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SICHERHEIT »An den Ohren gezogen«

Angriffe auf Politiker stellen die Personenschützer vor immer schwierigere Aufgaben. Kritiker klagen über Personalmangel und eine Überforderung der Truppe.
Von Petra Bornhöft, Michaela Schießl und Andreas Ulrich
aus DER SPIEGEL 25/2004

Guido Westerwelle sah die Gefahr nicht kommen. Entspannt saß er am Mittwoch vorvergangener Woche bei Bier und Bratwurst in Gera und lauschte der Rede des thüringischen FDP-Landeschefs Uwe Barth. Niemand der 250 Gäste achtete auf die Frau, die sich Westerwelle näherte - bis es zu spät war. Um 16.50 Uhr sprang Silke W. angetrunken an den Tisch des FDP-Parteichefs und schlug nach dessen Gesicht.

Sie traf nicht, doch der Sicherheitsbeauftragte der FDP-Bundestagsfraktion, Jörg van Essen, war alarmiert. In einem Brief an Innenminister Otto Schily verlangte er - nicht zum ersten Mal - Personenschutz für Guido Westerwelle bei öffentlichen Veranstaltungen.

Schließlich war die Gera-Attacke die dritte innerhalb kürzester Zeit. Bereits am 28. März musste van Essen eine Frau aufhalten, die sich im Plenarsaal des Bonner Bundeshauses in verdächtiger Weise Westerwelle und dem neben ihm sitzenden künftigen Bundespräsidenten Horst Köhler genähert hatte. Und am 19. Mai flogen dem FDP-Chef auf einer Wahlveranstaltung in Mönchengladbach Farbbeutel und Marmelade entgegen - ein Personenschützer, der ausnahmsweise an Westerwelles Seite wachte, war machtlos.

In dem Brief an Schily beklagte van Essen den mangelhaften Schutz für den Oppositionspolitiker. Das zuständige Bundeskriminalamt (BKA) halte »es nicht einmal für nötig, auf Gesprächswünsche einzugehen«. Trotz des Vorfalls in Gera, bei dem die Angreiferin Westerwelle »an den Ohren gezogen« habe, musste sein Parteivorsitzender am Abend ohne Schutz zu einer weiteren Veranstaltung gehen. Das BKA, klagt van Essen, komme »seiner Verpflichtung, den Mitgliedern des Verfassungsorgans Bundestag die ungehinderte Ausübung ihres Mandats zu gewährleisten, nicht nach«.

»Der Personenschutz wird nicht nach Bedarf organisiert, sondern nach vorhandenem Personal«, mutmaßt van Essen - und spricht damit etwas an, was Polizei-Gewerkschafter seit langem beklagen: die Überlastung der Personenschützer. Zu viele Schutzpersonen, zu wenig Personal und zu schwache Vorgesetzte machten es den Leibwächtern schwer, ihre Aufträge zu erfüllen. »Die BKA-Führung hat dem Bundesinnenminister stets eine Sicherheit suggeriert, die nicht den Tatsachen entspricht«, sagt Wilfried Albishausen, Sprecher des Bundes Deutscher Kriminalbeamter. Er macht ein »gewisses Hofschranzentum«

innerhalb der Hierarchie aus, da werde »alles schöngeredet«. Es sei eine »gefährliche Situation«, wenn die Sicherungsgruppe immer mehr belastet werde, ohne dafür einen personellen Ausgleich zu schaffen.

In der gut 400 Mann starken Berliner Abteilung des BKA sind nicht mal die Hälfte der BKA- und Grenzschutzbeamten als persönliche Begleiter für Spitzenpolitiker eingesetzt. Für Sicherheit sorgen außerdem Vorabkommandos und Aufklärer, die das Umfeld prüfen.

Die Anforderungen steigen ständig. So wurde die Zahl der Bodyguards von Ulla Schmidt nach einer Morddrohung aufgestockt, Angela Merkel bekam ein eigenes Rund-um-die-Uhr-Kommando. Und seit Franz Müntefering den Parteivorsitz von Gerhard Schröder übernahm, muss auch er geschützt werden. Zusatzpersonal, beklagen Insider, bleibt aus - und das seit Jahren.

Der Mangel ist permanent. Die Gelder, die nach dem 11. September für verstärkte Sicherheit bereitgestellt wurden, seien zum Großteil in die Terrorismusbekämpfung geflossen, beanstanden Personenschützer. So wurde die Sollstärke der Sicherungsgruppe nie erreicht, ergab 2003 sogar eine interne BKA-Studie.

Dementsprechend groß ist der Frust in der Kaserne an der Berliner Bouchéstraße. Ungeduldig warten die Leibwächter auf einen versprochenen BGS-Nachschub von 30 Mann - vergebens. Nun wurden immerhin 10 neue Grenzschützer avisiert, doch diese Verstärkung wird - so sie denn kommt - sofort für das neue Kommando des künftigen Bundespräsidenten Horst Köhler gebraucht.

Die Entlastung, auf die besonders die so genannten Springer gehofft haben, bleibt aus - zumal auch Altpräsidenten weiter geschützt werden. Die Springer werden sich wie gehabt zu zehnt um derzeit acht Politiker kümmern müssen, die bei speziellen Anlässen begleitet werden sollen, wie jetzt Westerwelle. Kommt es bei den Springern zu Engpässen, müssen Kollegen von der Aufklärung ran - und das, obwohl auch dieses Referat mit 30 statt rund 50 Leuten schwer unterbesetzt ist. Deren eigentliche Arbeit bleibe immer öfter liegen, klagen die Spezialisten.

Längst fühlen sich Mitglieder der Schutzgruppe vernachlässigt. Die Identifizierung mit der Truppe weicht gelegentlich persönlichen Interessen. So rechnete ein Sachgebietsleiter jahrelang zu viele Überstunden ab. Als die Sache schließlich aufflog, wurde der Mann stillschweigend versetzt - ohne ein Disziplinarverfahren gegen ihn anzustrengen. Angeblich habe sich der Verdacht nicht bestätigt.

Dass intern manches nicht stimmt, darauf deutet auch ein Vorfall aus New York Ende 2003 hin, wo das Schutzkommando von Außenminister Joschka Fischer auf Berliner Kollegen traf. Im Hotel versuchte der - wie immer bewaffnete - Fischer-Kommandoführer, die Zimmertür seiner ehemaligen Geliebten aus dem anderen Kommando aufzutreten. Er wurde überwältigt. Der Mann hatte die Frau schon vorher, als sie noch in seiner Truppe war, bedrängt. Statt das Problem zu lösen, wurde die Frau versetzt. Erst als die Frauenbeauftragte einschritt, wurde der Mann vom Dienst freigestellt und ein Disziplinarverfahren eingeleitet.

Der Dauerstress der Bodyguards fordert seinen Tribut. Der Job ist aufreibend: Wer einen Rund-um-die-Uhr-Schützling, eine so genannte »Einser-Person« (siehe Grafik) wie etwa Joschka Fischer, den Kanzler oder Edmund Stoiber begleitet, kann sich von seinem Privatleben zeitweilig verabschieden. Zwar können die Beamten je nach Lage Überstunden am Block abbummeln, doch wer ist nach dem vierten 18-Stunden-Tag in Folge noch auf der Höhe der Aufmerksamkeit?

Auch in körperlicher Hinsicht liegt bisweilen einiges im Argen. »Die Vorstellung, dass es sich bei uns um durchtrainierte Experten im Nahkampf handelt, ist ein Ammenmärchen«, sagt ein Mitglied der Gruppe. Viele Kollegen seien nicht mehr fit genug, manche sogar übergewichtig. Zu wenig Zeit bleibe für den vorgeschriebenen Sport - kontrolliert wird ohnehin kaum.

Manche Kommandos, wie etwa das als hoch motiviert und etwas elitär geltende des Kanzlers, organisieren sich ihren Sport selbst. Doch auch diese stolze Truppe ist vor Peinlichkeiten - wie der Ohrfeige für den Kanzler in Mannheim - nicht gefeit.

Als ernster gilt intern ein Vorfall auf dem SPD-Sonderparteitag am 21. März im Berliner Estrel-Hotel. Verdutzt sahen die Beamten zu, wie sich mitten in Schröders Rede eine Dachluke öffnete und sich ein Greenpeace-Aktivist am Tau herunterließ: Ein friedlicher Protest gegen den Export der Hanauer Atomfabrik nach China - aber genauso gut hätten sich Attentäter abseilen können.

Die Schuld an dem Sicherheitsdesaster lag bei der Berliner Polizei, die für den Außenschutz des Gebäudes zuständig war. Dennoch wird gestritten, ob das Kommando richtig reagiert hat. Schröder wurde viel zu spät gedeckt, sagt ein BKA-Beamter. Wir haben die Greenpeace-Mitarbeiter erkannt und besonnen reagiert, heißt die offizielle Lesart. So oder so: Der Kanzler soll »stinksauer« gewesen sein.

Innenministerium und BKA schweigen zu solchen Vorgängen - wegen der besonderen Sensibilität äußere man sich zu Sicherheitsfragen prinzipiell nicht. Doch die Beschwerden haben den neuen BKA-Präsidenten Jörg Ziercke bereits erreicht. Jetzt sollen Gespräche geführt werden. Sogar der Vorschlag, den gesamten Personenschutz an den BGS abzugeben, wird diskutiert. Die 40 000-Mann-Truppe sucht nach dem Wegfall der Grenzkontrollen ohnehin neue Aufgaben. PETRA BORNHÖFT,

MICHAELA SCHIEßL, ANDREAS ULRICH

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