DDR Angeblich besonders
Im Ost-Berliner Friedrichstadt-Palast, sonst »Weltstadtvarieté« (Eigenwerbung), bezichtigte Willi Stoph vor 3000 geladenen Genossen die Bundesregierung einer Politik der »Winkelzüge«. Damit, so der DDR-Premier, »wird das beabsichtigte Treffen ... in Kassel stark belastet«.
»Neues Deutschland«, die »führende Zeitung« (Werbeslogan), assistierte: Die »aggressive Linie der Revanchepolitik« Bonns belaste »in unerträglicher Weise das Gespräch in Kassel«.
Das Außenministerium der DDR, das »Winzerstübchen« (DDR-Volksmund) am Marx-Engels-Platz, schließlich kritisierte die Bonner Einwände gegen den DDR-Aufnahmeantrag für die Genfer Weltgesundheits-Organisation (WHO) und gab bekannt: »Wer in Genf stört, der stört auch die Vorbereitungen für das vorgesehene Treffen der Regierungschefs ... in Kassel.«
Partei- und Staatsapparat aber ließen sich nicht stören. Der eigenen Agitation zum Trotz präparierten sich die Genossen seit dem März-Treffen von Erfurt emsig und zielbewußt für den zweiten Durchgang im zwischendeutschen Fingerhakeln.
Das DDR-Spitzentrio Ulbricht, Stoph und Honecker reiste nach Moskau und suchte Solidarität. Es ließ sich von den sozialistischen Brüdern abermals versprechen, daß die Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik eine Voraussetzung für die Verbesserung der Beziehungen zwischen Bonn und Osteuropa bleibe, und versprach selbst, das Gespräch mit Bonn vorerst nicht abreißen zu lassen.
Außenamts-Experten überprüften die Frage, inwieweit die Pariser Verträge von 1955 -- in denen die westlichen Siegermächte ihr Mitspracherecht in der deutschen Frage fixiert hatten -- die Bundesrepublik tatsächlich daran hindern. die DDR völkerrechtlich anzuerkennen. Sie kamen zu dem Schluß, daß der völkerrechtliche Kontakt zwischen beiden deutschen Staaten Siegerrechte der Anti-Hitler-Koalition in keiner Weise berühre, und sie sind nun, um Bonner Einwände zu entkräften, sogar dabei, über Vorteile nachzudenken, die der Bundesrepublik wie den Westmächten aus einer DDR-Anerkennung erwachsen könnten.
Die Genossen an der Heimatfront schließlich gaben sich alle Mühe, den seit Erfurt wieder optimistischen DDR-Bürgern die junge nationale Hoffnung zu stutzen. Denn der Parteiführung gefiel an den Resultaten der SED-Demoskopie nach Erfurt nur, daß die Popularitätskurve Willi Stophs kräftig angestiegen war. Der deutliche Trend zu gesamtdeutschen Illusionen hingegen veranlaßte die SED-Spitze zu einer neuen Gegenoffensive.
ZK-Mann Gerhard Kegel verkündete, die deutsche Wiedervereinigung sei »weder möglich noch denkbar«. Willi Stoph versprach, in Kassel oder sonstwo »der aggressiven imperialistischen Politik« der Bundesregierung »keinen Fußbreit Boden zu geben«.
»Neues Deutschland« sah aus »allen Absätzen« der Rede Willy Brandts zum 8. Mai den »blanken Revanchismus« gucken. Und Walter Ulbrichts Staatsrat forderte im Blick auf Kassel kategorisch alles oder nichts: »Zwischen der DDR und der BRD kann es ... nur um die Herstellung völkerrechtlicher, auf der Anerkennung ihrer vollen Gleichberechtigung ... beruhender Beziehungen gehen.«
Daran freilich, daß Kanzler Brandt seinem Besucher schon jetzt auf der Kasseler Wilhelmshöhe diese Anerkennung als Gastgeschenk überreichen werde, glauben weder Politbürokraten noch Regierungsberater. Selbst optimistische Genossen rechnen mit einem Erfolg der Anerkennungs-Offensive nicht vor zwei bis drei Jahren. Sie stellen sich deshalb darauf ein, in der Zwischenzeit wenigstens Teilerfolge zu erzielen.
So wird Willi Stoph -- das prophezeien SED-Funktionäre -- in Kassel zwar wiederum die völkerrechtliche Anerkennung fordern, Bonner Zugeständnisse etwa in der Frage der DDR-Mitgliedschaft in den Uno-Unterorganisationen aber bereits als hohen Punktsieg buchen. Zwar, so mutmaßen Ost-Berliner West-Emissäre' werde die DDR-Delegation in Kassel wiederum Brandts Vorschlag für die Bildung paritätischer Kommissionen ablehnen -- weil sich dahinter die »angeblich »besonderen innerdeutschen Beziehungen"' (Stoph) verbergen -, gleichwohl aber nach Möglichkeiten suchen, den Kontakt nicht abreißen zu lassen.
Und Kontakt-Chancen sieht Ost-Berlin etwa in weiteren Regierungsverhandlungen nach dem Muster der Post- und Verkehrsgespräche. Mögliches Thema: die Einrichtung westdeutscher Handelsvertretungen in Ost-Berlin und Leipzig als Pendants zu den DDR-Wirtschaftsmissionen in Düsseldorf und Frankfurt.