Anklang an Weimar
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.
So hatten sich die Väter und Mütter des Bonner Grundgesetzes ihr Volk nicht vorgestellt - und auch die Gewalt nicht, die von ihm ausgeht.
Brennende Asylantenunterkünfte und eingeschmissene Fenster, Hakenkreuze und Reichskriegsfahnen, Haßtiraden gegen Zigeuner und andere Fremde, Pogrome von Rostock bis Saarlouis, Menschenjagd und Mord auf offener Straße. Und in Sachsenhausen die erste Gedenkstätte des Nazi-Holocaust in Flammen.
Zwei Jahre nach der Wiedervereinigung und im zehnten Jahr der Regentschaft Helmut Kohls paßt das neue Deutschland wieder ins alte Klischee: großmächtig, großmäulig und ziemlich großkotzig.
Nach einem ersten, heftigen Auftritt vor einem Jahr in Hoyerswerda hat sich der »häßliche Deutsche« wieder in die Welt-Schlagzeilen zurückgemeldet. Die Glatze hoch, die Bierdose fest umschlossen, »Sieg Heil« auf den Lippen und den Molotow-Cocktail unter der Bomberjacke - so stampft er mit zum Hitler-Gruß gereckten Arm durch die Republik und durch die Medien.
Immer mehr Kids schließen sich in Gewaltgangs und Skingruppen zusammen. Ihr gemeinsames Ziel: Randale gegen alles, was fremd ist. In Brandenburg etwa fanden 42 Prozent der im Rahmen einer Studie befragten 14- bis 18jährigen den rechten Schlachtruf richtig: »Deutschland den Deutschen - Ausländer raus.« Ein Drittel meinte: »Ausländer muß man aufklatschen und raushauen.«
»Was bleibt den Jugendlichen denn schon übrig«, schrieb eine Ost-Berliner Schülerin, »die ganzen Jugendklubs werden geschlossen, und wir wissen nicht, was wir machen sollen. Also geht man auf die Straße und haut irgendwelche Menschen zusammen.«
Immer mehr Deutsche äußern Verständnis für »rechtsradikale Tendenzen wegen des Ausländerproblems": Waren es Ende 1991 noch 24 Prozent, so stieg die Zahl nach einer Emnid-Studie ein halbes Jahr später auf 38 Prozent.
Demoskopen ermittelten einen strammen Rechtsruck bei der Bevölkerung: Von März bis August dieses Jahres stieg die geäußerte Bereitschaft, eine Partei rechts von der Union zu wählen, in den alten Bundesländern von 12 auf 19 Prozent, in den neuen Ländern von 8 auf 12 Prozent.
Den nach rechts driftenden Bürgern rennen die Politiker hinterher - und manchmal auch voraus. Statt die vorhandenen Instrumente des Staates einzusetzen, fordern sie neue. Statt die Grundrechte der bedrohten Fremden zu verteidigen, diskutieren die Parteien über den Abbau von Grundrechten.
Die nicht bewältigte deutsche Einigung schürt die Ressentiments - hüben und drüben. Die Ostdeutschen fühlen sich als Bundesbürger zweiter Klasse, die Westdeutschen zittern um ihre Besitzstände. »Marodierende Ängste«, so der Sozialdemokrat Wolfgang Thierse, »suchen sich ihre Opfer unter den Schwächsten, den Ausländern.«
Für so groß halten inzwischen auch die Sozialdemokraten den Problemdruck, daß sie ihm nachgeben wollen. Es sei doch nichts Falsches, verteidigt Parteichef Björn Engholm den Petersberger Wendebeschluß, »wenn man ein bißchen darauf guckt, was das Volk bewegt«.
So sieht es auch der FDP-Außenminister Klaus Kinkel: »Man muß auf die Gefühle im Volk Rücksicht nehmen.«
Die Republik rückt nach rechts.
Je mehr Zulauf die rechtspopulistischen Republikaner haben, desto ängstlicher werden die etablierten Parteien. Sie fürchten um ihr Machtkartell.
Schon als 1989 die Repse in das Berliner Abgeordnetenhaus einzogen, meinte Hans-Dietrich Genscher ahnungsvoll: »Jetzt fehlt nur noch, daß die großen Parteien sich verhalten, als wären sie Republikaner.«
Es ist soweit. Der Wettlauf um den Preis für die beste originalgetreue Kopie hat begonnen. Nüchternes Abwägen ist nicht mehr gefragt. Aktionismus ersetzt die Argumente.
Das Grundrecht des Artikels 16 ("Politisch Verfolgte genießen Asylrecht") wird zum Abbruch freigegeben. Schon steht die Rechtsweg-Garantie des Artikels 19 zur Disposition. Im Kampf gegen Organisierte Kriminalität soll auch die grundgesetzlich garantierte Unverletzlichkeit der Wohnung abgeschafft werden. Lauschangriffe werden als Allheilmittel gegen die Mafia angepriesen.
Reps, radikale Schläger und applaudierende Spießer können sich bestätigt fühlen: rechte Randale macht den Bonnern Beine.
Die Republik rückt nach rechts - aus Angst vor dem Rechtsruck.
Am Karlsruher Verfassungsgericht herrscht die Meinung vor, daß eine Streichung des Asylartikels im Grundgesetz das Problem nicht löst und neue Gesetze zur Bekämpfung der Kriminalität gegen Ausländer nicht erforderlich sind.
Das Urteil konservativer wie liberaler Robenträger beim obersten Gericht der Republik entspricht der Stimmung im Lande: »Die Politiker doktern nur an den Symptomen herum.«
Und die bedienen sich - als fände vor den Asylantenheimen eine demokratische Abstimmung statt - noch nicht einmal der Instrumente aus dem Arsenal des Rechtsstaats:
»Lichtjahre« sei die Schwerstkriminalität vor den Ausländerheimen »von den Kategorien des Demonstrationsrechts entfernt«, urteilt ein Fachmann in Karlsruhe. Ein Richter sieht - und fürchtet - hinter den Anschlägen eine »kriminelle Energie, die beim Gasofen endet«.
Statt einen öffentlichen Diskurs über die Zukunft der neuen Republik zu organisieren, wurstelt die Tagespolitik vor sich hin. Wieviel Toleranz kann sich die Gesellschaft leisten? Welche Rechte räumt sie den Ausländern ein? Wie geht sie mit Minderheiten um? Diese Fragen werden gar nicht erst gestellt.
Statt dessen bedient das wiedervereinigte Deutschland durch Großmannsgesten alle längst überwunden geglaubten Ressentiments.
In letzter Minute pfeift die Bundesregierung den Parlamentarischen Staatssekretär Erich Riedl zurück; er hatte die Schirmherrschaft über eine makabre Jubelfeier der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie in Peenemünde übernommen, die am Tag der Deutschen Einheit den gelungenen Start der ersten deutschen Kriegsrakete - Prototyp der Vergeltungswaffe V 2 - hochleben lassen wollte (siehe Seite 34).
In letzter Minute zieht Kinkel seine Zusage zurück, nach El Alamein zur 50-Jahr-Feier der Schlacht des legendären Wüstenfuchses Erwin Rommel aufzubrechen.
Doch unbeirrt drängt der Außenminister auf eine Verfassungsänderung, die Kampfeinsätze der Bundeswehr weltweit ermöglichen würde - als solle Preußens Gloria nun auch noch auferstehen (siehe Seite 26).
Das Problem seien nicht die alten Ängste vor den Deutschen, schrieb die New York Times, sondern wie Deutschland sie zu neuem Leben erwecke: _____« Wenn Deutschland seine Nachbarn ökonomisch platt » _____« walzt, wenn so viele Deutsche der ausländerfeindlichen » _____« Gewalt ihrer Nazi-Youngster applaudieren, wenn » _____« Deutschland entscheidet, die Antwort auf Flüchtlinge » _____« heißt Einschränkung des Asylrechts, wenn Deutschland die » _____« Deportation von Zigeunern vorbereitet, der ersten Opfer » _____« der alten Nazis, dann müssen die Europäer unbedingt die » _____« Vereinigung mit dem neuen Deutschland überdenken, bis » _____« Klarheit herrscht, ob dieses Deutschland wirklich ein » _____« vollständig neues ist. »
Der französische Transportminister Jean-Louis Bianco spricht von den »Strafen einer besiegten Macht«, die _(* Zur Feier seines Kanzlerjubiläums am ) _(1. Oktober, mit CDU-Vize Angela Merkel. ) nach ihrer Befreiung »alle ihre Dämonen« wiederentdecke - und plädiert für die Einbindung Deutschlands in die europäische Gemeinschaft. Scheitere Maastricht, werde man in Deutschland all jene »politischen Kräfte befreien«, die »an nichts anderes denken als an ihre Autonomie«.
Republikaner-Führer Franz Schönhuber lehnt sich zufrieden zurück und hält hinter dem Asyl- schon das nächste Angstthema parat: »Wir sind die einzige wahre Anti-Maastricht-Partei. Wir werden unseren Kampf gegen die Europa-Verträge verschärfen. Unsere Losung heißt: Maastricht ist Versailles ohne Krieg.«
Die Angst vor der Konkurrenz am rechten Rand paralysiert fast alle Parteien. Bislang halten nur die Grünen, die Bürgerrechtler vom Bündnis 90 und die PDS an ihren Prinzipien fest. SPD und FDP marschieren der CDU hinterher, die CDU folgt der CSU, die ihrerseits die Republikaner einzuholen sucht. Und alle reden, als säßen sie am Stammtisch.
Der Kanzler schwafelt von der »Handlungsfähigkeit des Staates«, als gebe es das Strafgesetzbuch nicht mehr, das Mord und Totschlag unter Strafe stellt. Und er redet von der angeblichen »Zerreißprobe zwischen den Extremen von rechts und links«, als hätten Linksradikale die Feuer gelegt.
Ob man sich vorstellen könne, fragte der PDS-Vorsitzende Gregor Gysi anzüglich, daß die Polizei tagelang zusehen würde, wenn randalierende Jugendliche mit Molotow-Cocktails den Landtag von Schwerin »oder gar die Deutsche Bank angreifen würden?«
Nie habe es die Exekutive an Eifer fehlen lassen, spottet Hans Magnus Enzensberger, als es darum ging, die Gesellschaft vor den Taten der linksterroristischen RAF zu schützen: _____« Bundesgrenzschutz, Geheimdienste, Sicherungsgruppen, » _____« mobile Einsatzkommandos, Landes- und Bundeskriminalämter » _____« waren stets zur Stelle - mit Hard- und Software, von der » _____« Rasterfahndung bis zur Hubschrauberstaffel, von Phantom » _____« bis zum Schützenpanzer. Und auch die Legislative hat » _____« nicht geschlafen. Sie hat bis zur Bedenkenlosigkeit » _____« beherzt juristisches Neuland betreten, vom Konstrukt der » _____« kriminellen Vereinigung bis zum Kontaktsperregesetz. Von » _____« keinem dieser Mittel ist in den vergangenen Monaten auch » _____« nur der geringste Gebrauch gemacht worden. » _____« Bundesanwaltschaft und BKA, einst vor Eifer, Schaden vom » _____« deutschen Volk zu wenden, durch die Medien hechelnd, » _____« halten still, als hätte man sie in den einstweiligen » _____« Ruhestand versetzt. Der Bundesgrenzschutz, der noch vor » _____« wenigen Jahren jede zweite Straßenkreuzung besetzt hielt, » _____« ist wie vom Erdboden verschluckt. »
Als »Pappkamerad« habe sich der Staat bei der Bekämpfung der Straftaten gegen die Ausländer erwiesen, kritisiert Berlins Bundessenator Peter Radunski (CDU): »Daß Rostock so lange und so oft passieren konnte, ist mir ein Rätsel.«
»Bis zum Beweis des Gegenteils« glaubt der Bündnis-90-Abgeordnete Wolfgang Ullmann, daß man die Asylbewerber bewußt zwischen den Plattenbauten von Lichtenhagen kampieren ließ, um so den Volkszorn zum Kochen zu bringen: »Es ist natürlich nicht beweisbar, aber in Rostock ist so verfahren worden.«
»Die Versäumnisse«, urteilte der Liberale Burkhard Hirsch nach einem Besuch in der Ostseestadt, »grenzen an Böswilligkeit.«
Wie sehr sich die bundesdeutsche Gesellschaft - einschließlich ihrer Medien und Politiker - bereits mit dem »Alltagsfaschismus« (Die Zeit) arrangiert hat, wurde nach dem Anschlag auf die »jüdische Baracke« im ehemaligen KZ von Sachsenhausen offenbar.
Die Empörung, die er auslöste, steht in krassem Kontrast zur routinierten Gelassenheit, mit der inzwischen der alltägliche Mordversuch an Zigeunern, die Jagd auf Ausländer, die Hetze gegen Fremde abgehandelt werden. In den Nachrichten hat die Organisierte Kriminalität gegen Ausländer und Fremde einen festen Platz - wie der tägliche Wetterbericht.
Selbst ernstgemeinte Anteilnahme droht zum politischen Ritual zu verkümmern, weil sie erkennbar folgenlos bleibt.
Helmut Kohl schickt seinen Außenminister Kinkel mit einem Kranz ins ehemalige KZ Sachsenhausen. Aber die CDU-Feier zur zehnjährigen Kanzlerschaft findet, bei aller Betroffenheit, nach festlichem Plan statt: Glückwunsch, Kanzler!
Innenminister Rudolf Seiters läßt den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, seinen Abscheu über den antisemitischen Anschlag wissen. Derselbe Innenminister hat erst vor wenigen Tagen mit der gleichen Überzeugungskraft seine Leistung gewürdigt, in Bukarest die Abschiebung rumänischer Asylbewerber - überwiegend Zigeuner - vereinbart zu haben, als hätten Juden- und Zigeunerhaß nichts miteinander zu tun.
Auch die linken Betroffenheitstouristen, die nach den Rostocker Anschlägen in Bussen anreisten, »Schämt euch! Schämt euch!« riefen und in ihre westdeutschen Eigenheime zurückfuhren, haben in Lichtenhagen nur Vorurteile bestärkt. Typisch besserwessihaft kamen sie den Anwohnern vor. Auf die Frage, was sie denn machen würden, wenn die Stadtverwaltung ihnen immer neue Asylanten in die Vorgärten kippte, wußten sie auch keine Antwort.
Was sich wirklich in den Containern und Baracken abspielt, wer die Fremden sind, welche Gründe sie hatten, nach Deutschland zu kommen, wird nicht gefragt.
Die Denk- und Wahrnehmungsblockaden setzen sich fort - bis nach Bonn. Fast jeder Abgeordnete des Bundestages spürt, wie wenig die Realitäten in seinem Wahlkreis mit den Realitäten in Bonn übereinstimmen. Trotzdem machen die meisten die Betriebsamkeit mit.
»Wie von einem fremden Stern« fühlt sich der Abgeordnete Konrad Weiß, wenn er nach einer Sitzungswoche nach Berlin zurückkehrt. Der Bürgerrechtler Jens Reich kommt sich - bei gelegentlichen Besuchen - in Bonn vor »wie auf der ,Titanic'': Da wird mit Volldampf durch den Nebel gefahren«.
Er habe in diesen Tagen, sagt ein Verfassungsrichter, »die Eisenbahnkilometer, die zwischen Bonn und Karlsruhe liegen, schätzengelernt«. Das Prinzip, die Spitzen der »dritten Gewalt« nicht am Regierungssitz anzusiedeln, sei - wie sich nun zeige - durchaus sinnvoll. Die räumliche Distanz helfe dem Betrachter der politischen Szene, sich »den Blick für das Wesentliche zu bewahren«.
Die systematische Realitätsverweigerung war schon vor der deutschen Vereinigung ein konstitutiver Bestandteil der Bonner Politik. Seit dem Systembruch von 1989 aber wird sie bedrohlich - auch für die Politiker.
Denn die Unwirklichkeit, die sie bei sich selbst bloß spüren, gegen die sie aber nicht angehen, wird auch von ihren Wählern wahrgenommen. Je problemferner die Entscheidungen, desto tiefer wird die Kluft zu den Regierten. Das Legitimationsvakuum beraubt die Politik nicht nur ihrer Glaubwürdigkeit, sondern macht sie auch anfällig für Stimmungen und Ängste.
Erschrocken stellen die Politiker, bei der Debatte ums Asyl wie beim Streit um die Kosten der Einheit, fest, daß sie selbst und ihre Rituale ein Teil des Problems geworden sind, dem die Wut im Lande gilt.
Nun rächen sich die vielen Lügen, mit denen die Einheit schöngeredet, der Wähler getäuscht, die Macht erhalten wurde: blühende Landschaften, keine Steuererhöhungen, Marktwirtschaft - am zweiten Jahrestag der Deutschen Einheit sind diese Versprechungen im Volke nichts mehr wert. Die Verachtung für die Politiker, die diese Sprüche klopften, hat bedrohliche Ausmaße angenommen.
Immer noch hängen Regierung wie Opposition der Illusion an, die deutsche Einheit sei wie eine neue Autobahn oder eine neue Fabrik zu erbauen - ein paar Milliarden von den Konten, dann hat sich die Investition gelohnt. Kein verantwortlicher Politiker spricht von der nötigen Zäsur, vor der doch die Bürger sich ängstigen. Gewerkschaften und Unionschristen, Sozial- und Freidemokraten führen sich auf, als könnten sie einzeln oder gemeinsam das Unmögliche wuppen - den Lebensstandard im Osten erhöhen und im Westen wenigstens halten.
Die Bürger scheinen zu spüren, daß der Zaubertrick nicht klappt. Sie halten die Versprechen für hohl und sorgen sich ums Nächstliegende, um Einkommen, Arbeitsplätze, Wohnung - und sei es mit Gewalt.
Den Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Eckart Werthebach, erinnert die Situation »etwas an Weimar«. Auch Hamburgs Bürgermeister Henning Voscherau spricht vom »Beginn einer Weimarisierung«.
Aber Bonn ist nicht Weimar, Bonn ist Bonn. Denn in Bonn, wie in den Provinzstädten, sitzen die Republikaner schon als unsichtbare Partner am Kabinettstisch. Als Schreckgespenst spukt Schönhuber durch die Parteizentralen. »Wir Republikaner«, verkündet er triumphierend, »haben durch unsere Existenz Deutschland verändert« - leider wahr.
Doch bei allen Erfolgen, die sie in jüngster Zeit vermeldeten, die Rechten sind nicht das Bedrohliche. Zur Gefahr wird die Lunte am Parteienstaat, am gewachsenen Gefüge der (west)deutschen Demokratie.
Es mag ja stimmen, was Schönhuber behauptet, seine Partei habe einen »gigantischen Zulauf«. Er mag gar die großspurigen »Etappenziele« erreichen: zweitstärkste Partei in Bayern, zweistelliger Einzug in Bundestag und Europaparlament. In Baden-Württemberg und vor kurzem in Passau hat sich seine Truppe immerhin schon als dritte Kraft etabliert und die Freidemokraten von dem angestammten Platz verwiesen, den sie mancherorts schon an die Grünen verloren hatten.
Im Ausland weckt das Wiedererstarken einer Rechtsaußenpartei die schlimmsten Erinnerungen. Aber nach allen Erkenntnissen von Meinungsforschern und Verfassungsschützern sind aus der Hinwendung von immer mehr Bürgern zu den Republikanern nicht automatisch rechtsextremistische oder faschistische Tendenzen abzulesen.
Nach den Untersuchungen der Forschungsgruppe Wahlen bleibt der harte Kern von unverbesserlichen Alt- oder Neonazis mehr oder weniger unverändert bei zwei bis drei Prozent. Nur in diesen Kreisen wird das traditionell rechtsextremistische Gedankengut gepflegt: Führerkult und Verachtung der parlamentarischen Demokratie, Antisemitismus und Militarismus (siehe Kasten Seite 22).
Den Reps ist es vielmehr gelungen, allein durch deutschnationale Parolen, Appelle an kleinbürgerliche Ressentiments und vor allem durch Schüren von Fremdenangst Stimmungen aufzufangen und Stimmen zu gewinnen. Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit werden mit nationalistischen Tönen angeprangert: Ausländer nehmen den Deutschen die Arbeit und die Wohnung weg.
Massenhaft sympathisieren Schüler mittlerweile mit rechten Ideen und sogar mit den rechtsextremistischen Gewalttätern von Rostock und anderswo. Gingen die Jugendlichen vor fast zwei Jahren noch auf die Straße, um gegen den Golfkrieg zu demonstrieren, sind sie heute auf dem besten Weg, einen neuen rechten Jugendkult zu formen.
Bis zu einem Drittel der Schüler, erlebte der hannoversche Jugendschützer Peter Eisler bei Dutzenden von Klassenbesuchen, unterstützt die Krawalle gegen Ausländerheime, ein weiteres Drittel billigt die Aktionen zumindest. Ob in Hauptschulen oder Gymnasien, »geballter Ausländerhaß schlägt uns entgegen, wohin wir nur kommen«, sagt der Jugendexperte.
Radikale Rock-Bands mit eindeutigen Namen wie »Störkraft« oder »Volkszorn« heizen den Rechts-Trend kräftig an. Die Kult-Band »Böhse Onkelz« (Refrain: »Endlich wieder fiese Lieder"), inzwischen auf Anraten ihrer Plattenfirma mit entschärften Texten auf der Bühne, schaffte mit ihrer neuesten CD als erste Rechts-Kapelle den Sprung in die Hitlisten (Platz 5).
Schönhubers Rechte halten mit Bedacht Distanz zu den Gewalttätern. Demonstrativ werden die Glatzköpfe bisweilen aus dem Versammlungssaal entfernt.
Der Rechten-Führer verheißt seinen Anhängern einen »sozialen Patriotismus«, sprich: einen linken Nationalsozialismus nach dem Vorbild des frühen Hitler-Freundes Gregor Strasser.
Schönhubers radikaler Populismus kommt einem Bedürfnis entgegen, das in allen westlichen Wohlstandsstaaten die Bürger umtreibt: Viele suchen eine gefühlige Partei ohne ideologisch-historischen Überbau, die ihre Forderungen aufgreift, für schwierige oder gar unlösbare Probleme Patentrezepte bereithält und sich auf den gesunden Menschenverstand beruft. Eine solche Partei der Verdrossenen, denen der demokratische Streit zuwider ist, wendet sich auch an alle, die den Großen mal einen Denkzettel verpassen wollen.
So verstehen sich die Republikaner als Partei des kleinen Mannes, der sich am Aufstieg gehindert oder vom Abstieg bedroht sieht. Ausländer, die an den Segnungen des Wohlfahrtsstaates teilhaben, den sie selbst nicht aufgebaut haben, sind zum Kristallisationspunkt ihrer Ängste geworden - auch eine Herausforderung an die Sozialdemokraten. Es ist auch ihre Klientel, die sich abwendet.
In dieser Situation ist es für die bedrängten Altparteien nur zu verführerisch, die einfachen Lösungen der erfolgreichen Konkurrenz abzukupfern. »Rechts von der Mitte« werden die Wahlen gewonnen, hat der CSU-Vorsitzende Theo Waigel als Parole ausgegeben, und der Kanzler stimmte ihm zu.
Die CSU hatte es am leichtesten, weil sie mit ihren Rezepten gegen sogenannte Scheinasylanten und Kriminelle dem Denken der Rechten am nächsten steht. Die CDU hielt sich lange zurück - mit Rücksicht auf den Koalitionspartner.
Die Freidemokraten schwankten lange, ehe sie sich als Rechtsstaatspartei verabschiedeten. In der FDP-Fraktion machten noch eine Handvoll Abgeordnete Front gegen die Vorschläge zur Verfassungsrevision, die der Vorsitzende Hermann Otto Solms zugleich auch als möglichen Abschied vom Individualrecht auf Asyl interpretierte.
Noch in der Koalitionsabsprache hatten Christ- und Freidemokraten vereinbart: »Das Abhören von Gesprächen in einer Wohnung ist unzulässig.« Solche Methoden könnten »nur Mißbrauch Tür und Tor öffnen«. In einer Bundestagsdebatte Anfang des Jahres pries der damalige Justizminister Klaus Kinkel die Unverletzlichkeit der Wohnung als »eines der höchsten Güter unserer Verfassung«.
Inzwischen setzt die Bonner Fraktion dem Drängen der Union kaum noch Widerstand entgegen. Mit höchster Ungeduld reagieren die Kollegen auf die bohrenden Fragen des renitenten Burkhard Hirsch, ob denn überhaupt mit solchen Mitteln gegen eine perfekt organisierte Mafia Erfolge zu erzielen seien: Die werde technische oder praktische Gegenmittel nutzen oder im Freien ihre Verabredungen treffen.
»Ist die Organisierte Kriminalität die Gefahr für den Rechtsstaat - oder deren Bekämpfung?« fragte Jörg van Essen, von Beruf Staatsanwalt. Seine Antwort: Der liberale Rechtsstaat werde »ad absurdum geführt, wenn er nicht mehr wehrhaft ist«.
»Keine Grundsatzdiskussionen mehr, davon haben wir genug«, so beschreibt Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger die Stimmung in ihrer Fraktion, »jetzt muß was passieren, egal was.«
Die Stimmungsmache hat auch die Sozialdemokraten mürbe werden lassen. Bis zum Sonderparteitag regt sich zwischen Bremen und München noch Widerstand der Parteilinken gegen den populistischen Kurs der Führung, die freilich damit mehrheitsfähig werden will.
Wieder, wie bei den Notstandsgesetzen Ende der sechziger und der Nachrüstung Anfang der achtziger Jahre, steht die Front der Gesinnungs- gegen die Verantwortungsethiker, die sich wechselseitig als Rigoristen oder Populisten beschimpfen.
Auch das Reizthema Lauschangriff hat die SPD-Fraktion in eine Zerreißprobe gebracht. Im Bundestag beteuerten die Sozis zunächst gemeinsam mit den Freidemokraten ihre rechtsstaatliche Prinzipientreue. Aber nach einem Hearing mit Praktikern ließen sie sich rasch umstimmen. Sie warten jetzt nur noch darauf, daß die FDP vorangeht. Die aber möchte sich am liebsten der SPD-Entscheidung, auch zur Asyleinschränkung, anschließen, weil sie dann eine Grundgesetzänderung eh nicht mehr verhindern könnte - ein feiges Versteckspiel.
Der Ton unter den Genossen wird schärfer. Die Nerven sind wund gescheuert durch die Diskussion um das Asyl, einen »wesentlichen sozialdemokratischen Grundsatz der Solidarität mit den Verfolgten« (Juso-Papier).
Als im bayerischen SPD-Vorstand eine Genossin Engholms Petersberger Asylschwenk mit dem Ermächtigungsgesetz der Nazis verglich, erinnerte Landesvize Ludwig Stiegler sogleich an die große Widerstandsrede des damaligen Parteivorsitzenden Otto Wels im Reichstag. »Wels stand gegen Hitler«, kommentiert Glotz ironisch den Vergleich, »Stiegler steht gegen Engholm.«
Der Kieler keilt zurück gegen die Rigoristen. Den Bremer Sozialdemokraten etwa, die den Asylartikel gern beibehalten würden, warf Engholm im Parteivorstand Heuchelei vor: Woche für Woche mache die Hansestadt schon am Mittwochnachmittag ihre Asylaufnahme wegen Überfüllung dicht und überlasse es den Nachbarn Niedersachsen, Hamburg und Schleswig-Holstein, die Menschen unterzubringen.
Irrationale Züge hatte die Asyldiskussion auch schon zu Zeiten der sozial-liberalen Koalition, als gerade 40 000 und nicht, wie voraussichtlich in diesem Jahr, bis zu 500 000 Flüchtlinge in Deutschland Einlaß begehrten.
Achtmal wurde in den letzten zehn Jahren das Asylverfahrensgesetz geändert mit dem Ziel, die Anträge schneller bearbeiten zu können und abgelehnte Bewerber umgehend außer Landes zu befördern. Das lief nach immer gleichem Muster ab: Die Asylrechtshüter sahen in jeder Novelle die Grenze des juristisch noch eben Vertretbaren; stereotyp hielt die Union dagegen, allein die Revision des Grundgesetzes könne den »Asylmißbrauch« wirksam eindämmen.
Immer gleich war auch das Ergebnis der Bonner Bemühungen. Weil die Personalvermehrung in Flüchtlingsbürokratie und Verwaltungsgerichtsbarkeit mit der steigenden Zahl von Asylsuchenden nie Schritt hielt, dauern die Asylverfahren immer länger, wurde der Bürokratenwust dichter.
Nun, da die deutschen Gemeinden tatsächlich kaum noch wissen, wohin mit den Flüchtlingen, stilisieren die Unionschristen die Genfer Flüchtlingskonvention zum Allheilmittel: Als sogenannte Institutsgarantie soll sie im Grundgesetz das Individualrecht ablösen und kurzen Prozeß schon an der Grenze ermöglichen.
FDP-Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger hielt es für angebracht, »zur Versachlichung« der Diskussion beizutragen. Letzte Woche veröffentlichte sie ein von ihrem Hause in Auftrag gegebenes Gutachten des Heidelberger Max-Planck-Instituts über die »Mindeststandards«, die aus der Flüchtlings- und der Europäischen Menschenrechtskonvention folgen.
Kernpunkte: Auch die Genfer Konvention verpflichtet dazu, einen jeden Asylantrag zu behandeln; laut Menschenrechtskonvention ist auch die Überprüfung ablehnender Verwaltungsentscheidungen durch eine »nationale Instanz« internationale Praxis.
Die Schlußfolgerung der wackeren Freidemokratin, die Bundesrepublik könne getrost am individuellen Grundrecht auf Asyl festhalten und gleichwohl dessen ungerechtfertigte Inanspruchnahme weiter einschränken, nannte Bayerns Innenminister Edmund Stoiber »unmöglich und fahrlässig«. Denn das Individualrecht ziehe nun einmal, so der CSU-Vize, »massiven Rechtsschutz« nach sich.
Über soviel Demagogie können sich Deutschlands höchste Richter nur noch wundern. »Das Bundesverfassungsgericht«, so dessen Präsident Roman Herzog in schlichter Klarheit, »hat seit 40 Jahren immer wieder zum Ausdruck gebracht, daß der Artikel 19 Absatz 4 dem Bürger, auch dem Ausländer natürlich, eine Rechts- und Tatsacheninstanz garantiert«, nicht weniger, aber auch nicht mehr: »Von Rechtsmitteln oder gar von einem drei- und vierzügigen Instanzenzug ist dort nicht die Rede.«
Unbegreiflich findet es Herzog, warum das Grundrecht abgeschafft werden soll. Entgegen der sonst üblichen richterlichen Zurückhaltung gab er den deutschen Asylstrategen einen deutlichen Hinweis - mit einem Wortungetüm: »Das heißt, man könnte noch sehr viel mehr zur Abschlankung des Rechtsweges tun, als das bisher der Fall ist.«
Wie der konservative Herzog halten auch die meisten seiner liberalen Kollegen eine Kanalisierung des Ausländerzustroms für durchaus möglich. Mit »Sammellagern, genügend Entscheidern des Bundesamtes und, für den Einspruch, Einzelrichtern am Ort«, so ein Richter, dürfe es eigentlich nicht schwierig sein, beispielsweise Bewerber aus Nichtverfolgerländern »innerhalb kürzester Frist abzuweisen« - unter Beachtung des Individualrechts und der Rechtsweggarantie.
Auch das Zuwarten von Politik, Polizei und Justiz beim Kampf gegen bewaffnete Rechtsradikale löst in der Residenz des Rechts Verständnislosigkeit aus, ebenso der Ruf nach schärferen Gesetzen.
»Wer Molotowcocktails in geschlossene Räume« werfe, sagt ein Verfassungsrichter, wolle töten oder nehme zumindest »den Tod der Bewohner billigend in Kauf«. Da seien die »Straftatbestände des versuchten oder vollendeten Totschlags erfüllt - im Zweifel ist es sogar Mord«.
Eine paradoxe Diskussion: Gerade die schärfsten Gegner einer Reform des Grundgesetzes, die nach dem tiefen Einschnitt der Wiedervereinigung einen neuen Konsens für die Bundesrepublik schaffen soll, stellen mit verbissenem Eifer Teile der Verfassung in Frage, die auf Erfahrungen aus der faschistischen Vergangenheit beruhen: Schutz vor politischer Verfolgung, die Garantie einer unverletzlichen Privatsphäre, Verzicht auf militärische und politische Großmachtambitionen.
Liberale Sozialdemokraten wie der NRW-Innenminister Herbert Schnoor wollen nunmehr die Grundrechte abbauen - »aus Angst vor dem Faschismus«. Der sonst so zivile SPD-Vorsitzende Engholm fürchtet gar, wenn die Bundesregierung sich nicht zu Uno-Militäreinsätzen bereit finde, werde das »dem deutschen Ansehen bis hin zu deutschen Exporten in der Welt schaden«. Und gerade die Rechten und ihre gewalttätigen Hilfstruppen können triumphieren, daß die geschmähten Etablierten Stück für Stück aus ihrem Weltbild übernehmen.
Der Ruck nach rechts hat Folgen: Die Koalitionsfähigkeit der bisherigen Partner verändert sich.
Bislang hatten die Sozialdemokraten sich fürs Regieren zwei Optionen offengehalten: das Ampelbündnis mit Freidemokraten und Grünen als innerparteilich am ehesten durchsetzbare Variante und, als Notlösung, die Große Koalition.
Jetzt, hat die Frankfurter Allgemeine schon erleichtert erkannt, »verschwände die Option rot/grün vom Horizont der Möglichkeiten«.
Arbeit für Parteistrategen: Die SPD verliert ihre linken Wählerschichten an die Grünen. Von der Union spaltet sich ein rechter Flügel ab, womöglich samt CSU. Der könnte gemeinsam mit Republikanern oder sonstigen Gruppen vom rechten Rand eine eigene nationalistische Partei aufmachen. In der Mitte blieben zwei Zentrumsparteien übrig, zum Verwechseln ähnlich, die beide vielleicht weit unter 30 Prozent absacken.
Bei den Unionschristen wächst in diesem Dilemma eine große Versuchung: die schwarzbraune Haselnuß-Koalition mit den bislang verfemten Repsen. Die Nagelprobe könnte 1994 in Bayern kommen, wenn die CSU dort ihre absolute Mehrheit verliert. Kein Sandkastenspiel: Schon jetzt drängen starke Kräfte in diese Richtung - es wäre Schönhubers vorletzte Etappe.
Welch gefährlichen Kurs sie eingeschlagen haben, mögen Bonns Politiker nicht wahrhaben. Der Kanzler etwa, der sich seine »Freude über die deutsche Einheit« von niemandem nehmen läßt, versprach bei seiner Eigenlob-Feier zum zehnjährigen Dienst-Tag, niemand müsse Opfer bringen, niemand um die deutsche Zukunft fürchten: »Wir haben die Probleme, die ich gewollt habe.«
Weiter so, Deutschland.
* Zur Feier seines Kanzlerjubiläums am 1. Oktober, mit CDU-VizeAngela Merkel.