Andenken an die wilden Zeiten
Plötzlich war Mitte das neue Mitte. Das Zentrum des Ostens direkt hinter der Mauer wurde in wenigen Monaten nach der Grenzöffnung zum magischen Quartier der Ateliers, Galerien, Bühnen und Bars - und das verdankt Berlin-Mitte einer zierlichen blonden Frau aus der Gewerberaumabteilung der Kommunalen Wohnungsverwaltung der DDR.
Jutta Weitz, 50, verfügte über 2000 meist baufällige, leer stehende Läden und Fabriken im alten Herzen von Berlin rund um die Oranienburger Straße. Und als Mitte nun wieder wirklich die Mitte der vereinten Stadt war, lenkte die Sachbearbeiterin unauffällig, aber energisch die Entwicklung des Viertels, so dass heute die Touristen noch staunend die Spuren der In-Szene suchen.
Kommerz und Kapital, Sex-Shops und Videotheken hatten bei der im Sozialismus sozialisierten Raumverwalterin keine Chance. Von Kunst und Punks hatte sie kaum eine Ahnung, aber dass man »den Lebensentwürfen der Menschen einen Platz« geben müsse, davon war die DDR-Bürgerin überzeugt. Wer hier heute etwas hat und etwas ist, verdankt es meist der heimlichen Macherin von Mitte.
In nächtelangen Konferenzen mit dem Bezirksamt und meist bevor die Eigentumsverhältnisse der Häuser abschließend geklärt waren, erstritt Weitz für ihre Interessenten geeignete Objekte: etwa die Bar »Hackbarth's« des Ost-Berliner Künstlers Uwe Redigd, heute 37, und des West-Berliner Sozialarbeiters Jörg Breburda, 43. Einst eine muffige Ladengruft, ist die frühere Bäckerei mit dem üppigen Messingtresen und den goldumränderten blauen Fliesen an der Wand heute die Kultstätte in der inzwischen berühmten Auguststraße.
Im »Hackbarth's«, wo es bis jetzt keine ordentliche Registrierkasse gibt und sich die Bedienungen am Ende der Nacht selbst das Honorar ausbezahlen, herrscht noch immer ein wenig die Illusion, dass alles ist wie damals, am Anfang in Mitte: ein Raum ohne Regeln, ohne Zwang und Hierarchie.
»Hier war nichts, und niemand hatte was zu sagen, wir haben uns jeden Tag selbst neu erfunden, und wir allein waren der Boss«, erinnert sich der inzwischen ebenfalls zu Ruhm gekommene Galerist Harry »Judy« Lybke, 38, dem Weitz zu Wendezeiten unweit vom »Hackbarth's« zu Ausstellungsräumen verhalf. Die von Lybke Betreuten, darunter viele Unbekannte aus dem subversiven Künstlermilieu der DDR, gehören heute fast schon zu den Saturierten des Kunstbetriebs.
Viele der damals von Abenteurern aus Ost und West besetzten Wohnruinen in Mitte sind nun frisch getünchte Yuppie-Residenzen. Dazwischen erhält das Amt für Denkmalschutz eine der abgeblätterten Häuserfassaden im Originalzustand - als Andenken an die wilden Zeiten.
Da wurden noch fast alle Kneipen illegal betrieben wie zuletzt die sogenannte Montagsbar. Im Drei-Tage-Takt wechselten dort höchst eigenwillige Ausstellungen und Theaterexperimente. Inzwischen sind in den einstigen Raum der Off-Kultur-Szene Architekten gezogen, der frühere Mitbetreiber und Filmwissenschaftler Marc Glöde, 30, stieg zum Kurator und Lehrbeauftragten an der Kunsthochschule in Dresden auf.
Professionalisierung und »Vermainstreamung« ist in Mitte voll im Gange, beobachtet der gelernte Autoschlosser und diplomierte Philosoph Olaf »Gemse« Kretschmer, 37, aus Chemnitz, der 1993 das legendäre »Delicious Doughnuts« in der Rosenthaler Straße eröffnete. In dem mit witzigen 60er-Jahre-Möbeln zusammengezimmerten Live-Musik-Club entstanden damals noch Gegenwelten zur kommerziellen Musikszene des Techno, sogenannter Acid Jazz. Alles Geschichte. »Heute ist das Nachtleben ein Industriezweig«, sagt »Gemse«. Orte, an denen »etwas wirklich Neues beginnt«, gibt es nur noch wenige.
Im Jahre zehn nach der Wende ist die Experimentierphase in Mitte so gut wie abgeschlossen, die Claims sind abgesteckt. »Wir Älteren, die wir zuerst hier waren, haben den Finger am Colt, damit die jüngere Generation nicht zu schnell nach oben kommt«, bekennt sich Galerist Lybke zur Verteidigung der eroberten Pfründen.
Kunst aus Berlin-Mitte ist inzwischen ein nachgefragter Artikel geworden, weltweit. Niemand hat dafür mehr getan als der ehemalige Medizinstudent Klaus Biesenbach, der seit der Wende eine atemberaubende Karriere vom interessierten Laien zum internationalen Kunstmanager vollzog: Der Rheinländer erfand die »Berlin Biennale«, eine Schau von Nachwuchskünstlern, und ist mit 33 Jahren bereits »Senior-Curator« im New Yorker Ausstellungszentrum PS1.
Durch seine Kontakte zur internationalen Kunstszene entscheidet Biesenbach heute mit, ob Christoph Schlingensief ans Museum of Modern Art nach New York gelangt oder Christine Hill zur Documenta nach Kassel. Seine »Kunst-Werke«, eine ehemalige Margarinefabrik in Mitte, aus der er einen eleganten Ausstellungsort gemacht hat, stellt Biesenbach für verschiedene Veranstaltungen zur Verfügung: mal gegen Entgelt wie für eine Kommerz-Party von Wolfgang Joop, mal kostenlos wie für einen Kultur-Event der Berliner CDU.
Langsam erwacht auch das jüdische Leben wieder, das in Berlin-Mitte sein deutsches Zentrum hatte und bis zur Nazi-Zeit die flirrende Vielfalt des gesellschaftlichen Lebens prägte. Dass die Deutschen offenbar weit entfernt sind vom selbstverständlichen Umgang mit den Juden, zeigt nicht nur die massive Polizeipräsenz vor den jüdischen Gebäuden.
Lara Dämmig, 35, im Ostteil der Stadt aufgewachsen und heute Mitarbeiterin der »Ronald S. Lauder Foundation« des New Yorker Kosmetik-Erben, stört mittlerweile schon die »Folklorisierung« des Jüdischen. Plötzlich spielten Nichtjuden zur Unterhaltung nichtjüdischen Publikums die gerade angesagte Klezmer-Musik. Jedes zweite Café auf der Oranienburger Straße werde wie das »Silberstein« oder »Mendelssohn« nach berühmten Juden benannt, kritisiert Dämmig, auch wenn man dort Schweinegeschnetzeltes serviere und es keinerlei Bezug zum jüdischen Leben gebe.
Kreative und In-People aus der ganzen Welt hat die Fama angelockt von der ewigen Party, die jeden Tag neu gefeiert wird. Geborene Berliner sind in Berlin-Mitte ohnehin eine rare Spezies. Über 10 000 der 74 500 Einwohner ziehen jährlich wieder von dort fort, dafür kommen mehr als 9000 neue.
Seit fast 200 Jahren lockt das Zentrum die mobilen, unruhigen Wahlberliner an. Hier hat 1838/39 der Jurastudent Karl Marx aus Trier gewohnt. Der junge Feuerkopf verkehrte im »Doktorclub« und dichtete: »Alles möcht ich mir erringen. Nur nicht dumpf so gar nichts sagen und so gar nichts wolln und tun.«
Bis heute gibt es in der mehr als Drei-Millionen-Stadt Berlin nirgendwo sonst so krasse soziale Gegensätze wie in Mitte. Rund um die Hackeschen Höfe und das Scheunenviertel hinter der Oranienburger Straße leben die gut verdienenden Singles neben Studenten, Kreativen und kleinen Angestellten. Arbeitslose versammeln sich hier morgens um neun Uhr am Elektrizitätskasten zum Bier, die schönen Szene-Menschen abends in der »Newton«-Bar.
Gleiche Chancen für alle, weiß Jutta Weitz, bis heute Mitarbeiterin der Wohnungsbaugesellschaft Mitte, wird es hier so schnell wohl nicht wieder geben. »Zehn intensive Jahre waren das«, sagt sie, »was jetzt kommt, ist nicht aufzuhalten.« Vor ihrer kleinen Wohnung in der Auguststraße parken inzwischen die roten Sportcabriolets der In-People, und demnächst zieht Außenminister Joschka Fischer auf den Kiez. SUSANNE KOELBL