Angst vor der Endzeit
Einmal hat sich Annette, 44, den Handrücken angeleckt; sie wollte eine Briefmarke befeuchten, ohne sie mit der Zunge zu berühren. Sogar dieses schonende Experiment scheiterte: An der Stelle, wo der Klebefalz ihre Haut berührte, »habe ich monatelang einen Ausschlag gehabt«.
Wieder hatte »die Gifterei« der Frau übel zugesetzt, aber das ist sie gewohnt. Gifte lauern überall auf sie, in jedem Büro, in der S-Bahn, in Restaurants. »Wenn eine Giftdusche kommt, bin ich für Tage erledigt.« Dann quälen sie Kopf- und Gelenkschmerzen, sie kann sich kaum noch konzentrieren, ihre Augen verquellen.
Inzwischen trinkt die Diplompsychologin weder Bier noch Wein, denn »da sind Stoffwechselprodukte von Pilzen« drin. Im Mineralwasser wuseln »Sulfate«, die ihr Kopfweh bereiten, daher schlürft sie nur Leitungswasser. Kaffee ist tabu wegen des Koffeins, Säfte erträgt sie nur, wenn sie aus biologischem Anbau stammen. Ihren Körper hält Annette für eine Art Bioindikator: Wenn sie Eier esse, könne sie an ihrer Reaktion deren Herkunft feststellen. Gesund bleibe sie nur bei Eiern von Öko-Hühnern.
Vor fünf Jahren hat ihr Leiden begonnen. Einfach so, mit 39, seien Wechseljahrsbeschwerden über sie gekommen. Sie arbeitete damals als Dozentin in der Erwachsenenbildung. Doch immer wieder stand sie vor der Klasse und war sprachlos, sie fand beim Reden die Worte nicht. Ihren Job mußte sie aufgeben. Die Ursache für diesen Zustand glaubt sie genau zu kennen: Amalgam. Eine einzige Amalgam-Füllung trug sie im Mund, und die habe sie vergiftet.
Ein solcher »Chemieunfall«, wie sie sagt, ziehe weitere nach sich. Wer einmal vergiftet sei, »der kann andere Gifte nicht mehr abbauen«. Annette reagiert jetzt auf »Baumharze, Formaldehyd und Zigarettenrauch, auf alle Gewürze außer Salz und Muskat und auf Tageszeitungspapier«. Daß kein Mediziner jemals erhöhte Giftwerte in ihrem Körper gefunden hat, ficht sie nicht an: Sie sei eben »besonders empfindlich«.
Verglichen mit den 20 Mitgliedern ihrer »Arbeits- und Selbsthilfegruppe _(* Am 14. Juli vor dem französischen ) _(Konsulat in Hamburg. )
Umweltkrankheiten« in Hamburg geht es Annette noch gut. Eine der Frauen kann nur fernsehen, wenn das Bild von einer Antenne eingefangen wird, Kabelfernsehen dagegen macht sie krank. Andere haben ihre Möbel weggeworfen, weil sie »Baumharz« nicht mehr aushalten. Einer wähnt sich FCKW-vergiftet, einige fürchten »Plastikausdünstungen« und schaffen sich deshalb mit Stahl ausgekleidete Kühlschränke an.
Die meisten sind arbeitsunfähig seit Jahren.
Jetzt will die Gruppe ein eigenes Beratungszentrum eröffnen, doch bei der Suche nach einer Lokalität gibt es Probleme: Es findet sich kein Raum, in dem es alle vermeintlichen Opfer von Umweltgiften aushalten können - einem stinkt es immer. Mal ist behandeltes Holz schuld, dann sind es chemiebelastete Teppiche, PVC, Elektrogeräte, Hochspannungsleitungen, Straßen.
Patienten wie diese bevölkern zunehmend die umweltmedizinischen Beratungsstellen. Für die Ärzte sind sie eine schwierige Klientel: Die Kranken bestehen darauf, vergiftet zu sein - doch in den meisten Fällen sind sie es nicht: Ihre Werte an DDT, Lindan, PCP, Quecksilber oder halogenierten Kohlenwasserstoffen liegen nicht höher als beim Rest der Bevölkerung.
Eine »psychogene Massenreaktion« beobachtet der Münchner Toxikologe Thomas Zilker. In einer Odyssee, die Mediziner »Doctor-Shopping« und »Expert-Killing« nennen, hasten die Patienten von Arzt zu Arzt - und »kanzeln jeden als unfähig ab, der ihnen keinen Vergiftungsbefund ausstellt«. Viele besuchen Dutzende, gar Hunderte Arztpraxen, besessen vom Gedanken, mit Gift vollgepumpt zu sein. »Das Wahngebäude dieser Patienten«, so der Lübecker Psychiater Horst Dilling, »hätten früher Hexen und Dämonen bewohnt.«
Den Trend zur Hysterie belegt auch eine vor wenigen Wochen vorgelegte Studie der Universität Erlangen-Nürnberg. Die meisten Patienten, die sich im Laufe eines Jahres in der dort eingerichteten Umweltambulanz meldeten, führten ihre Kopfschmerzen, Allergien oder sonstigen Leiden auf quecksilberhaltige Amalgam-Plomben im Mund zurück; auf der Hitliste der toxischen Übeltäter folgten Wohngifte (Holzschutz- und Lösemittel) und Elektrosmog.
Knapp 100 Patienten wurden durchgecheckt. Der verblüffende Befund: Bei keinem einzigen Umweltopfer konnten die Erlanger Ärzte eine überdurchschnittlich hohe Schadstoffbelastung feststellen. Weder war auffällig viel Quecksilber im Urin und Blut nachweisbar, noch fanden sich in den Körpersäften vermehrt PCP oder Lindan.
Fündig wurden die Umweltmediziner dafür bei der anschließenden psychologischen Untersuchung: Der Prozentsatz psychiatrischer Störungen lag bei den Patienten der Umweltambulanz dreimal höher als in der Allgemeinbevölkerung. Die meisten litten unter Neurosen, psychosomatischen Störungen oder Depressionen - eine Diagnose, die kaum einer der eingebildeten Umweltkranken akzeptieren mag.
Der neue Patiententypus des Ökochonders ist nur der Vorbote einer viel breiteren Volksbewegung. Auch mehr und mehr Deutsche, die unter gar keinen akuten Beschwerden leiden, sehen in ihrem Körper eine Art Sondermülldeponie, die es zu entsorgen gilt.
Ohne Not lassen sich Tausende von Gesunden ihre Amalgam-Plomben aus den Zähnen reißen. Sie halten die quecksilberhaltigen Füllungen gleichsam für Zeitbomben, die später einmal Migräne, Asthma und Atemnot auslösen könnten. Geschürt werde die Amalgam-Hysterie von »Minderheiten und Panikmachern, die mit ihren Horrormeldungen überproportional Gehör finden«, kritisiert der Zahnmedizin-Professor Jean-Francois Roulet von der Berliner Charite.
Andere Öko-Sensible lassen nicht nur ihr Gebiß, sondern gleich ihr ganzes Haus sanieren oder es - aus Furcht vor Allergenen - vom Boden bis zum Keller mit Stanniol auskleiden. Nach dem Selbstmord ihres Mannes litt eine Lehrerin aus Bremen unter starken Kopfschmerzen und Depressionen. Sie führte ihre Beschwerden auf giftige Chemikalien im Eigenheim zurück und ließ die Wände mit Öko-Farbe streichen - besser ging es ihr hinterher trotzdem nicht.
Immer mehr Deutsche fürchten auch, unsichtbarer Elektrosmog, der aus Handys, Radioweckern und Strommasten entweiche und das Land überflute, könne bei ihnen einen Krebs wuchern lassen.
Mit ihrer Umweltangst haben viele Ältere ihre Kinder angesteckt. Monatelang wies ein Achtjähriger Obst und Gemüse zurück, weil er fürchtete, sich zu vergiften. Eine Gymnasiastin weigerte sich aus Angst vor Atomverseuchung, ihr Elternhaus zu verlassen, und hüllte sich von Kopf bis Fuß in Plastik ein.
Einen »rasanten Anstieg der Umweltängste« bei Kindern und Jugendlichen verzeichnet eine neuere Langzeitstudie der FU Berlin. Während Kriegsfurcht und Sorgen um den Arbeitsplatz zwischen 1985 und 1992 »erheblich abgenommen« hätten, habe die Angst vor Umweltzerstörung den »ersten Rangplatz erklommen«; sogar die Angst vor dem eigenen Tod verliere demgegenüber an Bedeutung.
Eine »regelrechte Endzeitstimmung« registrierten die Journalistinnen Christiane Grefe und Ilona Jerger-Bachmann, als sie für ein Buch über Umweltängste Kinder und Jugendliche interviewten. »Wenn ich groß bin«, plauderte Clemens, 11, ins Mikrofon, »gibt es kein einziges grünes Fleckchen mehr, nur noch Straßen.« Sein Klassenkamerad Andreas äußerte die apokalyptische Vermutung, »im Jahr 2000 gibt es kein Wasser mehr und nicht mehr genug Sauerstoff«. Dann, so prophezeite der Steppke, »erstickt man in der eigenen Welt«.
So drastisch würden es Erwachsene nicht formulieren. Und doch spiegeln die Kinderängste Gedanken und Themen wider, die die Kleinen zu Hause oder in der Schule von Eltern und Lehrern aufgeschnappt haben. Die Deutschen im Öko-Fieber - da schießt nun so manches übers Ziel hinaus, und Widersprüche brechen auf, die der Öko-Bewegung selber an den Nerv gehen.
Unfähig, wirkliche Umweltzerstörer wie den Massentourismus oder den Straßenverkehr einzudämmen, fahnden die Deutschen nach dem letzten Schadstoffmolekül hinter der Tapete.
»Da ist eine Familie mit Kleinkindern ständig im Auto unterwegs, setzt sich während der Urlaubsreise in stundenlangen Staus den hochgefährlichen Benzoldämpfen aus«, wundert sich der Düsseldorfer Umweltmediziner Heribert-Florian Neuhann, »aber daheim fürchten die Leute, der Kleiderschrank könnte Formaldehyd ausdünsten.« Kaum weniger unsinnig ist es, wenn Eltern ihre Kinder in die von Zigarettenqualm verpestete Stube verbannen, weil die Ozonbelastung im Freien zu hoch sei.
»Die Rangfolge der wahrgenommenen Risiken«, kommentierte die Zeit, »entspricht oft nicht der Rangfolge der wirklichen Risiken.«
Doch so unspezifisch sich manches Öko-Zipperlein auch anhören mag, seien es Kopfschmerzen, Herzrasen oder Magenbeschwerden - die Betroffenen sollten ernstgenommen werden.
»Wenn Menschen Risiken für real halten, dann sind sie real«, hat der Soziologe Ulrich Beck bereits 1986, im Jahr der Tschernobyl-Katastrophe, gemahnt. Tatsächlich haben sich, gleich einer zitternden Seismographenkurve, Umweltängste und Öko-Hysterien in den letzten zwei Jahrzehnten stets parallel zur öffentlichen Debatte über wachsende Umweltprobleme ausgebreitet.
So nahmen in den ersten drei Jahren nach dem Reaktorunfall in der Ukraine unter den Bundesbürgern die Ängste vor Atomunfällen drastisch zu. Etwa seit 1989 jedoch, als die Menschen von der herannahenden Wiedervereinigung abgelenkt wurden, zeigen Umfragen eine stetige Verflüchtigung der Nuklearängste.
Statt dessen kamen andere Öko-Sujets wieder nach vorn: Themen wie Artenschutz, Meeresverunreinigung oder Treibhauseffekt - und auch dabei verrutschten nicht selten die Maßstäbe zwischen Wirklichkeit und Illusion.
Ein Paradebeispiel dafür war in diesem Sommer der von Greenpeace angezettelte Protest gegen die geplante Versenkung der Shell-Ölplattform »Brent Spar«. Der Boykott von Shell-Tankstellen, vor allem in Deutschland, zwang den Ölmulti in die Knie.
Inzwischen hat Greenpeace eingeräumt, einen Popanz aufgebaut zu haben. Der Vorwurf, an Bord der ausgedienten Plattform befänden sich noch 5500 Tonnen Öl und Ölrückstände, beruhe auf einem Meßfehler, gaben die Öko-Kämpfer kleinlaut zu. Tatsache bleibe aber, so Greenpeace, daß an Bord der »Brent Spar« ein Giftschlamm aus Schwermetallen und PCB lagere.
Nur: Wie gefährlich wäre es wirklich, diese begrenzte Menge Dreck im Nordatlantik zu versenken?
Im Fachblatt Nature wiesen die Meeresforscher Evan Nisbet und Mary Fowler darauf hin, daß Schwermetalle in weiten Bereichen der Ozeane in großen Mengen aus heißen Quellen aus dem Boden strömen; gerade in diesen Gebieten gedeiht ein reiches Tiefseeleben. »Die Bakterien des Meeresbodens«, schrieb Nature sarkastisch, »würden die Ankunft der »Brent Spar« so willkommen heißen, als ob all ihre Weihnachtsfeste auf einmal stattfänden.«
Die »Brent Spar«-Aktion mit ihrem Symbolwert hat viele Menschen alarmiert - aber zugleich führten, wie die Londoner Wissenschaftler kritisieren, Spektakel wie diese auch dazu, daß die »dringendsten Umweltprobleme«, wie die verheerende Überfischung der Nordsee, aus dem Blickfeld geraten.
Die Seeschlacht um das rostige Stahlgerippe hätte Anlaß bieten können, über die alltägliche, weit schlimmere Nordsee-Verschmutzung zu diskutieren, die durch den ganz normalen Betrieb von Ölbohrinseln und Tankern entsteht. Doch solche Fragen gingen im »Brent Spar«-Rummel unter.
Und auch die deutschen Autofahrer, die aus Protest gegen den Umweltverschmutzer Shell bei Aral tankten, wollten lieber nicht daran erinnert werden, daß sie selber die Nordsee verdrecken: Ihre Fahrzeuge verbrennen den Treibstoff nicht vollständig; der unerledigte Rest entweicht in die Luft und geht teilweise über dem Meer nieder - ein Eintrag von jährlich 20 000 Tonnen Öl.
Wie wenig die Scheinheiligen wirklich bereit sind, etwas für die Umwelt zu tun, zeigt die Pleite des verbrauchsarmen Öko-Golfs. Zwei Jahre nach seiner Einführung mußte VW den Golf Ecomatic, dessen Dieselmotor sich automatisch bei starkem Gefälle oder vor Ampeln abschaltet, wieder vom Markt nehmen - die Händler hatten fünfmal weniger Exemplare verkauft als erwartet.
Wenn unter Durchschnittsbürgern Öko-Fragen erörtert werden und über die Ursachen der Umweltzerstörung debattiert wird, herrschen allenthalben Verwirrung und Ratlosigkeit.
Da mischen sich Fernsehaufnahmen, eigene Beobachtungen und Zeitungsnotizen zu einer Melange aus fragmentiertem Wissen und diffusen Ängsten. War das Kratzen im Hals letzten Sommer eine gesundheitliche Reaktion auf den grassierenden Ozonsmog? Wird das Waldsterben mittlerweile nicht schon in dem zerrupften Kiefernhain am Stadtrand sichtbar? Sind die heißen Sommertemperaturen der letzten Jahre Vorboten der beginnenden Klimakatastrophe?
Auf die meisten dieser Fragen gibt es keine klaren Antworten - weder im Großen noch im Kleinen. Denn quer durch alle Disziplinen, ob unter Atomexperten, Toxikologen oder Medizinern, toben Glaubenskriege, die besorgte Bürger vollends verunsichern müssen.
Da macht Thomas Zilker vom Münchner Klinikum rechts der Isar unter seinen Ärztekollegen »Verharmloser und Laborgläubige auf der einen, Umweltapostel und Umweltapokalyptiker auf der anderen Seite« aus - beide Fronten verharren unverrückbar auf ihren liebgewordenen Positionen.
Die verunsicherten Deutschen sehen sich einem Dauerbombardement von chemischen Giftstoffen aus Wasser, Boden oder Luft ausgesetzt. Jeder zweite glaubt deshalb nicht mehr daran, so das Ergebnis einer aktuellen Umfrage, daß es möglich sei, gesund zu leben.
Genährt wird eine solche fatalistische Weltsicht durch immer genauere Meßverfahren, die es inzwischen ermöglichen, trillionstel Gramm (Attogramm) einer Substanz zu erfassen: genau genug, um ein Stückchen Würfelzucker nachzuweisen, das im Mittelmeer aufgelöst wird.
Das Aufspüren kleinster Schadstoffmengen hat zur Folge, daß überall alles gefunden wird. Ärzte können in Blut und Urin eines jeden Deutschen Substanzen aufspüren, deren Namen alarmierend klingen: Dioxine, Furane, Schwermetalle, Pflanzenschutzmittel. »Der Nachweis einer Substanz wird gleichgesetzt mit einer Erkrankung«, sagt der Erlanger Mediziner Jürgen Angerer, »das ist kompletter Unsinn.«
Das bloße Vorhandensein eines Schadstoffs besagt beispielsweise noch nichts über das Krebsrisiko. Andernfalls hätte die Menschheit längst am Verzehr von Obst und Gemüse zugrunde gehen müssen.
Denn auch Pflanzen produzieren giftige Substanzen, von denen Ratten im Tierversuch Tumoren bekommen. Mit diesen natürlichen Pestiziden schützen sich die Gewächse gegen Pilze oder Insekten. Wer solche krebserregenden Stoffe vermeiden wollte, dürfte weder Äpfel noch Birnen, weder Kohl noch Kartoffeln essen.
Schier endlos streiten die Wissenschaftler darüber, in welchen Mengen die einzelnen Schadstoffe gesundheitsgefährdend wirken können. Während die eine Fraktion meint, schon die kleinste Spur sei schädlich, halten es die Kontrahenten mit Paracelsus: »Die Dosis macht das Gift.«
Ein Beispiel für diesen Dissens liefert die seit Jahren unentschiedene Debatte um die Sanierung asbestverseuchter Gebäude. Viele Milliarden Dollar Steuergelder, so befand das Wissenschaftsmagazin Science, würden auf diese Weise »verschwendet«.
Mit großem Aufwand wird der Dämmstoff seit einigen Jahren aus Bürogebäuden, Schulen und Krankenhäusern gerissen. Die Säuberungsaktion erinnert an Aufräumarbeiten im Atomkraftwerk: luftdichte Schleusen, Vakuumpumpen, Arbeiter in staubdichten Schutzanzügen. Schätzungsweise 20 Milliarden Mark wird in Deutschland allein die Asbestsanierung öffentlicher Gebäude verschlingen.
Die Asbestgefahr werde oftmals »zu hoch veranschlagt«, was »unnötige Entsorgung« zur Folge habe, mahnte vor einigen Jahren bereits das Deutsche Ärzteblatt. Einige Kritiker gehen inzwischen noch weiter: Die Sanierung eines asbestverseuchten Gebäudes, so ihre ketzerische These, schadet mehr, als sie nutzt.
Rückendeckung erhielten die Zweifler vor einigen Monaten durch einen Bericht der American Health Foundation, für den sämtliche Daten und Berichte über die bisherige, insgesamt 150 Milliarden Dollar teure Sanierung asbestverseuchter öffentlicher Gebäude in den USA ausgewertet worden waren. Die Gutachter stießen vielfach auf fehlerhafte, viel zu hohe Messungen der Asbestkonzentration in der Raumluft; in den meisten Fällen bestand gar kein Unterschied zur städtischen Außenluft.
Meist erst durch das Entfernen der Dämmstoffe aus der Wandverkleidung wurden Milliarden der gefährlichen Fasern freigesetzt - in einem Fall lag die Asbestbelastung noch ein halbes Jahr nach Abschluß der Sanierungsarbeiten _(* Fichten-Aufzucht in ) _(Test-Gewächshäusern mit normaler und ) _(schadstofffreier Luft. )
dreimal so hoch wie vorher. »Erst bei der Demontage treten hohe Faserkonzentrationen auf«, bestätigt Hartmut Ising vom Umweltbundesamt.
Das Fazit der US-Studie lautet: Höchstens zwei von insgesamt 150 000 Lungenkrebs-Fällen in den USA pro Jahr sind auf Asbest zurückzuführen - und nicht einmal das ist sicher. Für die Gesundheit der Bevölkerung bringt eine Asbestsanierung keinen Nutzen.
Asbest ist ohne Zweifel eine hochgefährliche Substanz. Kleinste Fasern, mit der Luft eingeatmet, können die unheilbare Lungenkrankheit Asbestose und verschiedene Formen von Krebs auslösen. Tausende von Werft- und Bauarbeitern, die in Asbestminen und bei der Herstellung von Dämmplatten oder Bremsbelägen mit dem Stoff in Berührung kamen, sind an Lungenkrebs gestorben. Sie standen aber auch stundenlang in einem dichten Nebel von Millionen von Fasern pro Kubikmeter Luft.
Auch die um Größenordnungen niedrigeren Konzentrationen in öffentlichen Gebäuden bergen ein gewisses Krebs-Risiko; schon eine einzige Faser kann einen Tumor wuchern lassen. Doch die Gefahr ist verschwindend gering: Zweitausendmal größer ist rein rechnerisch für Kinder das Risiko, beim Schulsport ums Leben zu kommen als durch Asbestfasern, die während des Unterrichts von der Decke rieseln.
Entgehen kann man dem allgegenwärtigen Asbest ohnehin an keinem Ort der Republik mehr. Emissionen aus Industrie und Gewerbe, aber auch die Verwitterung alter Asbestzementplatten haben die Fasern flächendeckend über das ganze Land verteilt; in einem Kubikmeter Luft finden sich durchschnittlich hundert dieser winzigen Nadeln. Ein niedrigerer Wert läßt sich durch keine Sanierung erreichen - meist besser also, das Asbest bleibt hinter den Zimmerwänden und Deckenverkleidungen gleichsam versiegelt.
Die Devise »Besser ruhen lassen, wo es ist« könnte auch für ein anderes Schadstoff-Deponat richtig sein, das die Gemüter erregt: Vor wenigen Wochen beschloß der Bundesausschuß für Zahnärzte und Krankenkassen, daß der silbriggraue Füllstoff Amalgam nur noch in Ausnahmefällen verwendet werden darf. Millionen von Löchern in deutschen Zähnen sollen künftig mit Kunststoff abgedichtet werden.
Die weitreichende Entscheidung war der bislang größte Triumph der Amalgam-Gegner. Seit Jahren hatten Heilpraktiker, Verbraucherschützer und Boulevardblätter die Angst vor einer Amalgam-Vergiftung geschürt. Besonders hervor tat sich der Münchner Toxikologe Max Daunderer, der Amalgam unter anderem für Impotenz, Stottern, Schuppenflechte, Herzrhythmusstörungen und Krebs verantwortlich machte.
Ein wissenschaftlicher Beweis für die behaupteten schwerwiegenden Amalgam-Nebenwirkungen fehlt bis heute. Zwar wies der Münchner Rechtsmediziner Gustav Drasch nach, daß die Quecksilberbelastung im Organismus von Föten und Kleinkindern von der Zahl der Amalgam-Plomben ihrer Mütter abhängt. Doch blieb er den Beweis schuldig, daß die im Nanobereich angesiedelten Konzentrationen des giftigen Schwermetalls im Gewebe von Kindern deren Entwicklung wirklich stören.
In anderen Ländern haben die Einwohner weniger Schwierigkeiten mit den quecksilberhaltigen Füllungen. In England etwa gibt es nicht einmal Verdachtsfälle. Kein Wunder: Mit der Nahrung nimmt ein Mitteleuropäer, wie neuere Untersuchungen zeigen, eine doppelt so hohe Menge Quecksilber zu sich wie jene, die aus seinen Plomben sickert.
Der Abschied von Amalgam, warnt Christian Nielsen vom Deutschen Arbeitskreis für Zahnheilkunde, könne nun zu einem »massiven Einbruch der Zahngesundheit breiter Bevölkerungsschichten führen«. Kunststoffe als Füllmaterial dichten schlechter ab und halten nicht lange, einige von ihnen könnten, wie Forscher der Medizinischen Hochschule Hannover herausgefunden haben, ihrerseits krebserregend sein.
Am esoterischsten wird das ökologische Schreckensszenario, wenn die Rede auf elektromagnetische Wellen kommt, die aus dem Heizkissen, dem Toaster und der Hi-Fi-Anlage entweichen oder, schlimmer noch, von Fernsehtürmen und Hochspannungsleitungen über das Land wabern und dabei selbst Betonwände durchdringen.
Kaum ein Leiden, das nicht dem Elektrosmog angelastet wird: Die unsichtbare Strahlung soll ihre Opfer mit Nervosität, Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen peinigen, soll grauen Star, Allergie, Bluthochdruck und sogar Leukämie hervorrufen.
800 000 Deutsche, behauptet Gerhard Niemann vom »Selbsthilfeverein für Elektrosensible« in München, litten als Folge von Elektrosmog unter Schlaf- und Gedächtnisstörungen.
Anfangs waren es nur wenige, die sich vom allgegenwärtigen Strom bedroht fühlten. Eine Welle der Panik brandet erst über das Land, seit der Gebrauch von Funktelefonen in Mode gekommen ist.
Damit die Handy-Benutzer überall erreichbar sind, müssen Tausende von Funktürmen errichtet werden - fast überall formiert sich Widerstand dagegen. Bereits mehr als 200 Bürgerinitiativen wurden gegründet, um den Bau der neuen Sendemasten zu verhindern.
Eine vor wenigen Wochen ins Leben gerufene Anti-Handy-Initiative in Berlin will sogar jeglichen Gebrauch von Funktelefonen verbieten. »Die Funkwellen der Handys verändern die Hirnströme«, behauptet BI-Gründer und Umwelttechniker Hans-Kurt von Eicken, 36; eine solche Technik, raunt er, könne mißbraucht werden, um die Bürger fernzulenken.
Der Protest zeigt Wirkung. Verwaltungsgerichte verhängten erste Baustopps, Umweltministerin Angela Merkel will das aufgebrachte Volk durch Einführung von Grenzwerten für elektromagnetische Strahlung beruhigen.
Viel Wirbel um ein Hirngespinst.
»Jeder Einwohner eines Industrielandes ist heute einer hundertfach stärkeren elektromagnetischen Strahlung ausgesetzt als sein Großvater vor 50 Jahren«, sagt der Physiker Günter Nimtz von der Universität Köln, »doch die Krebsraten haben sich seit damals nicht verändert.«
Solche Tatsachen irritieren die Strom-Gegner ebensowenig wie der Umstand, daß das statische Magnetfeld der Erde mit weit höherer Feldstärke auf die Menschen einwirkt als jede Starkstromleitung.
Kein Wunder also, daß die rund 10 000 wissenschaftlichen Arbeiten, die sich in den letzten Jahren der Erforschung der Elektrosmog-Gefahr widmeten, kaum neue Erkenntnisse brachten. »Nicht eine einzige glaubhafte Darstellung«, resümiert der Medizinprofessor Eduard David von der Universität Witten-Herdecke, liege der Strom-Hysterie zugrunde.
Alle bisherigen Daten zeigten keinerlei Zusammenhang zwischen Krebs und Elektrosmog, urteilte vor wenigen Wochen auch die Amerikanische Physikalische Gesellschaft. Der Aufwand für die Elektrosmog-Forschung habe lediglich dazu geführt, daß »weit ernstere Umweltprobleme« zu wenig Beachtung fanden.
Die einzige bekannte Wirkung elektromagnetischer Wellen besteht in der Übertragung von Wärmestrahlung, die wiederum von der Sendeleistung abhängt.
Ein Extrembeispiel ist der Unfall eines Bundeswehrsoldaten, der im Jahre 1964 einem irrtümlich eingeschalteten Radarsender zu nahe kam. Seine Körperzellen wurden gekocht; er erlitt schwere innere Verbrennungen und starb später an einem Herzinfarkt. Die gebündelte Sendeleistung betrug in diesem Fall aber auch 2000 Watt - so als hätte sich der Soldat in einen Mikrowellenherd gesetzt.
Eine niedrigere Dosis hingegen vermag sogar zu heilen: Mit Mikrowellen werden Nervenentzündungen, zum Beispiel an der Zahnwurzel, kuriert. Noch eine Stufe niedriger liegen die Energiemengen, mit denen Überlandleitungen oder Funktelefone die Menschen berieseln - völlig ungeeignet, irgendwelches Gewebe zu schädigen.
Dies alles bestreiten auch die Elektrosmog-Gegner nicht. Sie spekulieren aber, jenseits der bekannten thermischen Wirkung gebe es noch unentdeckte Wirkkräfte, mit denen elektromagnetische Wellen biologische Prozesse stören könnten.
Die Kronzeugen der Wellen-Gegner sind vom Schlage des Lübecker Medizinphysikers Lebrecht von Klitzing (eines Bruders des Physik-Nobelpreisträgers in Stuttgart). In seinem Labor will der regelmäßige Talkshow-Gast entdeckt haben, daß Mobiltelefone die Muster von Hirnwellen verändern können. Ob dieses rätselhafte Phänomen gefährlich sei, wisse er allerdings nicht, sagt von Klitzing. Spielt auch keine Rolle: Von keinem anderen Labor wurde ein solcher Effekt jemals bestätigt.
Neue Nahrung erhielt die Elektrosmog-Angst durch eine großangelegte epidemiologische Studie aus Schweden, in der die Lebenswege von 440 000 Menschen verfolgt wurden, die länger als ein Jahr in der Nähe von Starkstromleitungen gewohnt haben.
Aus den Ergebnissen der Studie ergibt sich, wie Elektrosmog-Gegner immer wieder gern zitieren, für Kinder unter Überlandleitungen ein höheres Risiko, an Leukämie zu erkranken. Was die Alarmisten unterschlagen: Nach derselben Statistik nimmt unter Stromleitungen das Risiko ab, einen Hirntumor zu bekommen - heilt Elektrosmog?
Wie es zu einem solchen Datenschrott kam, läßt sich leicht erklären: Die Zahl der erfaßten Krebsfälle ist so gering, daß die jeweilige Abweichung von der Norm den natürlichen Schwankungen entspricht.
Daß die Krebsraten unter Starkstromleitungen nicht signifikant ansteigen, ist für Fachleute keine Überraschung: Schon wer sich täglich nur zehn Sekunden elektrisch rasiert, nimmt die gleiche zusätzliche elektromagnetische Dosis auf wie jemand, der unter einer Überlandleitung wohnt.
Das grundsätzliche Problem von rein epidemiologischen Betrachtungen besteht darin, daß mit Mitteln der Statistik fast immer irgendwelche Nonsens-Zusammenhänge hergestellt werden können. Der Aussagewert ist meist gleich Null. So wiesen britische Forscher kürzlich nach, daß die Leukämierate in der Nähe von Kirchen erhöht ist.
Daß die Zahl der Störche in Europa im gleichen Maße abgenommen hat wie die Zahl der Geburten, heißt eben nicht, daß Störche die Babys bringen.
Doch sowenig die Epidemiologie wirklich tragfähige Erkenntnisse liefert, so wenig Gesichertes läßt sich auch über die Langzeiteffekte chemischer Substanzen auf den Menschen sagen; darüber, welche Wirkungen sie miteinander, als Multifaktoren, entfalten; und wie besonders empfindliche menschliche Organismen auf den chemischen Angriff reagieren. »Die Wissenschaft«, stellt der Toxikologe Zilker fest, »hat ihre Hausaufgaben hier noch lange nicht erfüllt.«
Die Politik erst recht nicht. Ein Vierteljahrhundert ist es nunmehr her, daß, am 7. November 1969, im seinerzeit FDP-geführten Bonner Innenministerium erstmals das Wort »Umweltschutz« Eingang in Referentenentwürfe und Vermerke fand. Ein Jahr darauf, im Herbst 1970, legte die damalige Bundesregierung unter Willy Brandt (SPD) ein »Sofortprogramm Umweltschutz« vor.
Kein anderes Volk reagierte so früh und empfindsam auf die zunehmende Umweltzerstörung wie die Deutschen: Kaum hatten sie das verwüstete Nachkriegsdeutschland aufgeräumt und ihr weltweit bestauntes Wirtschaftswunder vollbracht, da erschraken sie über die böse Kehrseite ihrer Tüchtigkeit - vergiftete Flüsse, zersiedelte Landschaften, verpestete Luft, lärmerfüllte Städte.
Sehr schnell war Spöttern das Lachen über den Wahlkämpfer Willy Brandt vergangen, der Anfang der sechziger Jahre den Industriewerkern zwischen Dortmund und Duisburg »blauen Himmel über der Ruhr« versprochen hatte. Als ein paar Jahre später die ersten Symptome des Waldsterbens sichtbar wurden, traf es die Nation ins Herz: Der deutsche Wald, die romantische Heimstatt der Volksseele, vom sauren Regen zerfressen und in ein Totengerippe verwandelt - solcher Frevel schlug den Nachfahren Joseph von Eichendorffs schwer aufs Gewissen.
Staunend nahmen die Nachbarn den fast religiösen Eifer wahr, der die deutsche Ökologiebewegung von Beginn an beseelte. »Le waldsterben« ging, wie »le blitzkrieg« und »l''ersatz«, als Fremdwort ins Französische ein. Schrille Töne, Ausdruck apokalyptischer Ängste, mischten sich immer wieder in den Chor der Besorgten, die in den Wäldern kranke Bäume mit weißen Farbkreuzen markierten.
Die selbstquälerische Beschäftigung mit der Apokalypse, verbunden mit inniger Naturverklärung und einem Hang zum Kulturpessimismus - das alles, glaubt der Literaturwissenschaftler Klaus Vondung, stecke den Deutschen seit dem Dreißigjährigen Krieg im Blut, ein Erbe, das wieder deutlich spürbar werde, seit »die zerstörerischen Folgen der modernen Zivilisation für die Umwelt unübersehbar geworden sind«.
Dabei zählen die Deutschen, sonderbar genug, zu den Hauptverursachern der Umweltübel, die sich seit Mitte des Jahrhunderts so ruinös verbreiten. Deutsche Chemiker, Ingenieure und Atomwissenschaftler haben sich mit besonderem Fleiß hervorgetan, als die naturwissenschaftlich-technische Pandorabüchse geöffnet wurde.
Zwei Seelen, scheint es, wohnen in der deutschen Brust: eine, die nach heiler Natur verlangt und sich in durchgrünten Öko-Häusern am wohlsten fühlt, und eine andere, die den technischen Fortschritt liebt und seine garstigen Nebenwirkungen in Kauf nimmt. Entsprechend zwiespältig ist das Verhältnis der Deutschen zur Ökologiebewegung.
Stets fordert bei Umfragen eine Mehrheit entschiedene Maßnahmen gegen den Klimaschock, das Waldsterben oder die sommerliche Ozonbelastung. Doch ein Tempolimit auf den Autobahnen empfinden die Bundesbürger - damit einzigartig in der Welt - als unzumutbare Freiheitsberaubung. Um die 10 000 Kilometer legt jeder von ihnen pro Jahr im Automobil zurück, die Hälfte davon zum Freizeitvergnügen.
Dazu kommen, eine Wachstumsbranche, Fernreisen im schadstoffspuckenden Flugzeug. Wieder daheim, sortieren die Weltenbummler brav ihren Müll - und wehren sich energisch, wenn in ihrem Umfeld eine neue Autostraße oder ein Flugplatz gebaut werden soll.
Rational sind die Widersprüche nicht begründet, die das im Volk rumorende Umweltbewußtsein prägen - ohnehin gleicht es eher einer zyklisch anschwellenden Stimmung, die sich an ständig wechselnden Problemfällen festmacht.
Mal ist es die Ölbohrplattform »Brent Spar«, mal ein Castor-Transport, der die Wogen der Empörung hochschlagen läßt und vorübergehend Zehntausende zu engagierten Umweltschützern macht. Doch kaum ist das Shell-Monstrum außer Sichtweite, der Castor-Container im Zwischenlager verstaut, tritt wieder Ruhe ein - bis zum nächsten Ereignis, an dem sich symbolhaft der Protest entzünden kann.
Die deutsche Öko-Bewegung krankt an einem weithin kleinbürgerlichen Weltbild, in dem sich moralisierende Rechthaberei mit der Sehnsucht nach einfachen Lösungen verbindet. Greenpeace gegen Shell, David gegen Goliath, Gut gegen Böse - diese übersichtliche Schlachtordnung lockt auch unpolitische Gemüter aus der Reserve, denen der Streit um Nutzen und Nachteile einer Öko-Steuer viel zu kompliziert ist. Die Parteinahme gegen die Mächtigen, die Konzerne und ihre Lenker, entlastet das Umweltgewissen der Ratlosen; Greenpeace gibt ihnen das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen.
Den Politikern ist es recht. Längst sind alle Parteien ein bißchen grün. Sie kennen ihre Pappenheimer und haben, nolens, volens, gelernt, die diffusen Umweltängste ihrer Wählerschaft ernst zu nehmen. Sie reagierten mit Ozonschutzverordnungen oder Sondermüllbestimmungen - immer gebremst durch den Hinweis auf mögliche Gefahren für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Im Detail, kein Zweifel, hat das Herumkurieren an den Symptomen geholfen: Die Flüsse sind sauberer als vor 20 Jahren, giftige Holzschutzmittel wurden aus dem Verkehr gezogen, Katalysatoren entgiften die Autoabgase. Nur am Grundübel hat sich nichts geändert - an der ruinösen Weise des Wirtschaftens, die den Planeten und seine Ressourcen ausplündert, das Weltklima aus der Balance bringt und den irdischen Strahlenschutz des Planeten Erde schwächt (das Ozonloch über dem Südpol ist in diesem Jahr doppelt so groß wie im letzten).
Daß, wer auf dem Tiger reitet, nicht herunter kann - diese fatalistische Erkenntnis sitzt tief bei den Deutschen, die ihren Wohlstand zu schätzen wissen. Den haben sie dem Export ihrer Technikprodukte zu verdanken: Alle, demnächst auch die Chinesen, sollen die vortrefflichen deutschen Autos kaufen - aber tunlichst nicht den Treibhauseffekt durch zusätzliche Abgaswolken anheizen. Solche Paradoxien kommen im Umweltdiskurs der Deutschen nur selten zur Sprache. Im Kreis der Industrienationen, etwa auf internationalen Umweltkonferenzen, spielen deutsche Regierungsvertreter gern die Rolle der Drängler, die emphatisch zum Schutz der Regenwälder oder der Weltmeere aufrufen. Das gefällt den Wählern und schmeichelt ihrem Nationalstolz.
An gutem Willen und grünem Bekennermut wollen sich die Deutschen von keinem übertreffen lassen. Von den 30 nationalen Greenpeace-Büros, die 24 Prozent ihrer Einnahmen an die Amsterdamer Zentrale abliefern müssen, ist die deutsche Sektion die reichste; aus ihrer Kasse stammen 50 Prozent des Etats von Greenpeace International. Nirgendwo sonst lassen sich die Leute so leicht mobilisieren, wenn es um Protestaktionen gegen Umweltübel geht. Die Deutschen als ökologische Musterschüler?
Kaum, denn trotz ihres sensiblen Umweltgewissens hängen die Deutschen am Althergebrachten. Lieber würden sie, so das Ergebnis einer Umfrage, im Falle sinkender Einkommen auf neue Kleider oder gutes Essen verzichten als auf die gewohnten Ausflüge im Auto. »Auto - echt gut« hieß denn auch das Motto der diesjährigen Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt. Nicht die ökobewußten Deutschen, die Japaner waren es, die dort mit einem neuentwickelten Sparmotor Aufsehen erregten.
Die wachsende Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Umweltpolitik, zwischen den Erfolg suggerierenden Ankündigungen und den hernach kaum sichtbaren Taten, trägt, wie der Berliner Umweltmediziner Karl Aurand glaubt, zur allgemeinen Umwelt-Besessenheit bei; sie sei, so Aurand, »ein stetig aktiver Infektionsherd für den Bazillus ökologicus«.
Die Experten haben ein gut Teil Mitschuld daran. Wie oft wurden schon Prognosen korrigiert, erwiesen sich politische Versprechen als leer oder waren Firmenauskünfte schlicht gelogen? Als sich im Frühjahr 1993 über dem Frankfurter Stadtteil Schwanheim ein gelber Regen ergoß, behauptete die Hoechst AG zunächst, der Stoff sei ungefährlich. Erst hernach stellte sich heraus, was Chemiker längst wußten: Die Substanz gilt als krebserregend.
Bei soviel Verunsicherung und den diffusen Wünschen nach Umweltverbesserung ist es kein Wunder, wenn unter den Menschen der Wunsch nach klaren, einfachen Lösungen wächst.
Da erscheinen die aufrechten Schlauchbootkämpfer von Greenpeace gleichsam als Retter in der Not. Furchtlos stürzen sie sich vor laufenden Fernsehkameras in die Fluten, werfen sich in ihren roten Kampfanzügen dem Öko-Feind Shell entgegen und igeln sich auf der unwirtlichen Ölplattform ein.
Abend für Abend verfolgten die Fernsehbürger den Kampf der beiden Multis mit wachsendem Interesse: Endlich flimmerte mal ein Polit-Thriller über den Schirm, nicht so unangenehm blutig wie der Krieg um Sarajevo, aber dreimal fetziger als Theo Waigel.
Prompt sausten die Einschaltquoten empor, die TV-Gesellschaften waren''s zufrieden. Und die Bürger durften sich als Sieger fühlen: Bis zu 30 Prozent Umsatzeinbußen wurden beim Shell-Konzern registriert. In einem norwegischen Fjord dümpelt das rostige Wrack der Ölplattform nun still vor sich hin.
Noch nie hatten so viele Bundesbürger derart spontan eine Protestaktion in Öko-Angelegenheiten unterstützt. Der Shell-Boykott, meint Soziologe Beck, habe als »Blitzableiter des kollektiven schlechten Gewissens« gewirkt.
Doch Umweltschützer sorgen sich, daß die Bürger nach dem erfolgreichen Shell-Boykott den Eindruck gewinnen könnten, Öko-Probleme seien im Handstreich zu lösen. »Manchmal sind die Dinge vielschichtiger, und der Weg ist oft schwierig«, sagt der baden-württembergische Umweltminister Harald Schäfer (SPD).
Das hat auch Greenpeace zu spüren bekommen. Noch beschwipst von dem Sieg über den Ölkonzern segelte der Öko-Multi Anfang September gen Mururoa, Tausende von Journalisten im Schlepptau. Doch die Franzosen ließen sich nicht durch ein paar Schlauchboote kleinkriegen, nahmen den Öko-Aktivisten ihre Schiffe ab und gewannen die Seeschlacht. Als Verlierer aber war Greenpeace für die Medien nicht interessant: Das Bündnis aus Öko-Aktivisten und Aktions-Journalisten zerschellte.
Auch diesmal hatten die Empörten zum Druckmittel des Boykotts gegriffen; sie mahnten zum Verzicht auf Cognac, Camembert und Franzosenwein.
Das ging vielerorts schief. Sprit ist Sprit, bei Esso wie Shell; doch Trollinger und Bordeaux sind zweierlei. Zwar solidarisierten sich, etwa in Hamburg, auch Gastwirte mit den Protestlern. »Wirte gegen Chirac« - einer hatte den Boykottaufruf an die Kneipentür geheftet.
Drinnen aber wurde jedem, der nach Rotwein verlangte, die Hausmarke serviert - Cotes du Rhone.
Krebserregende Stoffe stecken von Natur aus in Kohl und Kartoffeln
Seit es Handys gibt, brandet eine Welle der Panik übers Land
Man verzichtet lieber auf gutes Essen als auf das Autofahren
Beschwipst vom Sieg, segelte Greenpeace in die Niederlage
* Am 14. Juli vor dem französischen Konsulat in Hamburg.* Fichten-Aufzucht in Test-Gewächshäusern mit normaler undschadstofffreier Luft.