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REGIERUNG Angela Mutlos

Doppelte Niederlage für die Kanzlerin: Ihre Gesundheitsreform ist misslungen, SPD-Spitze und CDU-Ministerpräsidenten zeigten der Regierungschefin die Grenzen ihrer Macht. Das Verblüffende: Angela Merkel, die sich bislang als Überzeugungstäterin gab, hat für ihre Ideen kaum gekämpft.
aus DER SPIEGEL 28/2006

Es war weit nach Mitternacht, als die Kanzlerin für einen Moment klein und hilflos wirkte. Mehr als sechs Stunden diskutierten die Spitzen von CDU/CSU und SPD bereits im Konferenzsaal des Kanzleramts. Man redete über Kopfprämien, Steuern, Eigenbeteiligung - der ganze Besteckkasten der Reformpolitik war ausgebreitet. Wie selbstverständlich wurde Alkohol ausgeschenkt, die wohl augenfälligste Konstante aus der Zeit, als in der Regierungszentrale noch Gerhard Schröder das Sagen hatte.

Vordergründig ging es in der Nacht von Sonntag auf Montag vergangener Woche um die Frage: Wie kommt das kranke Gesundheitssystem wieder auf die Beine? Doch am ovalen Konferenztisch saßen Experten für Machtfragen. Sie sind es gewohnt, ihr Gegenüber zu taxieren, Gesten und Worte daraufhin zu bewerten, ob sie ein Signal der Stärke oder Schwäche enthalten.

Jeder Spitzenpolitiker stellt bei solchen Sitzungen stumm die Frage: Was bedeutet das alles für mich? Wie reagieren mein Vorstand, mein Präsidium, meine Wähler? Wie ernst ist es dem Redner auf der andern Seite?

Und so wurde auch Angela Merkel einem mehrstündigen Test unterzogen. Je länger sie sich weigerte, die Steuern für das Gesundheitswesen zu erhöhen, desto beherzter fasste die SPD nach.

Erst vor wenigen Tagen sei doch ein Arbeitsgruppenpapier verabschiedet worden, in dem »der Einstieg in eine teilweise Steuerfinanzierung« angeregt wurde, auch mit ihrer Billigung. Und hatte nicht die Kanzlerin selbst den Finanzminister gebeten, entsprechende Modelle zu rechnen? War sie es nicht gewesen, die im Bundestag vor nicht allzu langer Zeit sagte, dass die Gesundheit künftig stärker »aus dem Steuertopf zu bezahlen« sei?

So ging das stundenlang. »Die Leute werden das nicht akzeptieren«, mauerte Merkel. Die SPD erinnerte die neue Merkel ein ums andere Mal an die alte. »Wir leiden doch nicht alle an Amnesie«, giftete SPD-Fraktionsgeschäftsführer Olaf Scholz. »Ich leide nicht an Amnesie, aber das Umfeld hat sich geändert«, erwiderte Merkel sichtlich ermattet.

Die Kanzlerin ließ sich drängen, die Dinge noch deutlicher zu benennen. »Das bekomme ich in Fraktion und Präsidium nie durch«, sagte sie. Und dann schob sie zur Klarheit auch das noch hinterher: »Wenn ich dem zustimme, kann ich meinen Hut nehmen.«

Da herrschte dann Stille im Saal. Die Frau, die laut Verfassung die Richtlinien der Politik bestimmen soll, hatte sich, wenn auch unfreiwillig, offenbart. Es war ein kurzer Moment der Ehrlichkeit, der sofort als Zeichen von Schwäche erkannt wurde. Ein solches Eingeständnis eigener Ohnmacht gestatten sich Politiker der Spitzenklasse nur im kleinsten Kreis. Sonntagnacht konnte sogar der Koalitionspartner und politische Gegner zuschauen und zuhören. Vor ihnen saß nicht die mächtige

Regierungschefin, sondern Angela Mutlos.

Durch den Kanzler verlaufen die Kraftlinien der Republik, so heroisch hatte einst Joschka Fischer das Amt des Regierungschefs beschrieben. Doch an Angela Merkel läuft derzeit vieles vorbei. Neben dem nahezu gleichgewichtigen Koalitionspartner SPD sind es vor allem die selbstbewussten Ministerpräsidenten der Union, elf an der Zahl, die eifersüchtig über ihren Machtanteil wachen. In geradezu aufreizender Offenheit zeigten sie der Kanzlerin, dass sie ihr das Regieren nicht allein überlassen werden - und die Kanzlerin ließ sie gewähren. Keine Steuererhöhung, sagten sie, keine Steuerhöhung sagte am Ende auch Merkel, die immer anderes vorgehabt hatte.

Während sich die Experten über das Konzept zu einer Gesundheitsreform beugten, in deren Mittelpunkt nun der höchste Kassenbeitragssatz der Nachkriegsgeschichte steht, gingen die Profis zum politischen Nahkampf über.

SPD-Fraktionschef Peter Struck war der Erste, der das Machtvakuum zum Thema machte, kaum hatte er sich einige Stunden Schlaf gegönnt. Regieren heiße Verantwortung übernehmen, brummte er, die Kanzlerin habe Zusagen gegeben, die sie nun nicht mehr habe halten können. »Das darf eigentlich nicht passieren.« Und wäre wohl auch nicht passiert, meinte er, wenn der Kanzler noch Schröder hieße.

Vizekanzler Franz Müntefering, von dem es bislang kein böses Wort gegen Merkel gab, sagte, dass es der Koalition an Führungs- und Gestaltungskraft fehle, und er fügte gleich hinzu, warum: weil die Entscheidung nicht im Kanzleramt, sondern in den Ländern gefallen sei - »ganz eindeutig«. So ging es weiter, je kleiner die Verantwortung, desto größer die Klappe: Die Regierungschefin sei »verhandlungsunfähig«, rief der Juso-Chef Björn Böhning. Der Vorsitzende des eher konservativen Seeheimer Kreises der SPD, Johannes Kahrs, fand: »Der Fisch stinkt immer vom Kopf her.«

Die Kanzlerin, das kann nun jeder sehen, ist in den Mühen der Ebene gelandet. Nach furiosem Auftakt und glänzenden Auftritten in den Hauptstädten der Welt

geht es in der Innenpolitik nicht voran, jedenfalls nicht in die Richtung, die sie vorgegeben hat.

Die Mehrwertsteuererhöhung belastet die Konjunktur, der Haushalt ist so hoch verschuldet wie ehedem, die Anhebung der Hartz-IV-Gelder für Ostdeutsche kostet Hunderte Millionen, die der Staat nicht besitzt.

Die Kanzlerin schmiegt sich an die Verhältnisse, anstatt ihre Überwindung zu versuchen. Ihre Leute behaupten, dass die öffentliche Meinung entscheidend sei, nicht die veröffentlichte - zwischen beiden liege eine Lücke, die ihr Luft zum Atmen verschaffe. Doch auch die Meinungsforscher registrieren einen dramatischen Ansehensverlust ihrer Regierung (siehe Grafik).

Merkel hat sich verkalkuliert. Das Volk spürt sehr genau, dass in Berlin posiert, aber nicht regiert wird. Viele sind verblüfft über die Demut, mit der die Regierungschefin hinnimmt, dass auch ihr wichtigstes Prestigeprojekt zerfleddert wird. Sie zaudert, beobachtet, wägt ab, statt voranzugehen, auch mal zu drängen und zu drohen.

Nie war das besser zu besichtigen als im Ringen um die Gesundheitsreform. Eigentlich sollte sie Merkels Meisterstück werden, so war es angekündigt. Am Umbau der wichtigsten Säule des deutschen Fürsorgestaates wollte sie sich messen lassen. Besucher im Kanzleramt wussten zu berichten, die Hausherrin sei derart tief in die komplizierte Materie eingedrungen, dass sie stundenlang und ermüdungsfrei auch noch über die kleinsten Verästelungen des Systems referieren könne.

Doch die Rekonstruktion der entscheidenden Tage bis zum verunglückten Gesundheitskompromiss zeigt, dass die Kanzlerin ausgerechnet bei ihrem zentralen Reformprojekt merkwürdig unbeteiligt die Dinge treiben ließ. Sichtbar wird auch, dass sie sich mit dem nächstliegenden Gedanken kaum noch beschäftigte: der Frage, wie das millionenteure, von Lobbygruppen beherrschte Gesundheitssystem effizienter und leistungsfähiger werden

könnte, spielte zuletzt allenfalls eine Nebenrolle.

Die Entzauberung der Angela Merkel begann vor gut drei Wochen mit dem Vorschlag von SPD-Chef Kurt Beck, die Steuern kräftig zu erhöhen, um im Gegenzug die Beiträge senken zu können. Die Rede war von zusätzlichen Steuern in Höhe von 30 Milliarden Euro oder mehr. Im Koalitionsausschuss wurde die Idee diskutiert, Merkel zeigte sich offen, die Runde beauftragte Finanzminister Peer Steinbrück, Modelle für Steuererhöhungen durchzurechnen.

Die Ministerpräsidenten in der Union, allen voran CSU-Chef Edmund Stoiber, waren alarmiert. 2008 wird in Bayern gewählt, auch in Niedersachsen und Hessen stehen im übernächsten Jahr Landtagswahlen an. Am Montag, dem 26. Juni, diskutierte das CDU-Präsidium in Berlin erstmals ausführlich das Thema. Steuererhöhungen? Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers war strikt dagegen: »Das machen die Leute nicht mit.« Merkel aber wollte sich nicht festlegen.

In den folgenden Tagen sprachen Stoiber und Roland Koch mehrfach mit Merkel. Sie solle endlich Farbe bekennen. Steuererhöhungen seien an der Basis nicht durchsetzbar. Merkel gab sich verständnisvoll, vermied es aber, klar Position zu beziehen.

Merkels Unbestimmtheit machte auf Stoiber, Koch und Rüttgers den Eindruck, dass sie sich in Wahrheit auf Steuererhöhungen einlassen wollte. Sie wussten, dass sie handeln mussten, bevor es zu spät war. Hatte sich der Koalitionsausschuss erst einmal festgelegt, würde Widerspruch der Ministerpräsidenten unweigerlich zu einer Regierungskrise führen. Die drei telefonierten mehrfach miteinander und beschlossen, Merkel öffentlich so einzumauern, dass sie keinen Spielraum mehr hatte. Auch Günther Oettinger aus Baden-Württemberg und der Saarländer Peter Müller waren dabei. »Die hätte sonst durchgezogen«, sagt einer der Beteiligten. Nur Christian Wulff hielt sich zurück, obwohl er das Anliegen seiner Kollegen unterstützte. Der niedersächsische Ministerpräsident wollte nicht als Querulant dastehen.

Am Donnerstag, den 29. Juni begann die Offensive. Als Erster meldete sich Koch in der »Neuen Presse« aus Hannover zu Wort. »Steuererhöhungen im Jahr 2008 wegen der Gesundheitsreform halte ich nicht für vertretbar«, sagte er. Aus München gab ihm Stoiber noch am selben Tag Flankenschutz. Auch er sei »skeptisch gegenüber immer neuen Vorschlägen für Steuererhöhungen«. Merkel blieb stumm. Sie schlug nicht mit der Faust auf den Tisch, sie kämpfte nicht, sie schmiedete keine Allianzen, sie ließ es geschehen, dass die Ministerpräsidenten schrittweise ihren Spielraum einengten.

Am Samstag luden die Ministerpräsidenten noch einmal nach. Schon am Morgen verbreiteten die Radionachrichten Interview-Zitate der CDU-Ministerpräsidenten. Rüttgers war nun genauso gegen Steuererhöhungen wie Müller und Thüringens Regierungschef Dieter Althaus. Die Einmauerungsstrategie schien aufzugehen. Auch weil Merkel bislang geschwiegen hatte.

Erst am Mittag verbreiteten die Nachrichtenagenturen, die CDU-Vorsitzende schließe zumindest für die nächsten zwei, drei Jahre eine Steuererhöhung aus. Doch diese erste, vorsichtige Festlegung der Kanzlerin reichte nicht aus, die Debatte zu beenden. Besorgt meldete sich Merkels Regierungssprecher Ulrich Wilhelm bei der »Welt am Sonntag«. Was er dort erfuhr, trug nicht zu seiner Beruhigung bei. Das Blatt wollte am nächsten Tag mit dem Tenor aufmachen »Aufstand der Ministerpräsidenten gegen Merkel«.

Wenig später rief Wilhelm wieder an und gab autorisierte Sätze seiner Chefin durch. Steuerhöhungen zur Finanzierung der Gesundheitskosten, so Merkel, »sind schädlich für das Wachstum«. Die Redaktion änderte die geplante Überschrift. »Merkel will keine höheren Steuern« war nun der Aufmacherbericht zum »Machtwort« der Kanzlerin überschrieben.

Die Unruhe bei der Union blieb dem Koalitionspartner nicht verborgen, die entscheidende Sitzung fing mit 20 Minuten Verspätung an. Die SPD-Delegation hatte länger gebraucht als geplant.

Merkel begann. Punkt für Punkt ging die Runde die Eckpunkte durch, die die Gesundheitsarbeitsgruppe entwickelt hatte. Die Steuerfrage wurde erst einmal ausgeklammert. »Das besprechen wir später«, sagte Merkel, nachdem CSU-Landesgruppenchef

Peter Ramsauer seine Bedenken angemeldet hatte ("Moment, da haben wir ein Problem").

Wie soll das Kassendefizit ausgeglichen werden? Von den vier Möglichkeiten schieden drei schnell aus: Sieben Milliarden Euro Steuerzuschuss wollten beide Parteien nicht. Die Beitragsbemessungsgrenze zu erhöhen wurde von der Union abgelehnt, während die SPD dagegen war, Privatunfälle gesondert zu versichern. »Das wird nicht einfach«, fasste Merkel die Diskussion zusammen, »dann kommt wohl nur eine Erhöhung der Beiträge in Frage.«

Gegen 22 Uhr ließ sich das heikelste Thema nicht länger aufschieben. »Steuererhöhungen machen wir auf keinen Fall mit«, sagte Stoiber, »mit der Mehrwertsteuer werden wir schon genug an Glaubwürdigkeit verlieren.« Die Sozialdemokraten waren genervt. Intern nennen sie Stoiber »Dr. No«. Die Verhandlungen waren festgefahren. Gegen 22.30 Uhr berieten die beiden Delegationen getrennt, eine Stunde später zogen sich Merkel, Beck und Stoiber ins Zimmer der Kanzlerin zurück.

Die große Runde traf erst gegen 1.20 Uhr wieder zusammen. Die Stimmung war nach wie vor gereizt. Als Steinbrück vorschlug, eine Gesundheitsteuer einzuführen, giftete CSU-Generalsekretär Markus Söder: »Herr Steinbrück, ich werde Sie für den Innovationspreis für die Erfindung neuer Steuern vorschlagen.« Sein SPD-Kollege Hubertus Heil warf der Union eine unfaire Rollenverteilung vor: »Es darf nicht sein, dass es am Ende heißt, die Sozis wollen immer die Steuern erhöhen.« - »Aber so ist es doch«, rief der CSU-Unterhändler Hartmut Koschyk dazwischen. Beck war empört: »Wenn die Arbeitsteilung so aussehen soll, können wir hier sofort nach Hause gehen.« Für einen Augenblick war es sehr still im Saal.

Irgendwann stand fest, dass es keine Steuererhöhung geben wird. Steinbrück sollte 1,5 Milliarden aus dem Haushalt pressen. »Wie soll das gehen?«, fragte er und griff dann Stoiber an: »Immer wenn Sie dabei sind, wird's teuer.« Ob denn noch die Verschuldungsgrenze des Grundgesetzes gelte, wollte er von Merkel wissen. »Ja!« - »Und gelten die Maastricht-Kriterien weiter?« - »Ja!« - »Und wie soll das alles gehen?« Schweigen. »Frau Bundeskanzlerin, Sie haben die Gesamtverantwortung für den Haushalt.« - »Ja, ja, irgendwie müssen wir das hinkriegen. Wir schaffen das auch.« Als Steinbrück später noch einen Versuch startete ("Das geht alles nicht"), antwortete Merkel kurz: »Das muss gehen bei einem Haushalt von über 260 Milliarden Euro.«

Und so traten die Parteivorsitzenden wenig später blass, übermüdet und mit schmalen Augen vor die Kameras und verkündeten als Durchbruch, was in Wahrheit ein Scheitern ist. War Merkel ursprünglich angetreten, die Kassenbeiträge von den Lohnkosten abzukoppeln, um Arbeit wieder billiger zu machen, musste sie nun verkünden, dass die Beiträge steigen würden. Ihr »Meisterstück« bestand darin, dass sie das exakte Gegenteil dessen ablieferte, was sie sich vorgenommen hatte.

Bis heute hat sich bei vielen der Eindruck gehalten, dass Merkel im Kern eine Überzeugungspolitikerin ist. Sie wurde oft mit Maggie Thatcher verglichen, dabei ist Merkel viel eher ein Ziehkind von Helmut Kohl, der seine Amtszeit als Reformer begann ("Die Wende kommt"), um die Sozialpolitik dann ziemlich schnell Leuten wie Norbert Blüm zu übertragen ("Die Rente ist sicher"). Auch deshalb fällt es ihr so leicht, Positionen zu räumen, die sie eben noch besetzt hat.

Die Konsenskanzlerin von heute hat mit der Reformerin aus dem Wahlkampf nicht viel zu tun, aber gerade diese irritierende Wandlungsfähigkeit ist der Schlüssel für ihren rasanten Aufstieg. Merkel hatte nie mächtige Verbündete in der CDU, ihr fehlte alles, was ihre Konkurrenten besaßen: ein mächtiger Landesverband, ein Netzwerk an Freunden und Weggefährten. Sie setzte sich durch, indem sie die darwinsche Evolutionstheorie auf die Politik übertrug, wonach Anpassungsfähigkeit das Überleben sichert, nicht Stärke.

Merkels Programm heißt Merkel. Sie war still, als Unauffälligkeit ihrem Fortkommen diente, sie war mutig, als Entschlossenheit Erfolg versprach. Merkels politische Biografie teilt sich in Etappen, die sich an den jeweiligen Opportunitäten ausrichten; die Reformphase ist nur eine davon, genau betrachtet, bisher eine sehr kurze sogar.

Wer in den acht Jahren, in denen Merkel in der Regierung Kohl am Kabinettstisch saß, nach Äußerungen sucht, in denen Elemente ihres späteren Reformprogramms enthalten sind, sucht vergebens. Sie war an keiner großen Debatte beteiligt, an keinem Grundsatzstreit. Niemand kann sich erinnern, dass sie jemals zu einer Frage das Wort ergriffen hätte, die außerhalb ihres engeren Kompetenzbereichs lag.

Es ist immer wieder erstaunlich, wie lange Merkel die Dinge treiben lässt, bevor sie sich zum Handeln entscheidet. So blieb sie

auch in ihren ersten Jahren als CDU-Chefin merkwürdig farblos. Wo Festlegungen gefragt waren, behalf sie sich mit Überschriften. Sie sprach dann von der »Wir-Gesellschaft« oder bot einen »Vertrag für Deutschland« an.

Das ging eine Weile gut, weil jeder in ihr sehen konnte, was er wollte. Aber dann änderte sich die Stimmung. Plötzlich war sie umzingelt von Gegnern, die ein klares Profil besaßen, Roland Koch als strammer Konservativer in Hessen, in Berlin ihr Stellvertreter Friedrich Merz, der in Hintergrundrunden lästerte, wie wenig die CDU-Chefin doch von Wirtschaft verstünde. Und im Kanzleramt machte sich Gerhard Schröder mit einem Mal daran, eine Reformagenda durchzusetzen. Überall roch es nach Entschlusskraft, »Basta« war das Wort, mit dem jetzt Politik gemacht wurde.

So bereitete sie den Rollenwechsel vor, von der zögerlichen Machttaktikerin zur Reformerin, den sie dann mit zwei Grundsatzreden öffentlich machte: eine im Berliner Zeughaus im Oktober 2003 und die andere auf dem CDU-Parteitag zwei Monate später. Wenn Merkel heute Verrat an sich selbst vorgeworfen wird, dann bezieht sich das immer auf das Bild, das sie damals von sich entwarf. Im Rückblick muss man sagen, dass Merkel sich ziemlich treu geblieben ist.

Sie hat vergangene Woche einen gefährlichen Weg eingeschlagen. Ungeniert nahm sie Zuflucht zum Politikerdeutsch, das einen Erfolg verkündet, wo andere nur eine Niederlage sehen können. Sie hat die Gesundheitsreform als »wirklichen Durchbruch« gefeiert, sie hat von »tiefgreifenden, strukturellen Veränderungen« gesprochen. Es passte alles nicht zusammen, nicht mit dem vorliegenden Ergebnis, auch nicht mit ihren eigenen Ausführungen aus den Tagen vor dem Kompromiss.

Bislang hat Merkel stets vermieden, die Probleme kleinzureden. Noch vor kurzem bezeichnete sie das Land als »Sanierungsfall«. Daraus bezog sie einen Großteil ihrer Überzeugungskraft. Sie gab ihren Gesprächspartnern das Gefühl, sie habe ihr Ziel nicht aus den Augen verloren, Deutschland wieder leistungsfähiger zu machen.

Nun kann man erleben, wie sich das Amt vor die Wirklichkeit schiebt. Die Probleme scheinen weniger drängend, die Zahlen weniger hässlich. An die Stelle von dem, was getan werden müsste, tritt das, was sich durchsetzen lässt.

Man kennt das von Schröder. Auch der war in seinen guten Tagen zu einer klaren Sicht auf die Dinge in der Lage, er hat auf seine direkte, mitunter brachiale Art ja zwischenzeitlich sogar versucht, sie zu verändern. Als er dazu nicht mehr die Kraft fand, kapselte er sich gegen die Realität ab. Freund und Feind sortierte er danach, wer die Welt so sah wie er und wer nicht.

Es ist sehr einfach, im Bundeskanzleramt einen bekömmlicheren Blick auf Deutschland zu werfen als draußen. Die meisten Leute, die mit einem zusammentreffen, kommen in gebückter Haltung. Die Einzigen, die einem hin und wieder ziemlich ungeschminkt die Meinung sagen, sind Journalisten, aber auch das wird weniger. Wer durch Impertinenz auffällt, ist bei den gelegentlichen Hintergrundrunden irgendwann nicht mehr dabei.

Mit den lästigen Fragestellern weichen auch die Probleme zurück. Man muss als Kanzler nur aufhören, sich zu fragen, wie das Land in zehn oder zwölf Jahren aussieht, wenn man nicht mehr Kanzler ist, und schon wirkt alles weniger dramatisch.

Außerdem läuft die Gesetzesmaschine unverändert, etwa 80 Gesetze hat die neue Regierung auf den Weg gebracht, das nährt die Illusion, dass man die Aufgabe erledigt, für die man gewählt wurde.

Einige in der CDU glauben inzwischen, dass Merkel ihre Zielkoordinaten grundsätzlich verändert hat. »Unseren Leuten in Berlin ist klar geworden, dass sich die Mehrheiten im Land verschoben haben«, sagt ein CDU-Ministerpräsident. Sein Lagebild ist nüchtern und erschreckend: »Es gibt nur noch 26 Millionen Steuerzahler, aber 28,5 Millionen Transferleistungsempfänger. Insofern vertritt jeder, der sich für die Interessen der Beitrags- und Steuerzahler einsetzt, eine Minderheitenposition. Das ist die neue Erkenntnis in Deutschland, danach richtet sich die Politik der Großen Koalition aus.«

Es gibt sie gerade sieben Monate, aber schon jetzt fehlt einem die Phantasie, um zu sagen, wie es mit Anstand weitergehen könnte. Sicher, es gibt noch ein paar Reformen, die angekündigt wurden, die Unternehmensteuerreform, die Einführung eines Kombilohns, aber das ist nichts, was einer Regierung ein Thema verleiht, einen Daseinszweck.

Es existieren drei Szenarien für die Zukunft. Merkel kann den Weg gehen, den ihr Lehrmeister Helmut Kohl vorgegeben hat. Sie würde dann weiter öffentlich den Anspruch erheben, Reformerin zu sein, große Projekte allerdings meiden. Stattdessen würden Union und SPD wie bisher Minimalbeschlüsse fassen, mit denen beide Seiten leben können.

Vermutlich könnte sie sich damit bis zum Ende der Legislaturperiode im Amt halten, möglicherweise auch ihre Wiederwahl sichern. Die Probleme des Landes würden allerdings größer statt kleiner. Helmut Kohls Regierung hatte sich in der zweiten Legislaturperiode verbraucht. Ohne die deutsche Einheit wäre der Kanzler 1990 vermutlich nicht wiedergewählt worden. Er blieb noch acht Jahre.

Denkbar ist auch, dass sich Merkel wie ihr Vorgänger Gerhard Schröder zu einer verspäteten Reformoffensive entschließt. Schröder zauberte die Hartz-Reformen aus dem Hut, als seine Abwahl bereits sicher schien. Mit der Agenda 2010 überraschte er Partei und Öffentlichkeit.

Es waren mutige Schritte, aber sie waren schlecht vorbereitet und überhastet. Zahlreiche Fehler verhinderten, dass die Reformen wirkten. Die Partei versagte Schröder am Ende die Gefolgschaft. Für Merkel wäre es noch viel schwerer, einer widerwilligen SPD solche Schritte aufzunötigen.

Sie könnte sich allerdings auch jene Angela Merkel zum Vorbild nehmen, die ihre Partei mit Reformmut begeisterte. Statt sich von den Wünschen der eigenen Leute und der Sozialdemokraten treiben zu lassen, könnte die Kanzlerin selbst die Richtung vorgeben. Dazu müsste sie allerdings zunächst einen konzeptionellen Neustart wagen, der auch die Möglichkeiten der Großen Koalition berücksichtigt.

Die Strategie ist nicht ohne Risiko, doch sie folgt einer Einsicht, die bereits Franz Josef Strauß der politischen Klasse unnachahmlich ins Stammbuch geschrieben hat: »Everybody's Darling ist am Ende Everybody's Depp.« JAN FLEISCHHAUER,

KONSTANTIN VON HAMMERSTEIN, HORAND KNAUP, ROLAND NELLES, RALF NEUKIRCH, RENÉ PFISTER, GABOR STEINGART

CDU, CSU und SPD stellen sicher, dass die Lohnzusatzkosten dauerhaft unter 40 Prozent gesenkt werden.

KOALITIONSVERTRAG VOM 18. NOVEMBER 2005

Wir müssen mit den Lohnzusatzkosten runtergehen. Mir ist es eine Herzenssache.

MERKEL IN DER ARD-SENDUNG »DIE FAVORITEN« AM 12. SEPTEMBER 2005

Der Weg, den wir wählen müssen, kann nur der sein, unsere Sozialsysteme stärker von den Arbeitskosten zu entkoppeln.

MERKEL AUF DEM LEIPZIGER BUNDESPARTEITAG DER CDU AM 2. DEZEMBER 2003

Natürlich ist unser Ziel, vor allem die Lohnzusatzkosten zu senken, denn wir können in vielen Nachbarstaaten sehen, dass dies zu mehr Beschäftigung und Wachstum führt.

MERKEL IM WAHLKAMPF AM 25. AUGUST 2005

* Nach der Sitzung des Koalitionsausschusses zur Gesundheitsreform am Morgen des 3. Juli. * Mit Unionsfraktionschef Volker Kauder und FDP-Chef Guido Westerwelle im Bundestag.

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