Die Nachricht, die Hans Berger erreicht, ist eine Wohltat an diesem grauenhaften Vormittag. Der Kanzler hat in der morgendlichen Fraktionssitzung seinen Namen in freundlichem Ton erwähnt.
Das freut den Belobigten. Spitzbübisch lächelnd läßt sich der Chef der IG Bergbau und Energie im Sessel zurückfallen und entspannt sich zum erstenmal seit Tagen.
Nun wird alles gut, nun kehrt die fast schon verlorene Gewißheit wieder: Mit seiner Kompromißbereitschaft liegt er richtig; sämtliche Kumpel werden ihm noch, wie so oft, auf Knien danken für sein Verhandlungsgeschick.
Seine Kanzler-Nähe und seine Nachgiebigkeit haben ihm die Bergleute zuletzt furchtbar übelgenommen. Unvergessen, daß Berger im Juni mit Helmut Kohl zur Fußball-Europameisterschaft nach London gefahren ist - was verbindet Männer mehr? Oder die gemeinsame Asienreise im vergangenen Oktober - war das nötig? Diese Eintracht ist Verrat, finden die Kumpel von der Ruhr bis an die Saar. So sind sie per Motorrad, Auto oder Bahn selbst nach Bonn geeilt und halten drei Tage lang das Regierungsviertel besetzt.
Von solchen Machtdemonstrationen träumen andere Gewerkschaftsführer ein Leben lang. Für den ordnungsbedachten Berger ist der Aufmarsch der 80 000 Ruhr-Bergleute ein Alptraum.
Unsicher und verängstigt duckt er sich auf der Lkw-Bühne hinter Rudolf Scharping und Oskar Lafontaine, die wortgewaltig Solidarität mit den Kumpeln üben und zum Glück auch mit Berger. »Ich wußte, ein falscher Ton genügt, und die holen mich da runter«, sagt er später erleichtert.
»Judas«, »Lügner«, »Betrüger«, schreien die um ihren Job bangenden Bergleute Berger entgegen. Nervös suchen seine Augen in der Menschenmenge die Ordner, die Zeichen geben sollen, falls Bergleute in Rage geraten, weil er ihnen abverlangt, sich nach Köln in die Etappe zurückzuziehen.
Lafontaine ist Bergers Retter. In einer flammenden Rede fordert er, »die Regierungsflaschen« zu entsorgen, zieht über »Sesselfurzer« her und bittet die Kumpel um Nachsicht für ihren mutigen Vertreter, den kleinen, kompakten Hans Berger. »Danke«, flüstert ihm Berger zu, »vielen Dank, Oskar.«
Soviel Charisma wie der SPD-Vorsitzende hätte der IG-Bergbau-Chef auch gern. Weder seine chronisch heisere Stimme noch seine Statur gibt den Auftritt als Klassenkämpfer her.
Kein Kumpel hält Berger auf, niemand klopft ihm auf die Schulter, als er sich nach der lautmalerischen Kundgebung mit Lafontaine in die nordrheinwestfälische Landesvertretung im Schatten des Kanzleramtes zurückzieht. »Wer ist das denn?« spotten die Bergleute, während er die Absperrgitter passiert.
»Ich kann die Kumpel verstehen«, meint Berger tapfer. »Die haben Angst heimzufahren und von ihren Frauen gefragt zu werden, wie es weitergeht.« Schließlich war er, ehe er zum Gewerkschaftsfunktionär aufstieg, selbst für ein paar Jahre Kumpel.
1953 fuhr er, da war er 15, als Berglehrling auf der Grube Anna 1 in Alsdorf ein; er wurde erst Knappe, dann Hauer. Sein Hörgerät am linken Ohr ist eine Erinnerung ans Dasein als Proletarier: »Das kommt vom Grubenlärm.«
»Man muß die Psyche der Kumpels kennen«, sagt ihr erster Repräsentant. Weil er sie kennt, verschanzt er sich tagelang in der Düsseldorfer Landesvertretung. Er verhandelt mit Politikern, fährt zur Gewerkschaftssitzung nach Bochum und zum Schlafen ins Bonner Hotel Maritim.
Als der Kohle-Kompromiß endlich gefunden ist, atmet Hans Berger auf. Jetzt nur noch die lästige Pressekonferenz, dieses Affentheater, die Interviews. Raus will er, sagt er, ins wirkliche Leben. Doch zu den wartenden Bergleuten nach Köln schickt er sicherheitshalber einen Stellvertreter.
Erleichtert ist er am Ende und erlöst: Die Betriebsratsvorsitzenden und Vertrauensleute, die er sofort unterrichtet hat, feiern ihn mit stehenden Ovationen. Auch die Vertrautheit zum Kanzler ist wieder hergestellt. »Der hat gleich gescherzt, als wir heute morgen zusammenkamen. Ihr seid doch sicher frisch, ihr kommt doch aus dem Schwimmbad ...« Als Berger das wilde Hupen der Motorräder hört, wird er ein letztes Mal nervös. Kommen etwa unzufriedene Kumpel nach Bonn zurück? Nein, sie drehen nur eine Ehrenrunde vor der Heimfahrt ins Revier.
So wendet sich Hans Berger, der ja auch für die SPD im Bundestag sitzt, seinem Alltag zu. An diesem Freitag stehen noch zwei namentliche Abstimmungen im Parlament auf der Tagesordnung. Welche? Keine Ahnung, darum wird Berger sich gleich kümmern.
Gemütlich schlendert er zum Parlament, ganz so, als habe es die wilden Tage am Rhein nie gegeben.