An der Richtstatte kein Hitler-Gruß
Der abgeschlagene Kopf fiel in einen Weidenkorb. die Augen weit offen. Weil die Verurteilten auf dem Schafott nicht festgeschnallt wurden, konnte sieh der Körper im Tode ein letztes Mal frei bewegen. Der Torso bäumte sich auf, die Beine zuckten und schleuderten die Holzpantinen fort.
Aus dem Rumpf spritzte das Blut in hohem Bogen in den Gully. Über diesen häßlichen Eisenrost drapiert ein Justizbeamter jetzt alle Tage die Farben Schwarz-Rot-Gold und den Berliner Bären. Der Mann tut das aus eigenem Antrieb.
Er könnte den immergrünen Kranz und seine beiden Schleifen auch irgendwo anders hinrücken, aber das Abflußrohr im Steinfußboden der Richtstätte stört ihn. Es erinnert gar zu sehr daran, daß in Berlin-Plötzensee wirklich geköpft worden ist, mindestens dreitausendmal und immer streng im Rahmen der geltenden Gesetze. legal, »justizförmig«, zwölf Jahre lang.
Wer hier im Namen des Volkes vom Leben zum Tode gebracht wurde, dem zeigte sieh der Staat in aller Macht und Herrlichkeit. Der Henker im Cut, seine drei Knechte im schwarzen Anzug. Der Herr Kammergerichtsrat in roter Rohe, der Staatsanwalt und der Pfarrer im schwarzen Talar. die Justizbeamten im jagdgrünen Tuch, der Anstaltsarzt im weißen Kittel, die Gäste in Uniform. Auf dem Tisch ein Kruzifix, an der Wand zwei hohe Kandelaber.
Nicht irgendein KZ-Wir ter war am Werk. sadistisch veranlagt und womöglich betrunken. An diesem Todesort herrschten Recht und Ordnung, war jeder Schritt durch eine Vorschrift festgelegt. Für die Gäste gab es Eintrittskarten und den Hinweis: »An der Richtstätte wird der deutsche Gruß vermieden.« Vom Opfer erwarteten die Beamten, daß es sich dem Protokoll gemäß verhalte, »ruhig und gefaßt« Nur selten fiel einer aus der Rolle.
»Ich erinnere mich an keinen, der geweint hat, geschrien oder sieh gewehrt«, sagt mir der evangelische Pfarrer Hermann Schrader, 80, der damals ein dutzendmal dabeisein mußte.
»Mancher war auch dadurch beruhigt, daß man ihm sagen konnte: Ich stehe hinter Ihnen, bis das Fallbeil fällt.« Das datierte nicht lange. Vom Kommando »Scharfrichter. walten Sie Ihres Amtes!« bis zur Meldung »Herr Staatsanwalt. das Urteil ist vollstreckt« vergingen nur Sekunden -- in Friedenszeiten 20 bis 25, im Krieg nur noch sieben oder gar vier. Für jeden Toten hat ein Beamter die Zeiten in ein Formblatt DIN A 5 eingetragen, das immer noch aufbewahrt wird.
Was damals Recht war und laut Filbinger heute nicht Unrecht sein kann, ist jetzt in einer »Gedenkstätte« zu besichtigen. Aus dem alten Zuchthaus Plötzensee, das zu Zeiten Wilhelms 1. gebaut wurde, um Untertanen wie August Bebel und den Hauptmann von Köpenick auch durch »vaterländischen Unterricht« zu bessern, hat der Berliner Senat das flache Henkersbaus mir seinem separaten Eingang herausgetrennt. Diese Umwidmung erfolgte vornehmlich zu Ehren der hier gestorbenen 89 Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944.
Scharfrichter Wilhelm Friedrich Röttger »arbeitete« bei ihnen nach dem »österreichischen System« -- auf ausdrücklichen Wunsch Ritters. In einem Interview hat der Henker. der den Krieg und die Flucht Richtung Westzone heil überstand, später erläutert, was das hieß: »Den Verurteilten wurde die Schlinge um den Hals gelegt, dann wurden sie hochgehohen. Dann habe ich die Schlinge, wie man einen Rock aufhängt, an einem Haken befestigt.«
Die Besucher dürfen die handgeschmiedeten Haken, hin- und herschiebbar auf einem Eisenträger, nur sehen, nicht anfassen. Für den Führer
* Besichtigung durch Sowjet-Soldaten nach Kriegsende.
wurde die Erdrosselung seiner adligen Widersacher gefilmt.
Von den rund dreitausend anderen, die in diesem Geviert sterben mußten, gibt es oft nicht einmal ein Photo. Der älteste, ein Arbeiter, war 83 Jahre, der jüngste gerade siebzehn. In Berlin-Plötzensee starben 41 Ehepaare, die voneinander nicht Abschied nehmen durften. Mütter, die in der Haft ein Kind geboren hatten, wurden nicht geschont. Recht ging vor Gnade. 250 Frauen wurden geköpft.
Ihnen schnitt ein alter Schuster am letzten Abend die Haare kurz, um den Hals freizulegen. Ein Gefängnispfarrer erinnerte sich daran: »Der Haarschnitt war ein Vorrecht des Schusters. Er tat es mit Gleichmut, ohne Gemütsbewegung und mit einer gewissen stumpfsinnigen Befriedigung.«
Richtige Freude am Töten hatten nur wenige Beamte. Der Sanitätswachtmeister des Hauses III etwa, den der ehemalige Häftling Viktor von Gostomski, jetzt Verleger in Weiden/ Oberpfalz, nicht vergessen hat. Wer auf seine Hinrichtung wartete -- und das waren in Plötzensee oft mehr als 300 Menschen -, dem gab dieser Wärter keine Medikamente: »Dir wird ja sowieso die Birne abgehackt.«
Für die Justizwachtmeister, die jeweils die Todeskandidaten aus den Zellen zur Richtstätte führten, gab es zur Belohnung pro Kopf acht Zigaretten. »Einmal hörte ich«, erinnerte sich Herr von Gostomski, »wie sich zwei Wachtmeister stritten. Der eine warf dem anderen vor, sich beim Hinrichtungsdienst vorgedrängt und ihn damit um die Zigaretten betrogen zu haben.«
Natürlich mußten die Justizbeamten des NS-Strafvollzugs auch mal hinlangen, wenn ein junger Häftling in Panik geriet, und dem schreienden Todeskandidaten ein Handtuch in den Mund stopfen. Ein Vorwurf ist ihnen daraus nicht gemacht worden. Die meisten blieben auch nach dem Krieg in ihrem Beruf. »Das waren doch alles preußische Beamte, die ihre Befehle ausführten«, erläuterte mir ein Gestapohäftling und Major a. D. die Lage, »die habe ich nie als Feinde betrachtet.«
Und die Henker? »Nein, natürlich auch nicht. Mir ist egal, wer meinen Schwiegervater hingerichtet hat. Haß und Ekel empfinde ich nur gegen Leute unseres Standes, die sich uns versagt haben« -- uns, den Männern vom 20. Juli, die übrigens die Todesstrafe auch nicht hatten abschaffen wollen.
Im Grundstein des Mahnmals Plötzensee ist eine Urkunde eingemauert, auf der steht, daß an dieser Stelle »Hunderte von Menschen« durch »Justizmord« ums Leben gekommen sind. Aber Mörder hat es offenbar nicht gegeben. Ein jeder tat nur seine Pflicht.
* Oben die Schmiedehaken. an denen die widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 gehenkt wurden.
Die Richter sprachen Recht. Sie schickten, wie das Gesetz es befahl, aus vielen Gründen auf das Schafott: wegen Mordes und Totschlags, Sittlichkeitsverbrechen, Unzucht, Hoch- und Landesverrats« Raubes, Plünderei, Diebstahls, Feldpostmarderei« Heimtücke, Rundfunkverbrechen, Untergrabung der Manneszucht, Bruch der Gefolgschaftstreue, Verbreitung hämischer Parolen, deutschfeindlicher Äußerungen.
Die Zeitungsausträgerin Emmi Zehden aus Berlin-Gatow starb, weil sie der Vereinigung ernsthafter Bibelforscher angehörte und dadurch die Wehrkraft zersetzte. William Otto Bauer, Reisender in Kühlmaschinen, kam unter das Beil, weil er 1942 zutreffend analysiert hatte, daß es nur noch zwei Möglichkeiten gäbe: Entweder macht Hitler uns tot, oder wir machen Hitler tot. Er wurde von Amts wegen »für immer ehrlos« -- genau wie jener Postbote, der sechs Zigaretten aus einem Feldpostpäckchen stahl und dafür den Kopf verlor.
Die ganze »zivile« Justiz arbeitete dem Totenhaus zu, nicht nur Freislers Volksgerichtshof, wie die Rechtswahrer heutzutage gern behaupten. Kein Richter. kein einziger, ist dafür bis heute zur Rechenschaft gezogen worden. Alle bekommen sie ihre Pension.
Warum sollte ausgerechnet der Scharfrichter dran glauben? Hat er mehr verbrochen? »Ach, wissen Se, der Herr Röttger, das war ein großer, starker Mann«, sagt seine Nachbarin, die jetzt 84 Jahre alt ist. »Immer nett und anständig angezogen. Justizbeamter isser, hat er mir gesagt. Das ist ein großer Begriff, ein dehnbarer.« Stimmt, Mutter Bonczek.
Nur die Justiz sieht das anders. Im freundschaftlichen Gespräch weist mich der jetzige Leiter der Strafanstalt Plötzensee« ein sanfter Melancholiker, Gegner der Todesstrafe, zweimal darauf hin, daß Röttger wirklich kein Beamter war -- er tat es für ein Jahresfixum von 3000 Reichsmark plus 30 Mark Kopfprämie.
So hat er in der siebten Septembernacht des Jahres 1943, um die Zahl der zum Tode Verurteilten »weisungsgemäß schnell zu reduzieren«, insgesamt 5580 Mark verdient, für 186 »Vollstreckungen«.
Vier davon erfolgten »irrtümlich«. Es ging alles so schnell, daß Verwaltungsoberinspektor Sch. den Überblick verlor und vier Gefangene aus Versehen zur Richtstätte führen ließ. Ein Dienststrafverfahren wurde nicht eingeleitet. der Beamte jedoch »ernsthaft verwarnt«.
Zu dieser Zeit war die Henkersmahlzeit längst abgeschafft, läutete kein Totenglöckchen mehr, schmissen Röttgers Knechte -- die Moabiter Brüder Thomas, der eine Schmied, der andere Wirt der »Sängerklause« -- immer zwei Leichen in einen Sarg. Weil ein Mensch ohne Kopf weniger Platz braucht, waren die Kisten 20 Zentimeter kürzer als gewöhnlich, wegen der Nachblutung mit Sägemehl bestreut.
Unter dem fernen Donner der russischen Kanonen fiel das Beil von Plötzensee in der Nacht des 20. April 1945 zum letzten Mal. Die Richter kamen immer noch in roten und schwarzen Rohen, nur Röttger trug keinen Cut mehr. An den Fenstern der Richtstätte sind noch heute die Befestigungen für die Verdunkelung zu erkennen, denn vor Luftangriffen fürchteten sich die Herren der Staatsgewalt.
»Hoffentlich kommt die Todesstrafe nicht wieder«, wünscht sich der jetzige Anstaltsleiter. »Wir Beamten sind weisungsgebunden, an uns bliebe es hängen. Das geht ganz schnell.« Die Guillotine ist er jedenfalls los. Wo sie einzementiert war, hat der Fußboden hellere Färbung und ein leichtes Gefälle zum verdeckten Abfluß hin.
Was mit dem Fallbeil geschehen ist? Man hat es demontiert und kurz nach dem Kriege im Tausch gegen Tonschüsseln an die Verwaltung der sowjetischen Besatzungszone geliefert. Dort wurde es gebraucht, in West-Berlin war es entbehrlich.
Denn der Senat hat -- sicherheitshalber -- ein Fallbeil in Reserve. Es liegt, gut gefettet und sorgsam in Kisten verpackt, im Keller der Haftanstalt Berlin-Moabit.