Angenehm wie Ofenrauch im Zimmer
Dr. Gert Raeithel, 34, ist Privatdozent für Amerikanistik an der Universität München. Seinem in der Zeitschrift »Merkur« veröffentlichten Aufsatz sind die folgenden Auszüge entnommen.
Sie sind so friedlich heute morgen,
Herr Wehner«, sagte der CDU-Abgeordnete Gradl am 5. Juni 1964. »Ja, bin ich auch!« erwiderte der Angesprochene. Ein atypischer Tag in Bonn.
Denn der Abgeordnete Herbert Wehner versprach, »Laut zu geben«, wenn ihm eine Sache schlecht, eine Entwicklung bedrohlich vorkommt. Das hat er getan. seit vielen, vielen Jahren. Das einzig ruhige Intervall in seiner parlamentarischen Laufbahn beginnt am 1. Dezember 1966, als die Große Koalition ihn zum Minister macht. Er übt sich in etwas, was keiner ihm zugetraut hat: Zurückhaltung. Mit Seufzen, sagt er, füge er sich in seine Kabinettsrolle. Er sei kein freier Mann als Minister. Seltsame Dinge geschehen. Nach seinen Reden vermerkt das Protokoll »Beifall im ganzen Haus«. Der CDU-Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel ruft ihm ein »Sehr wahr!« zu. Wehner überlegt, was er falsch gemacht hat, und fühlt sich immer weniger wohl.
Am 22, Oktober 1969, die sechste Wahlperiode beginnt, scheidet er aus dem Kabinett aus. Genau eine Woche darauf hält er eine Rede als Fraktionsvorsitzender, da ist er wieder in seinem Element: da tituliert er Zwischenrufer wieder mit einem barschen »Herr!«, da greift er wieder zu seinen kräftigen Bildern: »Sie haben erst einmal in die Hände gespuckt und dabei kräftig danebengespuckt.« Der CDU-Abgeordnete Rasner konstatiert: »Das ist der alte Wehner!«, und Wehner bestätigt ihm animiert die Richtigkeit dieser Erkenntnis, indem er sagt: »Spielen Sie sich bitte nicht auf, Herr deutscher Abgeordneter von der Wasserkante!«
Liebenswürdig ist das Eigenschaftswort, das Wehners Gemütsanlage am schlechtesten charakterisiert. Sein liebenswürdigster Zwischenruf lautet »Unter Ihrem Niveau!«, die harmlosesten sind »Unglaublich!«, »Das ist allerhand!«, »Unerhört so etwas!« Nur selten hat er es für nötig befunden, einen Zwischenruf wenigstens scheinbar noch zu entschärfen: »Wenn Sie nicht Professor Hallstein wären, würde ich meinen, das sei eine Gemeinheit.«
Selbst Parteifreunde hat er mit Zwischenrufen unterbrochen, teils auch lächerlich gemacht. Helmut Schmidt klagte einige Jahre nach Gründung der Bundeswehr die damalige Regierung an, sie habe die Soldaten nicht richtig ausgerüstet, nicht mit Waffen, Kasernen, Bekleidung. Wehner ruft dazwischen: »Sogar die Socken sind zusammengeschrumpft!«
Wenn er in Fahrt ist, unterbricht er den Redner, ihm oft nur ein paar angefangene Sätze lassend, bis zu zwanzigmal pro Bundestagsprotokollseite. Lautstärke, Häufigkeit und natürlich Qualität seiner Zwischenrufe haben ihm ein Maximum an Rügen und Ordnungsrufen eingebracht.
Man steht vor der paradoxen Situation, daß der Abgeordnete mit den meisten Ordnungsrufen der eifrigste und hartnäckigste Wächter eines genuinen Parlamentarismus in der Bundesrepublik ist. Wehner hat ein höchst persönliches Verhältnis zum Bundestag. Er bekennt offen, sich zu schämen, als an einem Freitag um halb drei der Plenarsaal so gut wie leer ist. Als ein Christdemokrat später stichelt, »Herr Wehner darf sich wieder schämen!«, schießt er zurück: »Das können Sie ja nicht! Das ist unser Unterschied, Herr!«
Das Parlament, so tut er immer wieder kund, darf keine Kulisse. kein Zirkus werden. Schroff trat er deshalb gegen alle parlamentsfeindlichen Worte und Taten der Regierung auf. Als vor der Regierungsbank einmal Unruhe herrschte, rief er aus seiner Bank heraus: »Kann man diesen Ringelpiez nicht einstellen? ... Können sich die hohen Herren nicht ans Parlament gewöhnen?! Wenigstens im neuen Jahr?!«
Er ist spontaner, allzeit bereiter Verteidiger der Redefreiheit, zumal seiner eigenen. 1956 sagt der Christdemokrat Heinrich Krone: »Jedes Wort hier in diesem Hause muß wohl abgewogen sein.« Wehner hakt sofort nach: »Aber es darf gesprochen werden.« Er spricht es. ob er darf oder nicht, und nicht alles ist wohl abgewogen. Doch vieles ist äußerst originell. Von Wehner stammen die Neuworte »überbarzeln« (= übertrumpfen) und »hineinkriminieren (= böswillig hineinlegen). »Kaltekriegsfreiwillige« dürfte auch eine Wehnerische Neuschöpfung sein. Die seltsamste Wortprägung, die je in Bonn zu Protokoll genommen wurde, stammt von ihm: »durchgecauxt«, gebildet nach der Schweizer Stadt Caux, dem Zentrum der Moralischen Aufrüstung.
Er kann es sehr genau nehmen mit Worten. Christdemokratische Finanzminister hätten niemals »vordergründige Polemik« betrieben, rühmt sich ein CDU-Abgeordneter. Wehner setzt nach: »Wie ist das mit der hintergründigen?« Oder: Kiesinger zitiert aus einer kleineren Zeitung in Süddeutschland und moralisiert: »Ja, solche Lektüre muß man treiben; man muß das Ohr am Volke haben.« Wehner: »Lesen Sie mit dem Ohr?«
Eines seiner liebsten Bilder ist das Lichtenbergsche Messer ohne Heft. dem die Klinge fehlt. Oder auch das Juckpulver, das jemandem in die Halskrause geschüttet wird. Längere Figuren drohen ihm zu mißraten. Einen Zipfel zu fassen hoffen, wenn der Mantel der Geschichte vorbeirauscht, das geht gerade noch. Aber die Berliner Mauer, die wie ein Pfahl in unserem Fleische steckt, ist ziemlich unmöglich. Am besten ist Herbert Wehner, wenn er sich kurz faßt. Wenn er einen Parteigenossen, der behauptet, die Strategie Erhards falle zusammen wie ein Kartenhaus, korrigiert: »Ich würde lieber sagen, wie ein nasser Sack.«
Ist ein Teil des Phänomens Wehner gastroenterisch zu erklären? Vielleicht leidet er unter einer sagen wir mal unspezifischen Form von Futterneid? Auffällig ist jedenfalls, wie häufig er gastronomische Begriffe heranzieht. Er hat Barzels Reden mit Salatöl verglichen und in Schmalz gebackene Wahrheit geheißen. Es fällt das Bild von Koch und Kellner. eine Gesetzesvorlage wird zu später Stunde serviert, den Unionspolitikern ruft er zu: »Sie möchten heute naschen!«
Gegen Zeitverschwendung im Parlament ist Wehner beinahe allergisch. Wenn er einen Redner für einen Schwätzer hält, dann unterbricht er ihn praktisch nach jedem angefangenen Satz. So erging es 1970 einem Abgeordneten namens Müller, der sich beim Abtritt noch Wehners höhnischen Rat gefallen lassen mußte: »Die Rede sollten Sie in Schweinsleder binden lassen«
Seine dominierende Stellung im Parlament verdankt Herbert Wehner unter anderem der Fähigkeit, rascher und treffender zu reagieren als andere. Während der Atomdebatte brüstet sich CDU-Krone: »Meine Damen und Herren, das deutsche Volk hat im September entschieden, wer hier im Hause die Mehrheit hat und wer nicht.« Wehner: »Aber nicht, daß Atomsprengköpfe angeschafft werden.«
Seine Schlagfertigkeit führte zu einem amüsanten Wortwechsel mit dem CDU-Abgeordneten von Wrangel. den Wehner gewöhnlich mit Herr Baron tituliert. Wehner: »Sie reden, als hätten Sie Theaterrezensent werden wollen!« -- Wrangel: »Herr Kollege Wehner, Theaterrezensent ist ein sehr ehrenwerter Beruf.« -- Wehner: »Deshalb sind Sie es auch nicht geworden!«
»Wir wollen jetzt über den Petersilienexport reden«, verlangt Wehner während einer Debatte über europäische Agrarprobleme. die ihn anscheinend langweilt. So macht er den parlamentarischen Alltag abwechslungsreicher mit Ironie, mit Ironie entlarvt er Stuß. Barzel sagt -- der Inhalt so dubios wie die Syntax -: »Wir sind bereit zum menschlichen Vorrang der Sicht mancher Probleme.« »Wie großzügig«. hellt Wehner dazwischen. 1958 fragt Erhard, als Wirtschaftsminister, mit geschwellter Brust: »... wer hat denn eigentlich Deutschland wieder aufgebaut?« Wehner: »Sie allein! Sie allein!« Die Grenzen von Ironie und Sarkasmus laufen bei ihm meist ineinander. Am häufigsten kommt Sarkasmus auf, wenn es um die Nazizeit geht. 1954 wird die Entschädigung von Soldaten debattiert, auch solchen der Legion Condor. allen, wie ein GB/BHE-Abgeordneter sagt, die »auf Befehl« ihr Leben eingesetzt haben. Da kommt ein Zwischenruf, nicht von Wehner: »Aber die Opfer der Nazis müssen warten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag!« Anstelle des perplexen Redners antwortet Wehner: »Weil die nicht auf Befehl gehandelt haben! Befehl ist das Entscheidende.«
Schier zahllos sind die ausfälligen Epitheta, mit denen er politische Gegner bedacht hat und noch bedenkt. Kiesinger -- Heldentenor; Barzel -- Brunnenvergifter. Pappkamerad. Schleimer, Schulmeister, Heuchler; Höcherl -- Spekulationsminister, kleiner Schäker, Abhörminister; Hallstein -- alter Doktrinär, pensionierter Europäer; Theo Blank -- Knilch; Rasner -- Strolch; Carstens -- Bankrotteur; Stoltenberg -- Phraseur; Stücklen -- schwarzer Ehrenmann; Jaeger Verleumder, berufsmäßiger; Katzer -- Feigenblatt für eine ziemliche Blöße der CDU: verschiedene -- miese Figur, Spießbürger. Tünnes. Pimpf. Quatschkopf, Dreckschleuder, Strizzi ...
Einige der Invektiven muß man in Zusammenhang mit der Herausforderung sehen. Die Mehrzahl seiner Beleidigungen muß man indes verurteilen, wenn man davon ausgeht, wie engagiert Wehner den demokratischen Parlamentarismus zu verteidigen pflegt. Das härteste aller Wehneriana war der Herausforderung nach freilich gerechtfertigt. Bei der Debatte über Atomsprengköpfe im März 1958 sagte Bundestagspräsident Gerstenmeier: »Also, meine Damen und Herren, in diesem Hause soll auch bei allen ernsten Debatten der Humor nicht ganz und grundsätzlich verdammt werden:« Wehner: »Spaß muß bei der Atomleiche sein.
Wehners Repertoire wird damit um ein Element erweitert: das Makabre. Nur verbindet es sich leider oft mit dem Drang, sich mit dem Unterleib des politischen Gegners zu befassen. Einem ungeduldigen Zwischenrufer wirft er vor, er solle das Wasser noch eine Weile halten. Einen anderen Kollegen lädt er ein, seine Blähungen ruhig loszuwerden. Die Union ist »geil« auf etwas, ruft er 1972 dazwischen, sie mache »mit dem Hintern kaputt«, was sie mit dem Mund habe aufbauen wollen. Als der christlich-soziale Todesstrafenbefürworter Jaeger, der in seinem Milieu unter dem Beinamen Kopf-ab-Jaeger bekannt ist, auch noch für ein striktes Pornoverbot eintritt, erfindet Wehner einen neuen, gewiß ordinären, aber unschlagbar treffenden Atrophismus: »Glied ab!«
Gern verwendet Wehner Anspielungen auf die Nazizeit, um politische Gegner bloßzustellen. »Sieg Heil!« sagt er in Richtung eines Redners, der seine eigene Politik lobt. Auch »Sportpalast!« und »Hier fehlt nur noch die Frage: Wollt ihr den totalen Krieg!« sind als Wehnerische Zwischenrufe in die stenographischen Sitzungsberichte eingegangen. »Von jeher sind in der Geschichte die großen Ereignisse schweigend und im Dunkel der Nacht gewachsen«, moduliert MdB von Merkatz. »Und frühmorgens um 5 hat dann der Rundfunk gesagt, daß in der Nacht etwas gewachsen sei!« paukt Wehner dazwischen.
Doch auch Wehners Antifaschismus ist gelegentlich der Parteiräson zum Opfer gefallen. Zum Beispiel am 26. April 1972, einen Tag vor dem mißglückten Mißtrauensantrag der Union gegen die Regierung Brandt. Ein CDU-Abgeordneter namens Haase nennt den damaligen Wirtschaftsminister Schiller in einer furiosen Zwischenrufsequenz zweimal Nazi, zweimal SA-Mann, zweimal Nazi-Professor, einmal Parteigenosse Schiller, zweimal Obernazi, einmal Professor von Hitlers Gnaden. Wehner verlangt: »Herr Präsident! Können Sie den Gnom der CDU nicht zurückweisen? Der Gartenzwerg ist los!«
Adenauer war einer der wenigen Redner. die sich vor Wehner nicht zu fürchten brauchten. In der Regel stellte sich Adenauer erfolgreich naiv und hatte die Lacher auf seiner Seite. Ein Unentschieden gab es, als Adenauer während der SPIEGEL-Affäre klagte, er selbst könne Vertrauliches nicht mehr fernmündlich aussprechen, weil offenbar abgehört werde. Wehners Zwischenruf »Da sind wir ja Leidensgenossen« quittierte er mit einem entwaffnenden »Ja eben« und sorgte damit für »anhaltende Heiterkeit«.
Wo Adenauer Wehner mit Naivität übertrumpfte, versucht Franz Josef Strauß einer Karambolage mit Wehnerischen Zwischenrufen möglichst auszuweichen. Beide hielten sich des öfteren gegenseitig vor, keinen Humor zu haben. Strauß nannte ihn abschätzig einen »großen Dialektiker«. während Wehner es sich nicht nehmen ließ, den CSU-Chef mehrfach mit seiner in New-York unter höchst komischen Umständen abhanden gekommenen Brieftasche aufzuziehen. Als Strauß ihm vorhält: »Ihnen fällt auch nichts Neues mehr ein!«, gibt Wehner ohne lange zu überlegen zurück: »Nein, nein! Wenn ich Sie sehe, darf mir auch nichts Neues einfallen.« Dabei hat Wehner öffentlich nicht einmal voll ausgesprochen, wie er über Strauß denkt, gewiß eine selten geübte Zurückhaltung: »Was Sie im Gesicht haben, wissen Sie Aber er sagte es nicht.
Angesichts des Kalibers seiner Invektiven ist Wehner eigentlich von allen, die er angriff und beleidigte, relativ mild behandelt worden. Der Freiherr zu Guttenberg. von Wehner mehrfach der Lüge und der Pose geziehen, vertraute seinem Tagebuch an, er fühle sich »als ein Freund Herbert Wehners«. Die meisten Bundestagsabgeordneten haben inzwischen gelernt, die Zitronen von Onkel Herbert mit Haltung zu verspeisen. Aber immer noch halten ihn viele im Parlament für ebenso angenehm wie den Ofenrauch im Zimmer. und immer noch ist der Beifall bei den Unionsparteien besonders, wenn sich einer der Ihren vom Rednerpult aus traut, Wehner zu tadeln.
Diese ambivalente Figur muß ambivalente Kritik finden. Zu seinen hervorstechendsten Widersprüchen gehört, daß der Pazifist Wehner eigentlich immer in Harnisch ist. Daß der Erzparlamentarier Wehner den Parlamentarismus durch seine Invektiven in Frage stellt. Er schlägt ein Leck ins Staatsschiff und hilft hernach selbstlos beim Kalfatern. Ein paar Wochen lang schreit alles Ach und Wehner. Doch merkwürdig: Bald sind Matrosen samt Kapitän und Reederei der Meinung, daß der geflickte Dampfer flotter läuft als zuvor. »Alle sind ihm immer erst hinterher dankbar«, erkennt Günter Graß« »auch seine Feinde.