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OSTBLOCK / MOSKAU-PEKING An alle

aus DER SPIEGEL 30/1963

Der erste Funkspruch der siegreichen Sowjetmacht lautete: »An alle!« Es war der Aufruf zur Feuereinstellung an den Fronten des Ersten Weltkrieges.

Fast ein Menschenalter danach, am Sonntag vorletzter Woche, funkten die Enkel jener revolutionären Großväter abermals ihr »An alle!« in die Welt hinaus. Diesmal kündigte es jedoch eine neue Runde im Kalten Krieg zwischen Moskau und Peking an.

Vier Stunden lang verlas Radio Moskau »An alle Kommunisten in der Sowjet-Union« den Antwortbrief des sowjetischen Zentralkomitees auf das Schreiben der chinesischen KP vom 14. Juni (SPIEGEL 26 und 29/1963).

In den Straßen dar sowjetischen Hauptstadt bildeten sich Gruppen erregt diskutierender Menschen. In beschwörenden Worten malte der Brief die düsteren Folgen einer kommunistischen Spaltung aus.

Der Aufruf schloß: »Alle Werktätigen der Sowjet-Union werden sich noch enger um ihre teure Kommunistische Partei und deren Leninsches Zentralkomitee scharen.«

Der dramatische Einheitsappell war jedoch nicht nur für die rund zehn Millionen sowjetischer KP-Genossen bestimmt. Seine Veröffentlichung am Vorabend der Moskauer Ost-West-Verhandlungen über ein Atomversuchsverbot

sollte vor allem auch den Westen überzeugen, daß es Chruschtschow in seinem Streit mit China ernst meint.

Chruschtschow - seit seinem glücklosen Berlin-Ultimatum und dem ruhmlosen Kuba-Abenteuer ständig auf der Jagd nach einem durchschlagenden außenpolitischen Erfolg - hat es meisterhaft verstanden, die westliche Angst vor dem asiatischen »Kommunismus in seiner brutalsten Form« ("Die Welt") für seine Zwecke auszunutzen. Darum betreibt der Kremlherr seit Jahren eine Flüsterkampagne gegen seinen Konkurrenten Mao, den er im Westen als kriegslüsternen Abenteurer und stalinistischen Bürgerschreck anzuschwärzen sucht.

Mindestens dreimal schöpften westliche Ost-Experten in der Vergangenheit aus trüben kommunistischen Quellen Einzelheiten über den angeblichen Kriegskurs der chinesischen Kommunisten:

- Im Februar 1961 wurde dem britischen Sowjetologen Edward Crankshaw ein kommunistischer Geheimbericht zugespielt, aus dem hervorging, daß die Chinesen einen Atomkrieg als unvermeidlich erachteten*.

- Im Juli 1961 zitierte der britische Publizist und Trotzki-Biograph Isaac Deutscher aus einem Geheimbericht des Kreml, daß die Chinesen seit 1949 ständig den Präventivkrieg gegen den Westen gepredigt hätten.

- Im April 1963 machte der Moskau -Korrespondent der römischen KP -Zeitung »L'Unità«, Giuseppe Boffa, mit der Behauptung Schlagzeilen, Chruschtschow werde von einer neostalinistischen Fronde im Kreml gedrängt, mit Mao Frieden zu schließen und gegenüber dem Westen einen härteren Kurs einzuschlagen.

Am vorletzten Sonntag ließ Chruschtschow das Visier herunter. Unter seinem Vorsitz formulierte das sowjetische Parteipräsidium offen die bisher schärfsten Anklagen im roten Bruderzwist, die allerdings auf ähnlich zweifelhaften Quellen fußten. Das war das Bild, das die Sowjets von den kriegslüsternen Chinesen entwarfen:

Einige »verantwortliche chinesische Funktionäre« hätten von der Möglichkeit gesprochen, in einem Krieg Hunderte von Millionen Menschen zu opfern. Die siegreichen Völker - so werde in einer chinesischen Broschüre zum 90. Geburtstag Lenins behauptet - würden nach einem Atomkrieg »in äußerst raschem Tempo auf den Trümmern des untergegangenen Imperialismus eine tausendmal höhere Zivilisation, ihre wahrhaft herrliche Zukunft« errichten.

Tatsächlich handelt es sich jedoch bei »diesem perversen Satz«, den auch der deutsche Polit-Professor Klaus Mehnert in seinem Bestseller »Peking und Moskau« als »bemerkenswertes Zeugnis« für die Gefühlsroheit der chinesischen Kommunisten zitiert, um eine aus dem Zusammenhang gerissene blumige chinesische Version einer gemeinsamen kommunistischen Grundüberzeugung: daß ein Atomkrieg unausweichlich zum Untergang des Kapitalismus führen müsse.

Chruschtschow am 8. Juli 1961: »Die Menschheit wird dann (in einem künftigen Atomkrieg) ein für allemal mit der Ordnung aufräumen, die Eroberungskriege gebiert.« Nichts anderes hatten auch die Chinesen in ihrer Broschüre behauptet.

Ähnlich verhält es sich mit jenem vielzitierten chinesischen Ausspruch von den »Hekatomben von Menschenopfern« in einem neuen Krieg. Auch er geht auf eine niemals ganz aufgehellte Quelle zurück**.

Nach einem Bericht der »New York Times« soll Tito am 15. Juni 1958 vor Bergarbeitern der istrischen Stadt Labin gesagt haben: Die Chinesen prahlten gern mit ihrer Bevölkerung von 600 Millionen, in der sie die Garantie für den Sieg in einem Krieg sähen. Sie rechneten damit, daß bei einem Verlust von 300 Millionen Chinesen noch immer 300 Millionen übrigblieben.

Diese reichlich dunkle Äußerung des jugoslawischen Marschalls wird jetzt in dem sowjetischen Brief vom 14. Juli »einigen verantwortlichen chinesischen Funktionären« in den Mund gelegt.

Es waren auch Jugoslawen, die aussprachen, worum es Chruschtschow geht, wenn er das chinesische Kriegsgespenst dauernd beschwört.

Noch am gleichen Sonntag, an dem Radio Moskau seinen Aufruf »An alle!« verbreitete, schrieb die jugoslawische Nachrichtenagentur Tanjug: »Es liegt nun an den Westmächten und in erster Linie an den Vereinigten Staaten, ihren Friedenswillen konkret zu beweisen und auf diese Weise Chruschtschow recht zu geben. Die Atomgespräche in Moskau würden ihnen dazu Gelegenheit bieten.«

* Edward Crankshaw: »The New Cold War«. Penguin-Books, Harmondworth; 174 Seiten; 2 1/2 Shilling.

* Richard Löwenthal: »Chruschtschow und der Weltkommunismus«. Kohlhammer Verlag, Stuttgart; 245 Selten; 9,80 Mark.

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