Als Oscar Wilde im Sommer 1889 mit dem Dampfschiff von Köln nach Koblenz fuhr (um in Bad Kreuznach Kur zu machen), bemerkte er in einem Brief: »Der Rhein ist ermüdend, die Weinberge sind ordentlich und langweilig, und soweit ich es beurteilen kann, sind die Einwohner Deutschlands -- Amerikaner.«
Eine Schmeichelei war nicht beabsichtigt. Von Wilde stammt schließlich das Bonmot, die Amerikaner hätten, unter Umgehung jeder Zivilisation, den direkten Weg von der Barbarei zur Dekadenz gefunden. Er mag der erste gewesen sein, der mit seinem aphoristischen Instinkt seltsame Bezüge zwischen den Deutschen und dem Amerikanertum aufgespürt hat. So würde ihn der Anblick Frankfurts in diesem Jahr 1976 kaum überraschen. Er stellte höchstens fest, es sähe aus wie Baltimore ohne Hafen.
Tatsächlich hat sich kein anderes europäisches Land nach dem Zweiten Weltkrieg der Amerikanisierung mit gleicher Widerstandslosigkeit, ja Willfährigkeit hingegeben wie der westliche Teil Deutschlands. Dafür gab es viele Gründe, unter anderem solche der Vernunft. Die Volksgenossen von gestern unterwarfen sich -- erschöpft, zähneknirschend, des öfteren auch erlöst -- der so offensichtlichen Überlegenheit der demokratischen Führungsmacht. Sie suchten in der Niederlage Schutz vor der neuen Bedrohung. Sie witterten mit dem feinen Sensorium des Besiegten im Sieger den heimlichen Komplizen. Sie wollten dieses Mal bei den stärkeren Bataillonen sein, zumal ihnen damit zugleich beschieden würde, wonach sie mit so eifernder Inbrunst trachteten: nach all den Freveln endlich auf der Seite der Gerechtigkeit und der sogenannten Weitmoral zu stehen. Die GIs -- von ihren französischen Freunden nicht geliebt und von den befreiten Italienern allzu schamlos bestahlen -- kamen dem ungestümen Wohlwollen der Deutschen voller Respekt vor ihrem Ordnungssinn, ihrem Fleiß und ihrer Reinlichkeit entgegen.
Den jungen Frauen gelang hunderttausendfach, was der hoheitsvollen und schönen Königin Luise von Preußen in Tilsit gegenüber dem unerbittlichen Bonaparte versagt blieb: sie erweichten den Eroberer mit ihrem Lächeln -- dem, was es versprach und in vielen Fällen auch hielt. Die Fraternisierung fand statt. Unsere Nation, sonst an Monumenten nicht geizig, hat es sich bis heute versagt, in Dankbarkeit das Denkmal der Unbekannten Fräuleins zu errichten. Das wäre ein sinnvolleres Präsent zum 200. Geburtstag Amerikas als, sagen wir, die Sphärenmusik, die Karlheinz Stockhausen im Auftrag des -- um Einfälle nie verlegenen -- Auswärtigen Amtes für das Zeiss-Planetarium in Washington komponieren darf.
Es bedurfte ernsterer Prüfungen, um das Verhältnis zwischen Siegern und Besiegten so rasch in eine Interessengemeinschaft und binnen eines Jahrzehnts in ein offizielles Bündnis zu verwandeln. Der Schrecken des Stalinismus, die Blockade Berlins, der Marshallplan, ein vernünftig kalkulierender Wirtschaftsgeist auf beiden Seiten des Atlantiks, die Hegelsche List der Geschichte -- wie immer sich Ursachen und Notwendigkeit für die Reversion der Allianz nach 1945 begründen mögen: sie wäre kaum auf eine so behende Weise gelungen, hätten die Amerikaner in Deutschland nicht die Bereitschaft angetroffen, sich den Geist der Neuen Welt eiligst anzueignen.
Hitler hatte, wie man damals zu Unrecht vermutete, bei seinem Abgang die Uhr der deutschen Geschichte auf Null gestellt. Man glaubte, auf der tabula rasa »von vorn« anfangen zu können. In Wahrheit fangen Völker und Gesellschaften niemals von vorn an. Sie notieren, meist auf schmerzliche Weise, nur Zäsuren auf ihrem Weg. Von der »Gnade des Nullpunktes« konnte keine Rede sein. Doch der Segen der Niederlage, von dem sehr wohl gesprochen werden muß, gab den Deutschen in der Bundesrepublik Gelegenheit, am Ende jene bürgerliche Demokratie zu schaffen, die während des Intervalls von Weimar nur für eine flüchtige Stunde existiert hatte: Hoffnung, Farce und Alptraum in einem.
Zwar übernahm der Staat von Bonn, mit klugen Moderationen, das Konzept der kontinental-europäischen Demokratie, aber seine Ideale leiten sich eher von den glänzenden Prospekten der amerikanischen Gründerväter her, deren Erben in einer so offensichtlichen Übereinstimmung mit dem Glück zu leben schienen. Es ist ja auch wahr, Frankreich hat mit seinen Revolutionen zuviel und zuwenig Staat gemacht. Es produzierte Regimes und Konstitutionen in rascher Folge, von den Regierungen zu schweigen. So empfahl sich das amerikanische Vorbild als ein Muster der Verläßlichkeit. Seine Lebensfähigkeit umspannte immerhin zwei Jahrhunderte. Die Verfassung von 1787 galt unverändert. Nirgendwo schienen die Menschenrechte, die Grundfreiheiten und Sicherungen bürgerlicher Existenz fester garantiert. Hier zeigte sich eine Kontinuität an, die man selber entbehrte und um die man das -- angeblich geschichtslose -- Amerika beneiden mochte.
Für die Mehrheit unserer Landsleute war es wichtiger, daß sich Jeffersons Grundsätze -- unter denen die »Verfolgung des Glücks« die attraktivste war -- in einer Zivilisation des Wohlstandes ausdrückten, die dem Fleißigen nicht nur das tägliche Brot, sondern den Überfluß bescherte. Die Deutschen, wie andere Europäer auch (nur sie mit dem größten Enthusiasmus), überließen sich den Segnungen der neuen Gesellschaft einer neuen Welt wie Kinder der Weihnachtsüberraschung. Selig wie ein Baby nuckelte die Nation forthin an der Coca-Cola-Flasche, warf sich in Jeans und tauschte verzückt den Klampfenton der Volksmusik für die Gitarrenklänge der folkmusic ein. Man las Hemingway statt Kolbenheyer und studierte die Regeln des amerikanischen Managements mit dem gleichen Eifer wie Theologen einst ihre lateinischen Kirchenväter. Jedermann sprach nur noch in Varianten von Brooklyn-Deutsch oder Geiselgasteig-Amerikanisch. Man gewöhnte sich daran, am Montag den SPIEGEL zu kaufen, der die Abstammung von »Time-Magazine« nicht verleugnet. Eine Elite machte sich zur »Grand Tour« in die Vereinigten Staaten auf -- der großen Bildungsreise, die Väter und Großväter noch als humanistische Pilgerschaft nach Rom und Hellas verstanden hatten.
Jene Generation, die der schmächtigen Bundesrepublik Form, Substanz und ein spezifisches Gewicht gab, wurde von Amerika und seinem Wesen tief imprägniert. Es gelang nicht nur eine deutsche Imitation des großen Bruders, sondern die lustvolle Identifikation. Die amerikanischen Rationen an
Moral, die den Deutschen nach 1945 verabreicht wurden, fielen zunächst reichlicher aus als die Zuteilungen von Margarine und Brot. Jene sittliche Emphase, mit der sich die Sendboten der mächtigsten Demokratie der Erde auf das Gewissen der Deutschen gestürzt hatten, war bei bestem Willen nicht durchzuhalten. Auch eine Weltmacht wider Willen kann dem Schicksal nicht entgehen, zu dem jede Macht verurteilt ist: nämlich Unrecht zu tun und schuldig zu werden. Man kann zugunsten der Amerikaner sagen, daß sie sich leidenschaftlicher gegen diesen Zwang gewehrt haben als jedes andere Volk. Man kann, wenn man will, seine fortgesetzte Weigerung. die Konsequenz des Weltmachtauftrags anzunehmen, auch als Heuchlertum betrachten, und Heuchelei ist, wie man weiß, nichts anderes als die Notwehr eines geschädigten oder versklavten Gewissens.
Die Ursache des Dilemmas muß ohne Frage bei der Idee der demokratischen Weltmission gesucht werden, die so alt ist wie die Unabhängigkeit Amerikas selber -- und so alt wie das kontrapunktische Konzept des Isolationismus. Der radikale Thomas Paine, bis zum Ende seiner Tage so sehr Europäer wie Amerikaner, schnaubte in seinen dröhnenden Polemiken nicht nur gegen die Vorherrschaft Georgs III. über die amerikanischen Kolonien, sondern gegen die Throne aller Tyrannen. Jefferson schrieb an einen Freund jene pathetischen Sätze, deren Prophetie auf eine schreckliche Weise pervertiert wurde: »Die Bewahrung des heiligen Feuers ist uns durch die Welt anvertraut, und die Funken, die es versprüht, werden immer dazu dienen, es auf anderen Teilen des Globus neu zu entfachen.«
D as Feuer von My Lai hatte der serene
Aufklärer von Monticello nicht vorbedacht. John F. Kennedy wies das Konzept einer Pax Americana noch zurück, als er sich halb schon anschickte, Berater-Truppen in die Reisfelder Indochinas zu schicken. Seit Vietnam trifft gewiß nicht mehr zu, was Henry Steele Commager noch 1950 scharfsinnig und gutherzig zugleich notieren konnte: daß zwei Weltkriege in Amerika »weder den Sinn für die Sünde noch das Bewußtsein des Übels geweckt« hätten, die in der alten Welt »beinahe instinktiv« gegeben seien. Der Krieg in Südostasien war jener »Bellum Americanum«, der sich durchaus ins Bild der Pax Americana fügt, die trotz Kennedy existiert und der eine fragwürdigere Pax Sovietica entspricht. Auch der Friede des Römischen Imperiums war nur eine Kette regionaler Konflikte.
Die Amerikaner lehnen es ab, die Römer des 20. Jahrhunderts zu sein. Sie haben keineswegs vergessen, daß Edward Gibbons »Niedergang und Fall des Römischen Imperiums« die Sensation des Buchmarktes im Jahr der Unabhängigkeit war. Die Gründerväter waren aufgebrochen, die Tugenden der Republik ein für allemal gegen die imperiale Versuchung zu schützen. Es ist ihnen gewiß nicht geglückt. Man kann ihnen keinen Vorwurf daraus machen: Es gibt keine geglückte Geschichte. niemals und nirgendwo. Ideale erreichen die Wirklichkeit in keiner Gesellschaft ohne Versehrung.
Doch die politische Kultur der ersten Jahrzehnte wirkte auf Amerika, trotz tausendfachen Verrats, fort bis auf den heutigen Tag. Das Niveau der Korrespondenz zwischen Thomas Jefferson und John Adams -- die einen Staat lenkten, während europäische »Philosophen« von gleichem Rang bei Hof höchstens Zutritt hatten -- blieb nicht ohne Folgen. Es setzt nach wie vor Signale für jede der Generationen, die in immer neuen Aufbrüchen des amerikanischen Idealismus »heim zu den Vätern« drängen (so wie Wellen der Evangelisation die Seele des Landes in Abständen von zehn oder zwanzig Jahren überschwemmen).
Unterdessen beginnt Amerika auch die Dimension des Tragischen zu begreifen, das die Schutzheiligen der Revolution von ihren Küsten fernzuhalten suchten. In der Bundesrepublik wie anderswo hat man es eher mit Schadenfreude beobachtet. Sofern man nicht auch bei uns die absurde Meinung teilte, daß der Weltkommunismus mit Napalm und einer verordneten »Dorfdemokratie« im Dschungel zu bekämpfen sei, hat man das moralische Desaster händereibend zur Kenntnis genommen. Eine Avantgarde junger Deutscher, die glaubt, die Schuld der Väter abgeschüttelt zu haben (und in der Tat oft eine ruchlose Art von Unschuld demonstriert), konstatierte nicht ohne Vergnügen, daß sich die Weltmoral endlich auch von Amerika abgewandt hat.
Dabei wurde übersehen, daß der Kampf gegen den Krieg in Vietnam vor allem von Amerikanern, und nicht in erster Linie in deutschen Demonstrationszügen, geführt und gewonnen wurde. Sie will nicht bemerken, daß Watergate die Probe aufs Exempel für die innere Widerstandsfähigkeit einer Demokratie war, die zugleich dazu verurteilt ist, als Weltmacht funktionsfähig zu bleiben. Sie will es nicht wahrhaben, daß die zwanzig Millionen Amerikaner, die nach dem Standard des Landes am Rand des Existenzminimums vegetieren, im Vergleich mit einer Mehrheit sowjetischer Bürger vermutlich eher besser als schlechter dran sind.
Sie zerbricht sich nicht darüber den Kopf, daß sich die Rassenfrage in einem Prozeß -- nicht der Integration, so doch der bürgerlichen Gleichberechtigung -- trotz aller Krisen entspannt hat. Sie macht sich kein Herz daraus, daß man als Deutscher besser die Zunge im Zaum hält, ehe man hochfahrend vom Problem der Minderheiten redet: Wir haben eines auf die radikalste Art gelöst, ein für allemal, und mit einem anderen -- dem der Gastarbeiter -- bieten wir kaum ein Beispiel für die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft. Der ausgestreckte Zeigefinger ist nicht zu übersehen: aber die Indianer... Das ist wahr. Auch Amerika ist nicht länger bereit, die Ausrottung der Urbevölkerung vom schönen Schein einer patriotischen Historie überglänzen zu lassen. Es hat, selbst was die Rothäute angeht, die Dimension der Schuld entdeckt.
Sache der aufgeklärten Linken wäre es,
jenen ideologischen Anti-Amerikanismus zu überwinden, der in manchen Bereichen der Gesellschaft mit dem hysterischen Anti-Kommunismus zu konkurrieren beginnt, ja, der deprimierende Ähnlichkeiten mit dem Antisemitismus der gezähmten »bürgerlichen« Art aufweist: ein eher abstrakter Haß, der auch ein Spiegel des Selbsthasses ist; Spätfolge des Jahres 1945; Verlust der Identität; Übertölpelung des eigenen schlechten Gewissens; Korrektur einer nicht zu charaktervollen Hingabe; auch alter Kulturhochmut in linker und rechter Version, zu dem Europa, Deutschland zumal, nicht den geringsten Anlaß hat, dem zwei Katastrophen das Scheitern der eigenen Ordnung so schrecklich bestätigen.
Wir sollten das Amerikanertum in uns nicht auf Kosten der USA und ihrer Bürger niederknüppeln. Das scheint mir nicht vernünftig zu sein. Wir bleiben auf Amerika angewiesen. Warum sollten wir uns dann nicht die Mühe machen, es wenigstens zu verstehen? Auch der Mächtige verdient Gerechtigkeit, und die Schuld sollte jene Sympathie wecken, um die wir Deutschen vor drei, vor zwei Jahrzehnten bei aller Welt so flehentlich gebettelt haben.
Immerhin existierte in der Geschichte
noch niemals eine Weltmacht, die den Schutz menschlicher Grundrechte so ernst genommen und mit ähnlichem Erfolg versucht hat wie Amerika. Die Staaten, in denen bürgerliche Freiheiten garantiert sind, lassen sich ohnedies an zwei Händen aufzählen. Der »amerikanische Traum« mag, alles in allem, dennoch gescheitert sein. Jede Utopie ist zum Scheitern verurteilt, und eine Utopie war und ist es: dieser Entwurf einer neuen Gesellschaft auf einer neuen Erde. Er wurde geformt von den rigorosen Hoffnungen der puritanischen Erlösungssucht, die den Segen des Herrn noch in diese Welt herabzwingen wollte, und vom pädagogischen Elan einer Generation rationalistischer Aufklärer. Sie waren die Erben Europas. Das verwandelte Erbe kehrte zu uns zurück, und mit ihm wenigstens eine Ahnung von der Kraft des amerikanischen Idealismus, der Jefferson sagen ließ, sein Land sei die erste Hoffnung der Welt, und Lincoln, es sei die letzte.
Weiß man eine bessere? Europa könnte sie, vielleicht, schaffen, vorausgesetzt, daß es die Bindungen an Amerika nicht jenen konservativen und rechten Formationen überläßt, die nicht zögern werden, den großen Bruder in allen seinen Irrtümern und Verstrickungen zu bestärken. Wenn die Linke und die Mitte der Bundesrepublik die amerikanisch-deutsche Partnerschaft Franz Josef Strauß ausliefern sollten, dann gingen flugs die Schmiede der deutsch-amerikanischen Achse ans Werk. Die tieferen Bindungen der Vereinigten Staaten an Frankreich und England würden ihnen wohl in die Quere kommen. Doch mit dem bloßen Versuch wäre der europäische Traum zu Ende, noch ehe er begonnen hat.