ETHIKRAT Angst vor dem Dammbruch
Im entscheidenden Moment fehlten drei Geistesgrößen. Der eine musste dringend nach Hause, zwei andere waren nicht erschienen, als der Nationale Ethikrat zur Abstimmung schritt. »Ich habe in Wien einen Vortrag gehalten«, entschuldigte sich der Berliner Biologe und Bürgerrechtler Jens Reich, »den konnte ich doch nicht absagen, nur weil der Ethikrat tagt.«
So sprach das vom Kanzler persönlich einberufene Expertengremium am Donnerstag vergangener Woche eben nur mit 22 Stimmen - Gerhard Schröder war allein wichtig, dass die Empfehlung so ausfiel, wie er es erhofft hatte: Deutschland solle, wenn auch unter gewissen Auflagen, den Import von menschlichen embryonalen Stammzellen (ES-Zellen) zulassen und damit dem Drängen von Wissenschaftlern, Biotech-Firmen und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) nachgeben.
DFG-Präsident Ernst-Ludwig Winnacker war mit dem Ergebnis denn auch sichtlich zufrieden - als Mitglied des Ethikrates hatte der treuherzige Professor pikanterweise in eigener Sache abgestimmt.
Vierzehn zu acht lautete am Ende das Votum der Ethik-Experten - und es überraschte nicht wirklich: »Das war doch eine reine Abnickrunde«, kritisierte Hubert Hüppe, Gentechnik-Kritiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Selbst Michael Naumann, bis vor einem Jahr noch des Kanzlers Staatsminister für Kultur, sprach angesichts der Übermacht von ausgewiesenen Gentechnik-Fans in dem 25er-Kreis von einem »pharmazeutisch-industriellen Legitimationsrat«.
Noch aber ist keineswegs ausgemacht, ob Schröder und seine ebenso fortschrittsgläubige Forschungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) mit der nun abgesegneten Linie tatsächlich durchkommen. Schneller, als es vielen in der SPD und bei den Grünen lieb ist, hat er in den vergangenen Monaten versucht, die Tabugrenzen in der Gentechnik zu verschieben. Doch am Ende, das weiß der Kanzler, entscheidet das Parlament - und das ist in dieser sensiblen Frage ähnlich gespalten wie einst beim Abtreibungsparagrafen 218.
Hin- und hergerissen sind alle Fraktionen. Sollen sie dem Votum der Schröder-Runde folgen? Oder doch lieber die Bedenken beherzigen, die vor wenigen Tagen die eigene Enquete-Kommission des Bundestags formuliert hat? Das Dilemma der 666 Parlamentarier: ES-Zellen gelten als Zauberelixier einer zukünftigen Medizin, als potenzieller Rohstoff für ein Ersatzteillager des menschlichen Körpers. Gleichzeitig lassen sich diese Wunderzellen nur durch die Tötung von Embryonen gewinnen.
Niemand wagt eine Prognose, wie die Mehrheitsverhältnisse am Ende ausfallen werden - weder bei den Grünen noch bei der SPD. Die Genossen wollen ihre Parlamentarier in jedem Fall vom üblichen Fraktionszwang entbinden. Nirgendwo ist die Zerrissenheit aber derart groß wie bei der Union.
Auf der einen Seite stehen die wenigen offensiven Befürworter der Gentechnik wie Peter Hintze. Für den einstigen Generalsekretär sind »die Heilungschancen schwerkranker Menschen bedeutsamer als der Schutz einer biologisch abgeschalteten, befruchteten Eizelle in einem Tiefkühlbehälter«. Auf der anderen Seite stehen Hardliner wie Hubert Hüppe, die vor einem »Dammbruch« warnen und verhindern wollen, »dass menschliches Leben zur Handelsware wird«.
Ziemlich skeptisch stehen auch die meisten Mitglieder des Fraktionsvorstandes um Fraktionschef Friedrich Merz dem Zell-Import gegenüber. Vor allem seit den jüngsten Klonversuchen mit Embryonen in den USA (siehe Seite 238) hat Fraktionsvize und Gentechnik-Expertin Maria Böhmer »eine neue Nachdenklichkeit« ausgemacht.
Führende CDU-Parlamentarier wie Merz-Stellvertreter Wolfgang Bosbach plädieren deshalb dafür, lieber mit den Stammzellen von Erwachsenen oder mit Zellen aus Nabelschnurblut zu forschen: »Das ist ethisch unbedenklich und verspricht nach Ansicht vieler Forscher ähnliche Erfolge.«
Doch während die CDU-Abgeordneten noch heftig debattieren, bereitet ausgerechnet die Schwesterpartei CSU einen erstaunlichen Kurswechsel vor. Lange trug die CSU den Schutz der Menschenwürde wie eine Monstranz vor sich her, doch Ende dieser Woche berät der CSU-Vorstand über ein 17-seitiges Papier der Grundsatzkommission, maßgeblich verfasst von Alois Glück, Chef der Landtagsfraktion, und Ex-Gesundheitsminister Horst Seehofer.
Die beiden CSU-Politiker empfehlen, ähnlich wie der Ethikrat, den Import von Stammzellen zuzulassen, nur in einem entscheidenden Punkt sind sie wesentlich strikter: Während das Schröder-Gremium auch den Import von Stammzellen aus neu geschaffenen Zell-Linien erlauben will, möchten die Christsozialen nur Stammzellen ins Land lassen, die aus bereits existierenden Zell-Linien stammen. Als ethisch vertretbar gelten dabei jene 65 Linien, deren Erforschung US-Präsident George W. Bush, wie er im August verkündet hat, in den USA finanziell fördern will.
Die deutschen Stammzellforscher könnten wohl auch mit einem solch »modifizierten Ja« leben, wie es Peter Hintze nennt. Denn sie würden lieber heute als morgen mit der Forschung beginnen.
So hat der Kölner Neurophysiologe Jürgen Hescheler bereits ein unterschriebenes Kooperationsabkommen mit der Technion-Universität im israelischen Haifa in der Schublade liegen. Dabei geht es um die Erforschung von Herzmuskelzellen, die aus ES-Zellen gezüchtet werden. Auch die Deutsch-Israelische Stiftung für wissenschaftliche Forschung und Entwicklung will dafür Geld bereitstellen.
Sollte der Bundestag im Januar sein Plazet geben, dann, so Hescheler, »werden die ersten Zellen binnen weniger Tage nach Köln geschickt«. JÖRG BLECH, ULRICH SCHÄFER, GERALD TRAUFETTER