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LOBBY Angemessenes Maß

Der verbraucherfreundliche Wucherzinsparagraph des Bürgerlichen Gesetzbuchs soll gestrichen werden - ein Erfolg der Versicherungslobby. *
aus DER SPIEGEL 5/1986

Justizminister Hans A. Engelhard zeigt eine Entschlossenheit, die seinem Wesen sonst ganz fremd ist. »Noch vor Ostern« will er vollenden, was seine sozialdemokratischen Vorgänger jahrelang vor sich hergeschoben haben.

Der ungewohnte Tatendrang des FDP-Manns gilt dem Paragraphen 247 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Die Bestimmung, die kleine Schuldner gegenüber mächtigen Geldverleihern stärkt, will Engelhard alsbald streichen. Kommt der Justizminister durch, wird manchem Kreditnehmer die Chance genommen, von sinkenden Zinsen zu profitieren.

Der Paragraph, den Engelhard auslöschen will, stammt aus dem vorigen Jahrhundert. Er schlummerte unbeachtet im Bürgerlichen Gesetzbuch, bis in den siebziger Jahren die Zinsen laufen lernten. Der Kapitalmarktzins stieg 1974 auf über zehn Prozent, fiel bis 1978 auf sechs runter, und kletterte 1981 schon wieder über zehn Prozent.

Wer sich 1974 oder 1981 langfristig verschuldet hatte, konnte später die beinahe täglich fallenden Zinsen nur mit Groll verfolgen. Er mußte die vertraglich vereinbarten, inzwischen viel zu hohen Zinsen zahlen.

Da entdeckte so mancher Schuldner den Paragraphen 247 im Bürgerlichen Gesetzbuch, den sogenannten Wucherzinsparagraphen. Unter der Überschrift »Kündigungsrecht bei hohem Zinssatz« steht da: »Ist ein höherer Zinssatz als sechs vom Hundert für das Jahr vereinbart, so kann der Schuldner nach dem Ablauf von sechs Monaten das Kapital unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von sechs Monaten kündigen.«

Zwölf bis 15 Prozent aller Kredite an Private, sechs bis sieben Prozent der Kredite an Unternehmen und die öffentliche Hand wurden nach 1977 gekündigt. Vor allem Hausbauer nutzten die altertümliche Bestimmung.

Geschädigt waren nicht alle Kreditgeber. Die Hypothekenbanken zum Beispiel können das Hochzins-Kündigungsrecht schlicht per Vertrag ausschließen, sofern die Darlehensmittel über Schuldverschreibungen besorgt wurden und deren Wiederanlage an gesetzliche Fristen gebunden ist. Den Sparkassen und den Landesbanken billigten neuerdings die Gerichte - unter bestimmten Umständen - ein gleiches Recht zu.

Den Geschäftsbanken nutzte die Rechtsprechung wenig. Sie können den störenden Paragraphen nur dadurch ausschalten, daß sie ihre Kreditkunden an eine zum jeweiligen Unternehmen gehörende Hypothekenbank weiterreichen;

diese Möglichkeit muß jedoch im Darlehensvertrag vereinbart sein.

Am härtesten trifft der geltende Paragraph 247 die Versicherungsunternehmen. Die leihen ihre Versicherungsgelder gern an Hausbauer aus und sind dabei schutzlos dem Kündigungsrisiko ausgesetzt.

Während die Geschäftsbanken wenig gegen den ärgerlichen Paragraphen unternahmen, starteten die Versicherer bereits 1978 einen Feldzug gegen die Gesetzesbestimmung. Der Sonderbeauftragte der Branche, Wolf Meister, der vordem im Vorstand der größten deutschen Versicherung Allianz gearbeitet hatte, machte sich an SPD-Justizminister Hans-Jochen Vogel ran. Beim FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff, vormals Vorstandsmitglied der Victoria-Versicherung, konnten die Herren ohnehin auf Verständnis hoffen.

Im Januar 1980 fertigte Vogel tatsächlich eine »Tischvorlage« für das Kabinett an, die »Forderungen aus dem parlamentarischen Raum sowie aus Kreisen der Wirtschaft« umsetzte, wie es in der Begründung hieß.

Gegen den noch widerstrebenden SPD-Finanzminister Hans Matthöfer aktivierte die Branche den inzwischen verstorbenen Sozialdemokraten Alex Möller, einen Freund von Bundeskanzler Helmut Schmidt, der jahrelang als Generaldirektor die Karlsruher Lebensversicherung geführt hatte. Der FDP-Abgeordnete Detlef Kleinert - nebenbei bei einer Reparatur-Versicherung im Lohn - jubelte: »Der 247 ist reif.«

Doch die Frucht blieb erst noch hängen; Industrie, Handel und Handwerk, die den kundenfreundlichen Paragraphen erhalten wollten, leisteten heftigen Widerstand.

Der nächste Anlauf begann 1982. Der Justizminister - Jürgen Schmude hieß er inzwischen - wurde mit Vorschlägen und Gutachten eingedeckt. Der Münchner Rechtswissenschaftler Claus-Wilhelm Canaris bescheinigte dem Paragraphen, er verstoße »gegen verfassungsrechtliche Grundrechte«. Auftraggeber des Gutachtens: zwei Verbände der Versicherungswirtschaft. Aber die sozialliberale Regierung traute sich nicht so recht, eine unter »Verbraucherschutz« firmierende Regel abzuschaffen.

Erst im Herbst 1985 sahen sich die Versicherer am Ziel. Justizminister Engelhard präsentierte den Verbänden einen offiziellen Gesetzentwurf. Er besticht durch die Beliebigkeit seiner Begründung: Einerseits hat »die einseitige Verlagerung des Zinsänderungsrisikos auf den Kreditgeber gesamtwirtschaftlich nachteilige Auswirkungen«; andererseits aber ist der Stein des Anstoßes gar nicht vorhanden. Engelhard: »In der wohl überwiegenden Zahl der Fälle wird das Kündigungsrecht auf die eine oder andere Weise vertraglich ausgeschlossen.«

Dennoch will der Minister das, was es angeblich kaum gibt, »auf ein angemessenes Maß« zurückführen. Kommt er damit durch, dann sind Hypothekenkredite und andere langfristige Darlehen künftig noch schwerer aufzulösen. Dem Kunden verbleiben nur zwei Kündigungstermine: am Ende einer vereinbarten Zinsbindungsfrist oder, das soll anderswo im Gesetzbuch erhalten bleiben, nach Ablauf von zehn Jahren. Dazwischen gilt: Der Kreditvertrag ist bindend, auch wenn die Zinsen sich halbieren.

Dem kreditnehmenden Teil des Volks versucht der Justizminister klarzumachen, die Änderungen seien für die Kundschaft eher von Vorteil. Ohne das Kündigungsrisiko wagten sich »neue Geldgeber in den Markt« und belebten das Geschäft. Kredite könnten billiger werden, weil keine »Zinsänderungsrisiken einkalkuliert« werden müßten.

Die Kreditnehmer sehen das anders. Es gebe überhaupt »kein Bedürfnis«, den Paragraphen 247 zu ändern, moserte der Bundesverband der Deutschen Industrie, die neuen Vorschriften seien ausgesprochen »überprüfungsbedürftig«. Die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucher sieht gar »eine entscheidende Verschlechterung der Rechtsposition der Verbraucher«.

Daß all dies vor allem der Versicherungswirtschaft zugute kommt, ist der offiziellen Begründung von Engelhards Gesetzentwurf im übrigen nicht mal zu entnehmen. Die Probleme der Assekuranz werden in der Ausarbeitung, die den Parlamentariern eigentlich die Willensbildung erleichtern soll, mit keinem Wort erwähnt. Sie werden nur wunschgemäß gelöst.

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