Glauben Sie nicht, daß Hanoi dieses Risiko bewußt kalkuliert, in der Hoffnung nämlich, daß die Objekte wegen der Gefährdung der Zivilbevölkerung nicht angegriffen würden -- was dann aber doch geschehen ist?

WEISS: In den ländlichen Gebieten kann davon absolut nicht die Rede sein. Natürlich gibt es dort Militärkolonnen und Luftabwehrstellungen. Aber die bombardierten Dörfer, die wir gesehen haben, haben keine militärischen Ziele enthalten. Es waren Dörfer von 50 bis 100 dieser typischen Lehmhäuser mit Strohdächern. Natürlich ist im Dorf eine Miliz stationiert. Natürlich hat vielleicht dieses Dorf ein Luftabwehrgeschütz, weil sie immer vorbereitet sein müssen, angegriffen zu werden. Aber man kann diese Dörfer nicht als militärische Ziele bezeichnen.

SPIEGEL: Aus Ihrer Dokumentation geht doch hervor, daß eine Massierung der Angriffe längs der Nationalstraßen eins und zwölf festzustellen ist. Darin heißt es zum Beispiel: Sämtliche Bäume an der Nationalstraße zwölf sind verbrannt. Hier ist doch offensichtlich eine Kolonne entlangmarschiert.

FRAU WEISS: Sie müssen es so sehen: Es ist eine Kombination von unberechtigten militärischen Aktionen, wie denen gegen die Nationalstraße eins, und einem Vernichtungskrieg.

SPIEGEL: Widersprechen Ihre Behauptungen über die Bevorzugung ziviler Ziele nicht ganz einfach der militärischen Rationalität? Welchen Sinn sollte es haben, Pagoden und Kirchen zu zerstören, wenn die Infiltration von Truppen und Militär nach Südvietnam verhindert werden soll? Sie müßten ja sonst annehmen, daß in der amerikanischen Kriegsführung nur Irre und Wahnsinnige zu entscheiden haben?

WEISS: Diese Annahme ist auch nicht so sehr weit entfernt von unserer Annahme.

SPIEGEL: Aber Herr Weiss, man müßte doch wenigstens General Abrams in Saigon militärische Rationalität unterstellen dürfen?

WEISS: Entschuldigen Sie, ich glaube, es handelt sich hier um eine ganz grundlegende ideologische Differenz zwischen dem vietnamesischen Volk und »der amerikanischen Gesellschaft. Die Amerikaner können sich aufgrund ihrer gesellschaftlichen Auffassungen gar nicht vorstellen, daß es ein Volk gibt, das unter solchen Zuständen noch weiterkämpfen kann. Sie können es nicht fassen, daß diese Menschen, die jetzt schon 20 Jahre lang im Krieg leben, noch Widerstandskraft besitzen. Sie glauben, Nordvietnam mußte zu Kreuze kriechen, wenn man dort alles zerstört. Das ist die Grundauffassung. Wir haben uns mit amerikanischen Piloten unterhalten, und diese Gespräche haben uns das bestätigt. Die Unterschiedlichkeit in der Lebensauffassung, im Erlebnis der Realität, zeigt uns, daß die amerikanischen Piloten ohne Ausnahme überhaupt nicht wußten, warum sie diesen Krieg führen.

SPIEGEL: Haben Sie selbst mit gefangenen amerikanischen Piloten gesprochen?

WEISS: Ja. Einer sagte, ich mußte auf der Karte erst nachsehen, wo dieses Land überhaupt liegt. Wir haben einen Piloten gefragt, der Bomben wirft, die in fünf oder zehn Meter Höhe explodieren. Ich habe ihn gefragt, ob er die Wirkung dieser Bomben kennt. Nein: die Wirkung kannte er nicht. Er hat sich überhaupt nicht mit dem Effekt und der Wirkung dieser Bombardements befaßt. Es zeigte sich bei diesen Männern, was man unter dem etwas abgegriffenen Begriff der Entfremdung zusammenfassen kann, daß sie nicht bewußt und verantwortlich an ihren eigenen Handlungen teilnehmen und nach einem Mechanismus arbeiten, den ich nur bei den Angeklagten im Auschwitz-Prozeß, den ehemaligen SS-Wärtern, gefunden habe. Auch diese gingen von der Anschauung aus, daß Befehle nur auszuführen und sie selbst für diese Befehle nicht verantwortlich zu machen seien.

SPIEGEL: Glauben Sie, daß der sowjetische Offizier, der jetzt in der Tschechoslowakei eine Einheit führt, sich über den Sinn seines militärischen Auftrages Gedanken macht?

WEISS: Ich halte die technokratischen Menschen, gleich aus welcher Gesellschaft sie kommen, für deformiert. Wenn sie nicht die menschlichen Aspekte behalten und sich nicht persönlich verantwortlich fühlen für die Handlungen, die sie begehen, dann haben sie ihren humanitären Wert verloren.

SPIEGEL: Das setzt aber doch voraus, daß Sie das Handwerk des Soldaten überhaupt in Frage stellen und davon ausgehen, daß jeder, der Teile einer Kriegsmaschine bedient, gleichgesetzt werden müsse mit Leuten, die in Auschwitz auf der Anklagebank saßen.

WEISS: Nein, ich möchte im Gegenteil die These aufstellen, daß diejenigen Soldaten, die heute auf der vietnamesischen Seite kämpfen, die Offiziere, die Parteikader, die wir getroffen haben, ein ganz anderes Lebensniveau haben als amerikanische Soldaten. Sie haben das Gefühl, daß sie absolut verantwortlich sind für ihre Handlungen. Die Situation ist grundverschieden, da sie sich in einem Verteidigungskrieg befinden und ihr eigenes Land schützen, während die anderen in der Position des Angreifenden sind. Aber sie machen sich über die gesellschaftlichen Konsequenzen eines Krieges Gedanken, die Amerikaner hingegen nicht.

SPIEGEL: Können wir das einmal vom Standpunkt des Opfers aus betrachten? Ist diese Unterscheidung für die zivilen Opfer des Krieges überhaupt relevant?

WEISS: Alle Opfer, sowohl die zivilen wie die militärischen, sind gleichermaßen das Resultat der völlig verantwortungslosen amerikanischen Politik. Wir vertreten die Rechtmäßigkeit der vietnamesischen Sache, wir meinen, daß der amerikanische Angriff gegen jegliche Regeln des menschlichen Zusammenlebens verstößt.

SPIEGEL: Des menschlichen Zusammenlebens oder der historischen Vernunft?

WEISS: Beides. Ich finde, das ist identisch miteinander.

SPIEGEL: Angenommen, ein Bataillon Vietcong schießt Raketen auf Saigon, die eine Zielgenauigkeit von etwa drei bis fünf Kilometern haben. Sehen Sie da einen grundsätzlichen Unterschied?

WEISS: Ja, ich sehe darin einen sehr grundsätzlichen Unterschied; denn wir müssen unterscheiden zwischen zwei verschiedenen Kriegen. Und das steht natürlich Im engen Zusammenhang mit einer moralischen Beurteilung. Es geht darum, zwischen einem gerechten und einem ungerechten Krieg zu unterscheiden. Wir vertreten die Ansicht, daß der Verteidigungskrieg, der heute von der Befreiungsfront in Südvietnam gegen die Amerikaner geführt wird, ein Krieg ist, den ich einen gerechten Krieg nenne, weil es darum geht, die grundlegenden und selbstverständlichen Rechte Vietnams zu verteidigen. Wenn heute die Befreiungsarmee in Südvietnam Saigon angreift, so ist das ein Bestandteil des Verteidigungskrieges. Die Vietnamesen haben keine andere Wahl. Ihre Aufgabe ist, Südvietnam von feindlichen Militärstreitkräften zu befreien. Und was sollen sie anderes tun als die Zentren anzugreifen, in denen diese feindlichen Kräfte stehen?

SPIEGEL: Machen Sie damit die Humanität nicht zu einer Funktion der Politik? Ist Humanität teilbar?

WEISS: Das ist eine sehr schwierige Frage. Das ist das Problem, das ja auch während des letzten Weltkrieges sehr viel diskutiert worden ist. Man kann dazu eigentlich nur zwei verschiedene Positionen beziehen: entweder die Position des absoluten Pazifismus, indem man sagt, jeder Krieg ist zu verdammen, oder die Stellung desjenigen, der für eine Veränderung der Gesellschaftsordnung eintritt und sagt: Es gibt einen gerechten und einen ungerechten Krieg.

SPIEGEL: Und wenn es einen gerechten Krieg gibt, dann muß man in Kauf nehmen, daß auch Zivilisten in größerer Zahl in Mitleidenschaft gezogen werden?

WEISS: Ja, Zivilisten auch.

SPIEGEL: Also nicht nur Kombattanten.

WEISS: Es ist heute sehr schwer zu unterscheiden, wer Kombattant und wer Nichtkombattant ist. In Südvietnam gibt es, glaube ich, nur Kombattanten, und zwar Kombattanten auf der einen Seite und Kombattanten auf der anderen Seite.

SPIEGEL: Saigon selber ist zu einem großen Teil ...

WEISS: ... ein Bordell ...

SPIEGEL: ... gut, ein nicht militantes und insofern ein ziviles.

WEISS: Natürlich. Aber es ist klar, daß auch unbeteiligte Menschen umkommen, wenn ein Land befreit werden soll. Es gibt heute in der Welt politische Situationen, in denen nicht

* Mit Truong Chin, Präsident der Netionalversammlung.

danach gefragt wird, ob vielleicht Unschuldige getötet werden. Selbst wenn wir eintreten mögen für die friedlichen Lösungen, für einen friedlichen Übergang zum Sozialismus, so müssen wir in Betracht ziehen, daß diese friedlichen Lösungen nicht überall möglich sind. Sie waren nicht möglich in Vietnam. In einer Revolution werden Immer unschuldige Menschen getötet.

SPIEGEL: Nach Ihrer Definition liegt Genozid dann vor, wenn die Lebensgrundlagen eines Volkes vernichtet werden. Sie führen aber in der Zusammenfassung Ihrer Dokumentation aus, daß die Lebensverhältnisse in Nordvietnam sich nicht verschlechtert, sondern verbessert haben.

WEISS: Das Volk hat sich nicht vernichten lassen. Aber die amerikanische Absicht war Genozid, und sie besteht noch weiter.

SPIEGEL: Sie treten in Ihrer Dokumentation den Beweis dafür an, daß in der Provinz Quang Binh, einer noch immer von den Vereinigten Staaten bombardierten Provinz, das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung sogar gestiegen ist. Sie behaupten, daß der Gesundheitsdienst in Nordvietnam besser funktioniert als je zuvor, daß die Menschenverluste bei den Bombenangriffen gering seien, daß die Wirtschaftskapazität des Landes im wesentlichen gehalten werden konnte. Fürchten Sie nicht, daß man aufgrund dieser Behauptungen zu der Überzeugung kommen könnte, daß der amerikanische Luftkrieg eben doch vorwiegend gegen militärische Ziele geführt wird?

WEISS: Das glaube ich nicht. Denn das Material, das wir zur Verfügung stellen, soll das Ausmaß der Angriffe zeigen, aber auch die Möglichkeiten des Widerstands, die sich trotz dieser umfassenden Angriffe entwickelt haben. Hätte Nordvietnam nicht Mittel und Wege zur Verteidigung gefunden, dann wäre das Volk ausgerottet worden.

SPIEGEL: In diesem Bericht wird keine Kanone zerstört, nur Kirchen und Pagoden. In diesem Bericht stirbt kein wehrfähiger Nordvietnamese.

WEISS: Die Verlustziffern werden offiziell nicht bekanntgegeben, aus erklärlichen Gründen. Sie scheinen aber -- jedenfalls nach unseren Beobachtungen in den bombardierten Gebieten -- im Verhältnis zum Angriff gering zu sein, da heute die Schutzmaßnahmen sehr gut organisiert sind. Das System der Bunker, der unterirdischen Lebensweise, hat die Menschen auf eine neue Verteidigungsart gebracht. Die Produktion wird weitergeführt, trotz schwersten Bombardements.

SPIEGEL: Die amerikanische Regierung hat wiederholt vorgeschlagen, die Anklage des Genozids von einer neutralen Untersuchungskommission prüfen zu lassen. Ist Ihnen in Hanoi erläutert worden, warum die nordvietnamesische Regierung den amerikanischen Vorschlag abgelehnt hat?

WEISS: Die Internationale Kontrollkommission hat seit 1954 wenig getan, um die amerikanische Infiltration, die Militarisierung Südvietnams, sowie die Angriffshandlungen der USA der Weltöffentlichkeit bekanntzumachen. Wir können sagen, daß sie ihre Aufgaben laut Genfer Vertrag nicht hat erfüllen können.

SPIEGEL: Das stimmt insofern nicht, als die Internationale Kontrollkommission in Nordvietnam keine Möglichkeit hatte ...

WEISS: ... aus erklärlichen Gründen. Ich möchte mich auf diese Gründe nicht näher einlassen. Aber es gibt Gründe dafür, die das Verhalten der Regierung Nordvietnams erklären.

SPIEGEL: Zu welchen Konzessionen wäre Ihrer Meinung nach die Regierung in Nordvietnam bereit, falls die Vereinigten Staateil die Bombardierung total einstellen würden?

WEISS: Die Etablierung einer Koalitionsregierung in Südvietnam.

SPIEGEL: Das wäre schon die zweite Stufe. Glauben Sie, daß Hanoi einen einseitigen Bombardierungsstopp honorieren würde?

WEISS: Ich bin überzeugt, daß in dem Augenblick, in dem die Amerikaner bereit sind, den ersten Schritt zu tun und die Bombardierung einzustellen, wirklich fruchtbare Verhandlungen beginnen können. Ich bin der Ansicht, daß der Luftkrieg zuerst völlig eingestellt werden muß, weil er durch und durch ungerechtfertigt ist, und daß Verhandlungen erst danach beginnen können.

SPIEGEL: Ihre Thesen zum Krieg in Vietnam haben auch unter Ihren Freunden in Deutschland nicht immer Zustimmung gefunden. Noch vor zwei Jahren hat Hans Magnus Enzensberger Im »Kursbuch« eine scharfe Polemik gegen Sie geführt.

WEISS: Es war eine interessante Polemik.

SPIEGEL: Wörtlich schrieb Enzensberger: »Die moralische Aufrüstung von links kann mir gestohlen bleiben. Ich bin kein Idealist. Bekenntnissen ziehe ich Argumente vor.«

WEISS: Dazu ist zu sagen, daß Enzensberger sich seit diesem Gespräch, das wir hatten, weitgehend geändert hat.

SPIEGEL: Enzensberger hat Sie damals aufgefordert, einmal zwanzig Jahre an einem revolutionären Krieg in Lateinamerika oder Vietnam teilzunehmen.

WEISS: Vielleicht nicht auf zwanzig Jahre; denn das Klima ist mir in Vietnam und in Kuba nicht besonders gut bekommen. Wir haben das Pech gehabt, immer in den heißesten Zeiten sowohl nach Kuba als auch nach Vietnam zu fahren. Das ist für Europäer sehr schwer erträglich. Aber abgesehen von der Witterungslage, vermitteln uns diese Länder Erfahrungen, die uns sehr stark verändert haben.

SPIEGEL: Haben Sie schon einmal daran gedacht, auf nordvietnamesischer Seite mitzukämpfen, so wie europäische Intellektuelle 1936 bis 1939 für die spanische Republik gekämpft haben?

WEISS: Ich glaube, ich würde mich im vietnamesischen Dschungel mit einer Maschinenpistole nicht sehr gut zurechtfinden. Vorläufig würden Freiwillige den vietnamesischen Freunden nur zur Last fallen. Ich glaube, daß die Arbeit, die ich leisten kann, auf einem anderen Gebiet liegt und auf meinen eigenen Breitengraden viel erfolgreicher sein kann. Aber einmal längere Zeit in Vietnam zu leben, um dieses Volk kennenzulernen mit seiner sehr eigentümlichen kulturellen Tradition, das halte ich für außerordentlich wichtig.

SPIEGEL: Herr Weiss, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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